Normalität und Krise

In: Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie, Bd. 5, Berlin 1911/12, [S. 144 - 161].

Abstract: Nach Oppenheimer sind die zyklisch auftretenden Krisen ein Spezifikum der kapitalistischen Ökonomie. In ihr neigen die Unternehmer nicht dazu, bei sinkenden Preisen (Überangebot) ihre Produktion einzuschränken, sondern sie versuchen ihre Produktion auch in der Krise auszudehnen und ihren Gesamtgewinn mit einem geringeren Pro-Stück-Gewinn bei höherer Stückzahl zu halten. Die Folge ist ein erhöhter Mengendruck bei gleichzeitig sinkenden Preisen. Der Wert der Waren sinkt unter die Selbstkosten und der Kreislauf gewährter Kredite (= erwarteter Zahlungen) kommt ins Wanken.

[S. 144] Die neuere Nationalökonomie zeigt das löbliche Streben, ihre grundlegenden Begriffe mit den Methoden der wissenschaftlichen Logik zu untersuchen, exakt zu bestimmen und sozusagen philosophisch zu verankern; augenscheinlich wirkt die gute Schule Wilhelm Wundts immer mehr in die Tiefe und Breite. Leider bleibt die Ausführung nicht selten mehr oder weniger empfindlich hinter der guten Absicht zurück. Ein Beispiel solcher Unzulänglichkeit liegt in dem einleitenden Kapitel vor [S. 145] einer im übrigen recht empfehlenswerten Schrift, die sich mit der Crux der Ökonomik, dem Krisenproblem beschäftigt.[1]

Hier handelt es sich um einen der wichtigsten, vielleicht den wichtigsten überhaupt der ökonomischen Grundbegriffe, den der »Normalität«. Die Krise ist von jeher als eine »Störung« des normalen Ablaufs des volkswirtschaftlichen Prozesses aufgefaßt worden; man hat sie oft genug als »Krankheit« bezeichnet, die man von der Gesundheit scharf zu unterscheiden habe. Und in der Tat: was kann einer Krankheit ähnlicher sein, als dieser Ablauf von fieberhafter Überspannung aller Güterproduktion und aller Spekulation, der sich bis zum »Paroxysmus« (auch ein medizinisches Bild) steigert, der dann zum plötzlichen, von schweren Störungen aller volkswirtschaftlichen Funktionen begleiteten »Kollaps« führt, um schließlich nach langer »Lethargie« zu neuer »Blüte« zu führen, die dann fatalerweise wieder zur Überspannung ausartet?

Die älteren Schriftsteller über diesen Gegenstand haben sich aber - mit sehr geringen Ausnahmen, von denen sofort zu sprechen sein wird - mit der allgemeinen Anschauung begnügt, daß hier eine »Krankheit«, eine »pathologische Abweichung von der Norm« vorliege. Aber sie haben diese »Norm«, wenn überhaupt, rein negativ bestimmt. Was nicht Krise war, war ihnen normal. Der Zustand der allgemeinen, nicht fiebrig überspannten »Blüte«, das schwebte ihnen mehr oder weniger unbestimmt als das Bild der »Gesundheit« vor.

Damit war nun allerdings nicht weiterzukommen. Die Ökonomisten befanden sich gegenüber den Ärzten hier in einer viel schlechteren Erkenntnislage. Den Ärzten gibt die Wissenschaft nicht nur die allgemeine Kenntnis, daß jeder vorwiegend lustvolle, von gröberen Unlustgefühlen freie Zustand Gesundheit ist, sondern sie haben in der Physiologie und Anatomie die Wissenschaften, die ihnen diese allgemeinen Begriffe mit unzähligen besonderen Daten erfüllen: der gesunde Mensch hat die und die Körpertemperatur, die und die Pulszahl, die und die Hautfarbe; seine Ausscheidungen haben die und die chemische und physikalische Zusammensetzung; sein Blut den und den Gehalt usw. usw. Mit diesen Daten in der Hand kann die Medizin pathologische Abweichungen schon am Lebenden im einzelnen feststellen und so zur Diagnose kommen. Seit sie in so vielen [S. 146] zweifelhaften Fällen die Obduktion vornimmt und gewisse beim Lebenden beobachtete Symptome auf pathologische Veränderungen der Gewebe zurückzuführen gelernt hat, indem sie die normale Anatomie zur Vergleichsbasis wählt, ist sie noch viel weiter gekommen.

All das fehlt den Ökonomisten, wenn ihnen die Aufgabe gestellt ist, die Pathologie der Volkswirtschaft zu analysieren. Ihnen ist nicht mehr gegeben als jener allgemeine Begriff der Normalität, der kaum mehr als negative Kennzeichen hat. Sie können nicht mehr von ihr aussagen, als etwa das Folgende: »Die Normalität der Wirtschaftsgesellschaft ist gegeben, wenn die Bedürfnisse ihrer Mitglieder durch die Gesellschaftswirtschaft ausreichend gedeckt werden, und wenn keine gröberen Störungen des Ablaufs sich bemerkbar machen«. Dabei stellt sich aber sofort heraus, daß der Begriff ziemlich leer ist; daß er allenfalls hinreicht, um dort, wo sehr grobe Störungen auftreten, das Vorhandensein einer »Krankheit« wahrscheinlich - nicht einmal sicher - zu machen, daß er aber entfernt nicht hinreicht, um eine wissenschaftliche Diagnose zu stellen, die bekanntlich erst dann vorliegt, wenn alle Symptome des Komplexes mit Sicherheit auf ihre Ursachen zurückgeführt sind.[2] Denn was heißt hier »ausreichend«? Was heißt »gröbere Störungen«?

Man stelle sich vor, daß ein Arzt auf einer völlig isolierten Insel lebe, die absolut übervölkert sei und nebenbei schwer von Malaria heimgesucht werde, die keinen Bewohner verschone, den Arzt einbegriffen. Er wird vielleicht die allgemeine Vorstellung haben, daß die Kümmerlichkeit des allgemeinen »Hungertypus« unter der »Norm« liege, und wird sicherlich die Malaria als »Krankheit« auffassen. Aber weiter wird er nicht kommen können; denn ihm fehlt die Möglichkeit, mit »normalen« Typen messend zu vergleichen. Und darum kann er niemals exakt sagen, was im einzelnen physiologisch, was pathologisch, was normal, was abnorm ist. Er wird vielleicht die Vorstellung haben, daß eine Durchschnittsgröße von 150 cm bei erwachsenen Männern, und wahrscheinlich, daß eine Milz von Magengröße »normal« sind.

