Mein wissenschaftlicher Weg

Erstveröffentlichung in Felix Meiner (Hg.), Die Volkswirtschaftslehre der Gegenwart in Selbstdarstellung,
Bd. 2, Leipzig 1929,
S. 69 - 116 (auch 69=1 bis 116=48)

[S. 69] Ich wurde am 30. März 1864 in einer Mietskaserne des alten Berliner Nordens, Krausnickstraße 5, im zweiten Stock, geboren. Ich weiß nicht, ob meine Eltern schon damals darüber nachgedacht haben, was ihr ältester lebender Sohn - ein Erstgeborener, Georg, war als Säugling gestorben - werden würde; aber das ganze soziologische Milieu, dem ich entstamme, bestimmte mich unwiderstehlich zur Laufbahn eines Akademikers, die Herkunft und Erziehung der Eltern, der Beruf des Vaters. Da es sich hier um meinen geistigen Werdegang handelt, muß ich auf diese Dinge etwas näher eingehen.

Mein Vater, Julius, war am 7. Mai 1827 in Uslar am Sollinggebirge in Südhannover als Sohn eines kinderreichen Kaufmanns geboren, der zuerst in Göttingen gelebt hatte, dem dann aber nach dem Zusammenbruch des napoleonischen Reiches als hannoverschem »Schutzjuden« dieser Aufenthaltsort angewiesen worden war. Die Familie war die einzige ihres Glaubens in dem Städtchen, so daß mein frommer Großvater, Gabriel Oppenheimer, jeden Sonnabend den weiten Weg nach dem benachbarten Weserstädtchen Witzenhausen zu machen hatte, um seiner religiösen Pflicht zu genügen. Für seine (zehn) Kinder hatte diese Isolierung aber den großen Vorzug, daß sie in einer durchaus gesunden Umgebung aufwuchsen. Es galt von ihnen, was Hugo Salus einmal von seiner eigenen Jugend erzählte:

"Denk' ich daran, wie wir Kleinstadtknaben
einst in der Freiheit geplätschert haben,
lustig uns tummelnd wie junge Füllen,
dank' ich den Eltern noch heut im Stillen."

Von Judenhaß war damals keine Rede. Mein Großvater gehörte zu den Honoratioren des Ortes. Er war als streng rechtlicher und wohltätiger Mann hoch angesehen, und seine Kinder atmeten [S. 70] die Luft der Freiheit und Gleichberechtigung. Auf meines Vaters Seele wurde niemals ein verbiegender und verzerrender Druck ausgeübt; er blieb bis an sein Lebensende der frohe, freie, offene Waldbursch, der mehr als 50 Jahre in Berlin leben konnte, ohne von dem Schmutz und der Gier der Großstadt auch nur berührt zu werden. Er fühlte sich ohne jede Einschränkung als Deutscher. Das erste Denkwort, das er mich als ganz kleinen Knaben lehrte, lautete: "Ich bin ein deutscher Mann, treu und wahr und ohne Lüge." Und wahrlich: aus seinem Munde ist nie ein unwahres Wort gekommen! So gütig er war, so trotzig stand er doch auf seinem Recht, und er hat manches Leid und manche schwere Kränkung dafür zu ertragen gehabt. Er war ein Weiser, ein Kluger war er nie; er folgte dem Gott in seiner Brust, ohne je zu zaudern. Er war viel mehr ein Dichter als ein Denker; ein leidenschaftlicher Freund der Musik und der Natur, ein träumender Spaziergänger in seinen kargen Freistunden und Ferien, ein wundervoller Märchenerzähler und Redner. Als Meister vom Stuhl und Großredner seiner Loge hat er dem ihn beseelenden und beseligenden Idealismus so machtvoll Ausdruck zu geben gewußt, daß noch heute, fast 20 Jahre nach seinem Tode, weißgewordene Männer mir leuchtenden Auges davon erzählen.

Mein Großvater stammte, wie ich von meinem Vater hörte, aus einer Familie, die seit unvordenklichen Zeiten am Rhein wohnte, einer ununterbrochenen Kette von gelehrten Rabbinern. Die napoleonischen Wirren brachten Armut, mein Großvater mußte Kaufmann werden. Aber die alte Tradition wirkte fort, zumal aus dem weiteren Kreise der Verwandtschaft nähere und entferntere Vettern zu großem wissenschaftlichem Ruf gelangten: die Göttinger Professoren Benfey, der Berliner Kirchenrechtslehrer Professor Agathon (Aron) Benary. Mein Vater, als der begabteste der Söhne, wurde zum Rabbiner bestimmt. Er machte den vorgeschriebenen Lehrgang zuerst in Halberstadt, wo er an der nahe verwandten Familie Hirsch, dem Stammhause der jetzigen Berliner Großindustriellen, einen Anhalt hatte, dann in Altona. Aber er war der Orthodoxie entwachsen, sprang aus der Kutte, absolvierte das Kölnische Gymnasium in Berlin, studierte Altphilologie und orientalische Sprachen und erwarb den philosophischen Doktorgrad, alles unter den größten Entbehrungen, die seine Gesundheit bis in sein spätes Mannesalter schwer schädigten. Nach einigen Wanderjahren als Religions- und Sprachlehrer wurde er als Prediger [S. 71] an die jüdische Reformgemeinde in Berlin berufen, eine Gemeinde, die mit der Orthodoxie des Ghetto radikal gebrochen hatte und nichts bewahren wollte, als den ethischen Grundgehalt der jüdischen Religion. Ihre Gottesdienste fanden am Sonntag vormittag statt; die Gläubigen saßen unbedeckten Hauptes im Tempel; Gebet, Predigt und Chorgesang waren deutsch, nur das Wochenstück aus der Thora und die großen Glaubensformeln wurden hebräisch vorgetragen, aber auf deutsch wiederholt; das Ganze ist, wie ich später hörte