In dieser Lage befindet sich exakt der Ökonomist. Oder, um uns ganz vorsichtig auszudrücken: er kann die Möglichkeit  [S. 147] nicht ausschließen, daß er sich in solcher Lage befindet. Dann eine starke Schule der Wissenschaft, vertreten von nicht den schlechtesten Köpfen, steht grundsätzlich auf dem Standpunkte, daß die moderne »kapitalistische« Gesellschaftswirtschaft an sich als Totalität bereits eine »Krankheit« der Wirtschaftsgesellschaft ist. Wenn das wahr ist - und unser Ökonomist kann das mit keinem ausreichenden Argument a priori ablehnen, - so fehlt ihm jeder durch Beobachtung zu gewinnende Vergleichsmaßstab, einer »Norm«, einer »Physiologie«, - denn es gibt nur kapitalistische Gesellschaften zu beobachten - und er kann wohl mit einiger Gewißheit von den gröbsten Symptomen aussagen daß sie krankhaft seien, aber niemals mit Gewißheit von weniger groben, ob sie normal oder abnorm sind.

Das ist gewiß eine Kalamität, und es ist schon als ein bedeutendes Verdienst zu bezeichnen, daß neuere Forscher sich wenigstens auf das hier liegende grundlegende Problem besinnen. Selbst wenn diese Besinnung ergeben sollte, daß wir niemals dahin gelangen können, die Normalität festzustellen, so wäre damit wenigstens das gewonnen, den Acker der Wissenschaft von Unkraut zu befreien. Besser ein entschlossenes »Ignorabimus« als das Geschwätz ohne festen Untergrund, das unsere Probleme verschüttet!

Fischer setzt sich mit zwei Autoren auseinander, die in neuerer Zeit das sozusagen erkenntnistheoretische Problem der Normalität angeschnitten haben. Der erste ist W. Sombart in einer 1904 im Archiv für Sozialwissenschaft erschienenen Abhandlung: »Versuch einer Systematik der Wirtschaftskrisen«, der zweite Pinkus: »Das Problem des Normalen in der Nationalökonomie«.

Sombart hat das Problem nur gestellt, aber jede Lösung für unmöglich erklärt. Nach ihm führt der normale Verlauf der kapitalistischen Wirtschaft notwendig zu den als Krisen bezeichneten Störungen: "Es ist eben das Normale, daß auf den Rausch der Katzenjammer folgt". Worauf wir nur mit der Frage antworten können, ob die Alkohol-Vergiftung selbst das Normale ist? Bei der Malaria ist die Milz-Vergrößerung Symptom des »normalen« Ablaufs: ist darum die Malaria selbst »normal«, d. h. im »normalen Verlauf des Lebensprozesses notwendig begründet«? Man sieht, hier verwirren sich zwei verschiedene Begriffe des Wortes »Norm«. Das eine Mal meint er den regelmäßigen, gewöhnten Ablauf, verglichen mit Erscheinungen der gleichen Art, das andere Mal den [S. 148] »richtigen«, »korrekten«, »idealen« Verlauf, verglichen mit Erscheinungen anderer Art.

Sombart schließt hier, wie öfter, mit dem pessimistischen »Ignorabimus«. Pinkus schließt sich dieser Anschauung grundsätzlich an: das »Normale« könne nur die Naturwissenschaft feststellen; die Sozialwissenschaft aber im allgemeinen und die Ökonomik im besonderen könnten es nicht, weil hier die Normen ins Gebiet der Ethik gehören: die alte Unterscheidung von Kausalgesetz dort, Normativgesetz hier, von Kausalität dort, von Teleologie hier! Er polemisiert hier mit Recht gegen Gabriel Tarde, der das normal nennt, was sich im Kampf ums Leben am besten bewährt, was »die systematische Harmonie fördert«.

In der Tat ist diese Tardesche Definition unbrauchbar, weil sie Werturteile enthält, und weil sie zu arm an charakteristischen Kennzeichen ist. Aber die Tardesche Definition ist nicht die einzig mögliche, und so hat wieder Fischer gegen Pinkus recht, wenn er ihn darauf hinweist, daß die Sozialwissenschaft und namentlich die Ökonomik einen Zwiefachen Charakter hat: als »Seinswissenschaft« und als »Sollwissenschaft«. Als Sollwissenschaft könne sie ihre Normen nur ethisch formulieren oder besser: postulieren; als Seinswissenschaft aber, d. h. als kausale Verknüpfung von Tatsachen, habe sie mit der Ethik nichts zu tun und könne, soweit ihre Mittel reichen, sehr wohl Normen im Kausalsinne aufstellen, das Physiologische vom Pathologischen trennen. Denn die Gesetze der Volkswirtschaft wirken zwar durch den Menschen, seien Produkte des menschlichen Willens, aber dieser Wille sei determiniert durch die allgemein-menschliche Veranlagung, dem wirtschaftlichen Prinzip des kleinsten Mittels zu folgen.

Das ist vortrefflich argumentiert, aber die Konsequenz ist unzulänglich. Denn Fischer fällt nunmehr selbst in den Fehler, die beiden Begriffe zu verwirren, die sich mit dem Worte »Norm« verbinden. Er vergißt zu fragen, ob nicht etwa die gesamte kapitalistische Wirtschaft als Totalität »abnorm« ist, sondern begnügt sich mit der Feststellung, daß "eine Wellenbewegung von Aufschwung und Niedergang ihr »Normalzustand« ist" (p. 12). Rausch und Katzenjammer, Malaria und Milzvergrößerung! Und so kommt er zu der u. E. unhaltbaren methodologischen Auffassung, daß die "Bestimmung des Normalen im Wirtschaftsleben in keinem Fall Voraussetzung, sondern immer erst Ergebnis der Krisenforschung sein kann" (p. 12). Kurz, er verlangt von unserem Arzte auf der isolierten Insel nicht mehr [S. 149] und nicht weniger, als daß er aus den Malariamilzen seiner Beobachtung die Normalmilz ableite.

Wir sind im Gegenteil der Ansicht, daß keine Krisenforschung jemals zu einem Ergebnis führen kann, die nicht zur Voraussetzung das exakte Bilde der Normalität als Vergleichsbasis besitzt.

II.

Sind wir denn nun wirklich außerstande, dieses Bild der Normalität in exakter Weise zu gewinnen?

Durch unmittelbare Beobachtung ist es nicht zu erhalten, darin stimmen wir Fischer und seinen Vorgängern zu. Aber ist es nicht vielleicht auf andere Weise zu erhalten?

Wir sind in der Tat der Meinung, daß es einen Weg zu diesem Ziel gibt. Und zwar ist es ein Weg, den seit den ersten Anfängen unserer Wissenschaft alle unsere großen Meister mit vollem Bewußtsein beschritten haben, wenn ihn auch keiner ganz bis zu Ende hat gehen können. Es ist der Weg der Abstraktion, der gedanklichen Ausscheidung grundsätzlich ganz genau bestimmter »außerwirtschaftlicher«, »außerökonomischer« »Störungen«, die in den Wirkungsbereich der »ökonomischen« Kräfte eingegriffen und sie abgelenkt haben.

Die Ökonomik ist, so weit sie Wissenschaft ist, nichts anderes als der Versuch dieser Abstraktion. Er begann mit der physiokratischen Theorie. Ihr von Gournay formulierter Wahlspruch: »laissez faire, laissez passer« war nichts anderes als die Mahnung an außerökonomische Potenzen, den Ablauf der ökonomischen Kräfte ungestört sich selbst zu überlassen, und gleichzeitig die Voraussage, daß unter dieser Voraussetzung sich die »Harmonie aller Interessen«, und das ist nichts anderes als die Normalität, so gewiß von selbst einstellen werde, wie sich die Materie im Raum zur mathematisch vollkommenen Kugel ballt, oder wie sich das Wasser in die Ebene einstellt.

Dann kam Smith mit seiner noch genauer formulierten Forderung, alle aus der Vorzeit noch vorhandenen feudalen Machtpositionen abzuschaffen, um die Normalität herzustellen. Seine bourgeois-ökonomischen und manchester-liberalen Nachfolger haben dann freilich den Glauben an die Normalität im Sinne der vollen Interessenharmonie verloren und in ihrer »dismal science« die Disharmonie als das Normale bezeichnet: die Arbeiternot und später auch die Krisen, die sie zuerst leugneten, weil sie sie nicht zu erklären vermochten. Aber wer eine Dogmengeschichte des Normalitätsbegriffes schreibt, müßte [S. 150] doch wenigstens diesen Teil der Smith'schen Lehre kennen und sollte auch nicht übersehen, daß von Smith noch eine zweite Schule abzweigt, die seine Grundgedanken weiter vertieft hat, die sozialliberale Schule Careys, die bei Dühring, seinem Schüler, schon liberalsozialistisch umbiegt, um dann in den Gedanken Herzkas und des Referenten selbst weiter ausgestaltet zu werden.

Von Carey-Dühring und neben ihm von dem großen deutschen konservativen Sozialisten Rodbertus wird mit dem grundlegenden Smith'schen Gedanken Ernst gemacht, daß der »Staat« als Ganzes, und daß innerhalb der Staatsverfassung bedeutende Teile des Privateigentums nicht ökonomisch, sondern »außerökonomischen« Potenzen ihre Entstehung verdanken, daß sie infolgedessen als »Störungen«, sozusagen als Fremdkörper, den »normalen« Ablauf des volkswirtschaftlichen Gesamtlebens ablenken. Diese Vorstellung verdichtet sich bei Dühring bereits zu einer sehr glücklichen Formel: er nennt das Eigentum der Oberklasse »Gewalteigentum«, d. h. solches Eigentum, das »Gewaltanteile« von der Gesamtgütererzeugung ohne Gegenleistung vorweg nehmen darf. Und er stellt nicht nur das Problem der »Normalität« mit voller Klarheit, sondern er gibt auch in den großen Zügen exakt die Methode an, wie sie errechnet, »abstrahiert« werden kann[3]: "Adam Smith hatte zwar als Voraussetzung für seine Schlüsse eine seiner Meinung nach freie Gesellschaft schematisiert, in welcher die Wirtschaftsbestrebungen jedes Einzelnen unbehindert ihren natürlichen Antrieben folgen dürften; aber er war hierbei nicht zur Trennung des rein Natürlichen von den politischen Gewaltverhältnissen gelangt, auf welche sich die überlieferte Institution des Eigentums nicht bloß nebenbei, sondern in der Hauptsache stützte. Er sah von allerlei künstlichen Monopolen und Hindernissen des Verkehrs ab; aber er ging in diesem Absehen nicht weit genug. Die Naturgesetze der Wirtschaft werden in aller Strenge erst dadurch gewonnen, daß man die Wirkungen der Staats- und Gesellschaftseinrichtungen und namentlich diejenigen des mit Lohnhörigkeit verknüpften Gewalteigentums in Gedanken ausmerzt und sich hütet, die letzteren als Notwendigkeiten der bleibenden Natur des Menschen anzusehen".

Wir meinen, daß ist völlig klar. Und, wenn Fischer auch nur das Inhaltsverzeichnis des berühmten Dühring'schen Werkes [S. 151] ansehen wollte, würde er darin finden: Vierter Abschnitt, erstes Kapitel: »Normalität und Krisen« und würde seine Ansicht modifizieren, wonach "bisher eine Erörterung über das Wesen des Normalen in der Nationalökonomie für unnötig gehalten worden" ist (p. 5). Im Text selbst aber würde er vieles finden, was ihm die Priorität seiner Autoren mehr als zweifelhaft erscheinen lassen würde. Wir empfehlen ihm die Seiten 222 und 223 zu studieren, um z. B. über »Seins- und Sollwissenschaft« etc. Gedanken zu finden, die ihm sehr bekannt vorkommen werden. Natürlich fällt es uns nicht ein, dem jungen Autor einen Vorwurf aus dieser Unkenntnis zu machen: es ist die Schuld der älteren Generation, die das mächtige Werk Dührings mit so viel Erfolg zu sekretieren verstanden hat.

Was aber wunderlicher ist, ist die Tatsache, daß Fischer nicht einmal die grundsätzliche Forderung des bedeutendsten Rodbertus-Schülers, Adolf Wagner, kennt, die »reine« von der »politischen Ökonomie« gedanklich zu trennen, d. h. doch, die »Normalität« der Ökonomie aus ihrer Verflechtung mit Recht, Verfassung und Politik zu abstrahieren. Und so kann ich mich persönlich wohl auch nicht darüber beklagen, daß diese 1911 erschienene Arbeit über Normalität und Krisen nicht nur - das ist fast selbstverständlich - von meiner »Theorie der reinen und politischen Ökonomie« nichts weiß, die erst 1910 herausgekommen ist,[4] sondern ebensowenig von meiner Krisentheorie, die schon 1896 in meiner »Siedlungsgenossenschaft« enthalten war.

Schon aus dem Titel des erstgenannten Werkes geht hervor, daß ich hier versucht habe, die »Normalität« durch jene methodologisch vorgeschriebene Abstraktion zu errechnen, die keiner meiner Vorgänger, wie ich glaube, weit genug geführt hat. Ich habe damit nur eine Gedankenreihe vollendet, die ich bereits 1896 in meinem zweitgenannten Werk angelegt und dann 1898 in meinem »Großgrundeigentum und soziale Frage« fast völlig zu Ende geführt hatte. Hier finden sich im Inhaltsverzeichnis klipp und klar hintereinander die Überschriften der Abschnitte: »Physiologie des sozialen Körpers der Tauschwirtschaft« und »Pathologie des sozialen Körpers der Tauschwirtschaft«!

Und hier ist das Krisenproblem nicht nur, wie bei Dühring auch, bereits durchaus als »Konjunkturenproblem« gefaßt, so daß Sombart damit zu spät kommt, sondern es ist grundsätzlich sogar [S. 152] auf genau jene Weise gelöst, die Fischer im Schlußkapitel (p. 63) als den einzigen Weg zur Lösung bezeichnet, nämlich aus der Psychologie der Kapitalisten. Nur, daß ich das Thema wesentlich tiefer gefaßt habe als Fischer, der a. a. O. den Kapitalisten in der Hausse von ganz anderen Beweggründen motiviert sein läßt als in der Baisse. Das ist natürlich falsch: er ist immer gleich motiviert, strebt immer zum kleinsten Mittel, d. h. mit dem möglichst kleinen Aufwande zum möglichst großen Gewinn (oder kleinsten Verlust, was dasselbe sagen will). Ich habe aber die Psychologie und Handlungsweise des Unternehmers in der reinen Wirtschaft als die Normalität entwickelt und mit ihr die des Unternehmers in der kapitalistischen Wirtschaft kontrastiert; und ich habe gefunden, daß beide toto coelo verschieden sind, weil eben das »kleinste Mittel« dort und hier ein ganz anderes ist. Die Konkurrenz zwischen den Unternehmern ist in der reinen Wirtschaft eine ganz andere als in der kapitalistischen: sie stehen dort im »friedlichen Wettbewerb«, hier aber im »feindlichen Wettkampf«.

Wie sich diese beiden Arten der Konkurrenz von einander unterscheiden, kann hier nicht dargestellt werden, Interessenten mögen es an den bezeichneten Stellen nachlesen. Hier kann nur gesagt werden, welche verschiedene Handlungsweise aus der verschiedenen Motivation erwächst:

Wenn die Preise ihres Produktes sinken, schränken die Unternehmer der reinen Ökonomie ihre Produktion sofort ein, die der kapitalistischen aber dehnen sie aus!

Das ist nämlich für den kapitalistischen Unternehmer die einzige Möglichkeit, seinen »Gesamtprofit« auf der Höhe zu halten; sinkt der Einzelprofit an der Wareneinheit, so strebt er danach, mehr zu verkaufen, auf die Gefahr hin, seinen Markt noch mehr zu verschlechtern. Er kann unter freier Konkurrenz nicht anders handeln, denn er weiß seine Konkurrenten ebenso motiviert, und muß, wenn er seine Produktion einschränkt, gegenwärtigen, daß er weniger Waren-Einheiten zu geringerem Preise absetzt, daß also sein Gesamtprofit sehr empfindlich, vielleicht verderblich einschrumpft. Es bleibt ihm also nichts anderes übrig; es steht psychologisch geradezu unter dem Zwang, auch bei sinkenden Preisen seine Produktion auszudehnen; es ist das sein »kleinstes Mittel«. Der Unsinn wird unter solchen Umständen Sinn: eine »Antinomie« des Kapitalismus, die deutlich zeigt, daß diese ganze »Ordnung« Unordnung, Normwidrigkeit ist. Denn natürlich kann [S. 153]sich die auf die Länge unbedingt notwendige Konkordanz zwischen Produktion und Preisstand nicht anders als unter krampfhaften »kritischen« Zuckungen durchsetzen.

Hat der kapitalistische Unternehmer das Motiv zur Ausdehnung seiner Produktion bei sinkenden Preisen, so hat er auch die Möglichkeit dazu. Es gibt in der kapitalistischen Wirtschaft immer eine Reserve-Armee »freier Arbeiter«, die Vorbedingung jeder plötzlichen Erweiterung der Produktionsbasis!

Beides, Motiv und äußere Möglichkeit, hat aber der Unternehmer der reinen Wirtschaft nicht. Es gibt keine Reservearmee »freier« Arbeiter in Marx' Sinne, d. h. Menschen, die gezwungen sind, für einen Bruchteil des Wertes zu arbeiten, den ihre Arbeit erzeugt. Daher gibt es keine Möglichkeit, die Produktion plötzlich zu erweitern. Aber auch das Motiv kann hier in dem Unternehmer nicht entstehen. Denn hier bezieht er überhaupt keinen »Profit«, weder Einzel- noch Gesamtprofit; er kann also nicht spekulierend versuchen wollen, ihn durch Verkauf von mehr Einheiten zu billigerem Preise auf der Höhe zu halten. Sondern er bezieht hier nur seinen »Unternehmerlohn«, das legitime, vielleicht sehr hohe Einkommen aus hochqualifizierter Arbeit. Und diesen Lohn hütet er sich, durch falsche Produktionspolitik zu kürzen: sein »kleinstes Mittel« ist, die Produktion sofort einzuschränken, wenn die Preise beginnen zu sinken.

Die klassische Theorie, die in einer Art von optischer Täuschung immer die kapitalistische für die reine Ökonomie gehalten, hat regelmäßig so argumentiert, als passe sich auch in der kapitalistischen Wirtschaft die Produktion immer sofort durch Einengung dem sinkenden Preisniveau an, und darum hat sie dem Krisenproblem durchaus nicht näher kommen können. Dasselbe gilt in verstärktem Maße von ihren theoretisch sehr viel weniger gut ausgestatteten Nachfolgern. Einige haben die Tatsachen wenigstens gesehen und als Hilfserklärung verwertet[5]; aber auch bei ihnen ist das nur eine gelegentliche Nebenbemerkung, und vor allem haben sie nicht die mindeste Ahnung davon, daß diese Handlungsweise psychologisch und ökonomisch eben nur unter den Verhältnissen der kapitalistischen, nicht aber unter denen der reinen Ökonomie möglich sind.

Die Tatsache muß aber als entscheidend in den Mittelpunkt der Krisenforschung gestellt werden. Sie erklärt, warum die [S. 154] ältere Theorie das Problem nicht hat lösen können, und eröffnet den einzigen Weg zur Lösung.

Alle Erklärungen der Krisen erweisen sich ohne weiteres als falsch, wenn man die irreale Voraussetzung macht, daß auch die kapitalistischen Unternehmer bei sinkenden Preisen sofort ihre Produktion einengen. Eine flüchtige Übersicht wird das zeigen.

Betrachten wir zunächst die älteste und immer noch einflußreichste Krisentheorie, die der Unterkonsumtion. Danach sind die Krisen unvermeidlich, weil die Arbeiter mit ihrem Lohn ihr Produkt nicht zurückkaufen können. Das ist ganz unhaltbar! Denn der »Mehrwert«, den die Kapitalistenklasse bezieht, erscheint als »wirksame Nachfrage« auf den Märkten der Güter und Dienste und zwingt die Produktion, genau diejenigen Wertdinge herzustellen, nach denen die wirksame Nachfrage besteht: Kapitalgüter, Produktivdienste, Luxusgüter, Dienste von Lakaien, Prostituierten etc. Hier kann niemals unter unserer Voraussetzung eine Störung eintreten, selbst wenn der Anteil der Arbeiterklasse das nackte Existenzminimum ist.

Dasselbe gilt von der Erklärung durch »Überkapitalisation«, die neuerdings immer mehr Vertreter findet. Danach soll die Kapitalistenklasse immer (absolut) größere Teile ihres Mehrwertes, statt in Gütern und Diensten der unmittelbaren Verwendung, in solchen der Beschaffung (Kapital) anlegen. Diese Theorie, die namentlich bei Tugan-Baranowsky zu reiner Zahlenspielerei ausgeartet ist, ist ebensowenig haltbar. Denn bei sinkenden Preisen der von den Kapitalgütern hergestellten letzten Gütern würde nach unserer Voraussetzung niemand mehr Nachfrage nach Kapitalgütern ausüben (Tugan freilich hält das nicht nur vorübergehend, sondern auf die Dauer für möglich!), sondern jeder würde diese unrentable Verwendung seines Einkommens sofort einstellen und statt dessen hochwertige Konsumgüter etc. nachfragen.

Etwas mehr Berechtigung hat eine Unterart der Überkapitalisationstheorie, die der »longue durée« (Aftalion). Sie macht geltend, daß bei steigenden Preisen der letzten Güter die Erweiterung ihrer Produktion zwar sofort in Angriff genommen wird, aber nicht sofort wirksam werden kann, weil die Herstellung der neuen Produktionsmittel längere Zeit in Anspruch nimmt. Wenn sie dann anfangen zu wirken, erfolge der Preissturz katastrophal.

Darin steckt ein Körnchen Wahrheit, aber es ist sicherlich verfehlt, die ganze Krise darauf zurückzuführen. Der neue [S. 155] Preis fällt nämlich unter den hier geschilderten Umständen sicher nicht unter den Selbstkostenpreis der neuen mächtigen Werke, und so können allenfalls nur die schwächsten Konkurrenten »ausgejätet« werden. Das bedeutet aber noch lange keine allgemeine Krise. Dasselbe kann jeden Augenblick auch in der Hausse sich ereignen, sobald ein Konkurrent mit mächtigem »übernormalen Produktivkapital« den Markt zu usurpieren beginnt. Vor allem aber schematisiert diese Erklärung viel zu sehr: die Preise springen nicht plötzlich auf den Hochstand, sondern steigen allmählich, und so kommt das neue Kapitalgut ebenfalls allmählich zur Wirksamkeit, so daß derartige krisenhafte Ausgleichungen nur in Ausnahmefällen auf einzelnen Warenmärkten vorkommen können.

Diese Theorie der Überkapitalisation in ihren verschiedenen Varianten ist nur ein Spezialfall der zweiten Haupterklärung, die das Krisenproblem bisher gefunden hat, der Theorie von der »Unterproduktion« oder der »Disproportionalität«. Sie geht von der Anschauung aus, die namentlich J. B. Say als »Lehre von den Absatzwegen« (théorie des débouchés) entwickelt hat. Danach ist jede zu Markte gebrachte Ware gleichzeitig Angebot ihrer selbst und Nachfrage nach anderen; folglich kann niemals eine allgemeine Überproduktion eintreten, sondern nur eine partielle; in einer Warenart kann Überproduktion eintreten, wenn m. a. W. Disproportionalität der Produktion besteht. Und solche Disproportionalität ist, das betonen die sozialistischen Anhänger dieser Erklärung besonders, in der kapitalistischen Wirtschaft unvermeidlich, mit der die »Anarchie der Produktion«, individuelle Leitung der kollektiven Güterbeschaffung, unlöslich verbunden sei. Der Unternehmer könne die Marktlage nicht übersehen.

Auch diese Erklärung ist unhaltbar. Erstens kann keine grobe Disproportionalität eintreten, wenn die Unternehmer bei sinkendem Preisstand sofort einschränken; zweitens kann selbst bei grober Disproportionalität, wenn sie doch denkbar wäre, keine allgemeine Krise entstehen, sondern nur ein Notstand der Zweige mit Überproduktion, dem die Blüte der unterproduzierenden Zweige mehr oder weniger das Gleichgewicht halten müßte. Und drittens ist es eine Fabel, daß die in der Tat bestehende »Anarchie der Produktion« auf unzureichender Marktübersicht der Unternehmer beruhe. Niemals haben sie ihren Markt so gut übersehen können, wie in unserer Zeit der Telegraphen, Telephone, Börsenblätter und Handelsattachés. Wenn [S. 156] sie nur den Ordres, die der Markt durch seine Preisgestaltung an sie ergehen läßt, folgen dürften, gäbe es niemals eine grobe Disproportionalität; aber sie dürfen eben diesen Ordres nicht folgen, sie müssen auch bei sinkendem Preise ihre Produktion noch vermehren.

Die einzige standfeste Erklärung ist die der »allgemeinen Überproduktion«. Aber nicht einer Produktion, die im Verhältnis zur Konsumtionskraft der Unterklasse zu klein ist (das wäre die Theorie der Unterkonsumtion), sondern in bezug auf die wirksame Nachfrage der Gesamtgesellschaft.

Also doch eine Theorie der Unterkonsumtion? Nein, durchaus nicht! Aber es bedarf allerdings einer gewissen Aufmerksamkeit, um den Unterschied zu erkennen, der hier besteht. Er liegt nicht nur etwa darin, daß die Theorie der Unterkonsumtion nur die mangelnde Kaufkraft der Unterklasse als Ursache der Krisen anschuldigt, während ich die mangelnde Kaufkraft der Gesamtbevölkerung für die Ursache erkläre, sondern er liegt tiefer. Am besten wird sich das, was hier verstanden werden will, durch eine Abstraktion aufklären lassen, durch eine irreale Voraussetzung, die genau das Gegenteil unserer ersten irrealen Voraussetzung ist. Haben wir bisher die Krisen-Erklärungen mit der Annahme widerlegen können, daß die Unternehmer auch in der kapitalistischen Gesellschaft sofort einschränken, wenn die Preise sinken, so wollen wir jetzt umgekehrt annehmen (was ebenso unmöglich ist), daß die Unternehmer der reinen Ökonomie bei sinkenden Preisen ihre Produktion vermehren.

In der reinen Ökonomie erhält jeder Arbeiter den vollen gesellschaftlichen Wert seines Produktes, es besteht also keine Unterkonsumtion im Sinne der alten Theorie. Der Arbeiter kann mit seinem Lohn sein Produkt zurückkaufen. Dennoch ist unter unserer Voraussetzung hier eine Krise geradeso gut möglich wie in der kapitalistischen Ökonomie. Denn die Preise sämtlicher Gewerbsprodukte werden durch die supponierte Ausdehnung der Produktion bei sinkendem Preisstande immer weiter gedrückt, ein Zeichen dafür, daß selbst die Kaufkraft dieser reinen Gesellschaft, ihre wirksame Nachfrage, nicht imstande ist, die Mehrproduktion aufzunehmen. Wir haben also hier eine allgemeine Überproduktion, ein »general glut«.

Daraus geht hervor: 1. daß in der kapitalistischen Ökonomie die Krisen nur dadurch erklärt werden können, daß die Unternehmer bei sinkenden Preisen ihre Produktion vermehren, und 2. daß in der reinen Ökonomie Krisen nicht vorkommen [S. 157] können, weil es hier dem Unternehmer aus inneren und äußeren Gründen unmöglich ist, bei sinkenden Preisen die Produktion auszudehnen.

Damit ist die Ursache der Krisen völlig aufgeklärt, aber noch nicht ihr Mechanismus. Um diesen völlig zu verstehen, muß man sich genau klar machen, was das Sinken des Preises in der entwickelten Verkehrswirtschaft zu bedeuten hat.

Es bedeutet, daß das Angebot der Gewerbswaren im Verhältnis zum Angebot von Geld größer geworden ist, als der Wertrelation von Ware zu Edelmetall entspricht. Dieses Mißverhältnis wird durch die unter dem Zwangsantriebe des feindlichen Wettkampfes erfolgende unheilvolle Produktionspolitik aller Unternehmer noch gesteigert. Und das muß in der entfalteten Verkehrswirtschaft zum kritischen Ausgleich der Spannung zwischen der Produktion und der wirksamen Nachfrage führen. Denn hier vollzieht sich aller Warenverkehr im Großen durch Kreditgeld (Wechsel usw.), das aber auf Metallgeld ausgestellt ist, und zwar in einem Kreisverkehr, in dem jeder Produzent immer wieder Hintermann seiner Vordermänner wird; denn der Kreditgeldverkehr ist nichts anderes als der über Zeit und Raum gespannte Gütertausch. So lange alle Güter im Verhältnis zur Geldware in einer Preisrelation stehen, die ihrer Wertrelation annähernd entspricht, kann dieser Kreisverkehr ungestört ablaufen. Denn jeder erhält beim Verkauf seines Produktes Kreditgeld von solcher Höhe an Zahlungs Statt, daß er damit seine Hintermänner befriedigen und seinen Lebensunterhalt bestreiten kann. Sobald aber die Preise sinken, wird die Spannung zwischen den eingegangenen Verpflichtungen an die Hintermänner und dem realisierten Preise, den die Vordermänner bezahlen, immer kleiner, und schließlich reißt die Kette des Kreditgeldverkehrs ab, sobald der Preis, den einer der Produzenten noch realisiert, geringer wird als seine Zahlungsverpflichtung gegenüber seinen Hintermännern. In diesem Augenblick schlägt Rechengeld (Kreditgeld) in Warengeld (Metallgeld und seine unzweifelhaft wertgleichen Surrogate) um; jeder Gläubiger besteht auf seinem Scheine, Warengeld zu empfangen und verweigert die Annahme des Kreditgeldes, das sich in demselben Maße entwertet, wie die Waren sich entwertet haben, deren Wert das Kreditgeld repräsentiert. Unter diesen Umständen steigt Geld enorm im Warenpreis, d. h. sinkt die Ware sturzhaft im Geldpreise; das Geld versteckt sich (der berühmte »internal drain«), und die ganze Produktions-Maschinerie bricht zusammen. Verstärkt wird das durch konsekutive Störungen im[S. 158] Kreditverkehr, dem echten Darlehnsverkehr, der leider fortwährend mit jenem Kreditgeldverkehr zusammengeworfen wird. Mehr als diese Andeutungen über den Mechanismus der Krise kann ich hier nicht geben; meine genannten Arbeiten enthalten ihn in aller Ausführlichkeit.

All das kann in der reinen Wirtschaft nicht vorkommen, weil hier Überproduktion, d. h. Ausdehnung der Produktion bei sinkenden Preisen, psychologisch und mechanisch unmöglich ist. Darum kann der Waren-Preis des Geldes hier noch weniger jemals empfindlich oder gar katastrophal über seinen »natürlichen Waren-Wert« steigen, wie der Preis von Tuch oder Eisen: und darum ist eine allgemeine Krise völlig unmöglich. Das Gleichgewicht der einzelnen Produktionspreise unter sich und aller mit der Edelmetallproduktion muß sich immer durch sanfte Schwankungen hindurch aufrecht erhalten; die Kette des Kreditgeldverkehrs kann niemals reißen.

Diese Lehre von den Krisen ist eine Synthese aller bisher versuchten Haupterklärungen, aber unter einem höheren Gesichtspunkt und in völlig neuer Anschauung!

1. Sie zeigt, daß die Krise nicht eine Abnormalität der reinen Ökonomie ist, sondern die Normalität der kapitalistischen Ökonomie, die selbst als Ganzes eine Abnormalität, etwas Pathologisches ist.

2. Sie zeigt, daß die Unterkonsumtion der Volksmasse zwar nicht als proxima causa, wie die Unterkonsumtions-Theorie irrigerweise annahm, wohl aber als causa causans die Krisen verschuldet. Nicht die mangelnde Aufnahmefähigkeit der Arbeiterklasse ist die Ursache, sondern das gesellschaftliche Kapitalverhältnis selbst, das einerseits die Reservearmee, andererseits den Mehrwert und damit die spezielle kapitalistische Unternehmer-Psychologie erschafft.

3. Sie ist Theorie der allgemeinen Überproduktion. Aber sie bezieht dieses »Über« nicht auf ein »Unter« des Konsums der Arbeiterklasse, sondern auf ein »Unter« der wirksamen Nachfrage der Gesamtbevölkerung.

4. Und sie ist schließlich, wenn man will, auch noch Theorie der Disproportionalität, der »Unterproduktion«: denn die Krise bricht aus, weil alle Gewerbsprodukte im Übermaße produziert worden sind, mit der Ausnahme eines einzigen, des Edelmetalls (das wußte übrigens Roscher schon, zog aber nicht die nötigen Schlüsse daraus). Dieses Produkt ist nämlich hauptsächlich aus dem einen Grunde Geldware geworden, weil es völlig unmöglich ist, seine Produktion plötzlich im Verhältnis [S. 159]zum vorhandenen Vorrat so stark zu vermehren, wie die aller anderen Waren im Verhältnis zu ihrem vorhandenen Vorrat.

Insofern behält also Say mit seiner Theorie der débouchés recht: Jede Ware ist gleichzeitig Angebot ihrer selbst und Nachfrage nach anderen Waren. Aber, wenn die allgemeine Überproduktion besteht, so fragt jede auf den Markt kommende Ware nur noch Geld, aber keine andere Ware mehr nach. Und darum sinkt ihr Wert unter die Selbstkosten, und der »débouché« ist gesperrt. Somit läßt die hier vorgetragene Krisenerklärung auch die in ihrem Kern unbestreitbar richtige, wenn auch von Say töricht überspitzte »Theorie der Absatzwege« völlig bestehen.

Diese meine Krisentheorie, die völlig mein eigen ist, die in der Tat den einzig völlig originellen Beitrag darstellt, den ich zur Theorie der Marktwirtschaft beigesteuert habe - in allen anderen Punkten habe ich nur ältere Gedanken weiterführen können -, dürfte nun, nach 16 Jahren, wirklich abgelagert genug sein, um in dogemenhistorischen Darstellungen des Problems wenigstens - abgelehnt zu werden. Sie geht zum mindesten auf dem einzig methodologisch möglichen Weg vor - ob sie ihr Ziel erreicht hat, darüber mag man richten.

Fußnoten
[1]
Dr. Walter Fischer, Berlin: "Das Problem der Wirtschaftskrisen im Lichte der neuesten nationalökonomischen Forschung". Drittes Heft des ersten Bandes der "Freiburger volkstümlichen Abhandlungen", hrsg. von Karl Diehl und Gerhard von Schulze-Graevernitz, Karlsruhe (Braun) 1911. 72 Seiten.
[2]
In der Regel ist es nur eine Ursache, und es ist altes Gesetz der Medizin, daß die Diagnose so lange unsicher bleibt, als nicht die Reduktion aller Erscheinungen auf eine causa morbi geglückt ist. Das ad notam denjenigen Theoretikern, die schon Zeter schreien, wenn ein Ökonomist ebenfalls nach der einen vorauszusetzenden causa morbi sucht. Der »Absolutismus der Lösung« ist auch hier, trotz allem Zetergeschrei, wissenschaftliches Postulat!
[3]
Eugen Dühring: Cursus der National- und Sozialökonomie. 3. Aufl. Leipzig. 1892. Seite 5.
[4]
Berlin. Georg Reimer. 2. Auflage, 1911.
[5]
z. B. Herkner im Art. »Krisen« Hdwb. d. St. W. 2. Aufl. V. 415 und Bouniatian (nach Fischer p. 46).

Nachwort von Werner Kruck

Die Oppenheimersche Krisentheorie dürfte dem heutigen Leser nicht auf Anhieb nachvollziehbar sein. Einmal gibt es keine Goldmark mehr, nach der die Produzenten während einer Phase der Entwertung des Kreditgeldes verlangen könnten. Aber auch die Oppenheimersche Geldtheorie ist heute gänzlich unbekannt und wird doch bei der Erklärung des Krisenmechanismus vorausgesetzt. Mit anderen Worten muß der vor über 80 Jahren verfaßte Text in unsere heutige Zeit übersetzt und ergänzt werden, um nachvollziehbar zu sein.

Die Grundfigur besteht in einem Kessel-Modell, wie es Oppenheimer zu einem späteren Zeitpunkt publiziert hat. Der Kapitalist ist hoch motiviert, den Zustrom seiner Waren auf den Markt zu erhöhen, während der Abstrom durch vorhandene Kaufkraft mit gleichem Druck verengt wird. Überproduktion und Unterkonsumtion stehen sich scheinbar gegenüber. Doch treffen diese Bezeichnungen das Problem? Beschreiben die Unter- und Übermengen das Krisenphänomen oder ist nicht vielmehr ein Zustand des Marktes (des Kessels) zu benennen, der einerseits einen erhöhten (Konkurrenz-)Druck aufweist und andererseits nur noch ein suboptimales Tauschvolumen vermitteln kann? Oppenheimer behauptet letzteres: der Kreislauf wird gestört und die Vermittlungsfähigkeit des Marktes reduziert, was einer gleichzeitigen Senkung der gesellschaftlich möglichen Gesamtproduktion gleichkommt. Zudem erhöht sich während der konjunkturellen Depression der Konkurrenzdruck, was einerseits die Grenzproduzenten aus dem Markt wirft und andererseits den kapitalistischen Unternehmer zu weiteren Maßnahmen im Sinne der pathologischen Entwicklung anreizt.

Wir erleben diesen Sachverhalt gegenwärtig wieder einmal hautnah. Alle wirtschaftlich tätigen Akteure sind nur mit einer Bewegung beschäftigt: sparen. Staat, Unternehmen und Haushalte verursachen damit einen Einnahmeausfall jener, deren Leistungen im Zuge der Sparmaßnahme nicht mehr nachgefragt werden. Die ausgefallene Einnahme ist natürlich in gleicher Höhe ausgefallene Nachfrage und wiederum ausgefallene Einnahme etc. Der Kreislauf der Wirtschaft kommt ins Stocken und der Gesamtumsatz der getauschten Werte reduziert sich, nicht unbedingt weil eine ausgebeutete Klasse ihr Produkt mit den gezahlten Löhnen nicht mehr zurückkaufen kann, sondern weil das Gesamtsystem eine Kontraktion vollzieht. Der Markt reduziert seine Tauschfähigkeit in dem Maße, wie die Psychologie der Unternehmer in depressiv gestimmter Haltung den Kampf um den eigenen Profitanteil verschärft und zur Kostendämpfung oder Überproduktion auf den Wirkmechanismus der kapitalistischen Ordnung mit ihrer reichlich vorhandenen Reservearmee zurückgreifen kann.

Die Verschärfung des Wettbewerbes zum vernichtenden Wettkampf, der die Leistungsfähigkeit der Gesellschaftswirtschaft nicht stärkt, sondern vernichtet, wäre in einer nicht-kapitalistischen Ökonomie Oppenheimerschen Typs unmöglich. So lautet die Hauptaussage der Oppenheimerschen Argumentation. Betrachten wir jetzt noch den beschriebenen Krisenmechanismus.

Er kennt mit der Goldmark ein wertkonstantes Gut, daß eine bestimmte Menge durchschnittlich qualifizierter gesellschaftlicher Arbeit repräsentiert. Das Volumen der möglichen Tauschakte am Markt wäre nun allerdings unbillig beschränkt, könnten die Händler und Produzenten ihre Geschäfte lediglich in Goldmark abschließen. Die Erfindung des Wechsels und Kreditgeldes war die logische Konsequenz, lange vor dem Auftreten erster, nationalökonomischer Theoretiker, namentlich lange vor Lebzeiten Adam Smiths, der bereits aus reicher Erfahrung des Geschäftverkehrs mit Wechsel- und Kreditgeld berichten konnte. Doch baut der Kreislauf des Kreditgeldverkehrs, der den Warenströmen entgegengesetzt verläuft, auf das dauerhafte Funktionieren der Geschäftsvereinbarungen, vor allem aber auf einer zuverlässigen Tilgung der Schuld. Gerät das Gesamtsystem der Wirtschaft in eine Depression und können die Unternehmen mit den Verkaufspreisen ihre Selbstkosten und den Unterhalt der am Produkt beschäftigten Personen nicht mehr erwirtschaften, dann sind »rote Zahlen« und Konkurse die zwangsläufige Folge. Die Zahlungsverpflichtungen können nicht eingehalten werden und der Konkurs des einen ruiniert häufig auch die Gläubiger. Im Jahre 1912 mochten die Unternehmen angesichts der Bedrohung kollektiv ihr Vertrauen in das Wirtschafts- und Bankensystem verloren haben und von ihren Kunden eine Zahlung in Goldmark statt Kreditgeld erwartet haben. Das sind zusätzliche Probleme einer noch wenig kultivierten Marktverkehrswirtschaft, die es in dieser Form heute nicht mehr gibt. Was bleibt, ist der Dominoeffekt der Pleiten und Konkurse, der einmal funktionierende Gläubigerunternehmen in die Tiefe reißen kann sowie mit dem Ausfall von Unternehmen im Bereich der Grenzproduktivität das Gesamtprodukt der Gesellschaft reduziert. Unklar bleibt bei Oppenheimer nur, warum die Wirtschaft nach einem erfolgten Einbruch erneut einen Aufschwung nimmt, also welche Kapitale da vernichtet wurden und wo es bei der Talfahrt ein Halten gibt. Wo liegt der Wendepunkt in der Krisenpsychologie? In der Einsicht und dem Willen, mit Arbeit und Fleiß kollektiv das Ruder herumzureißen?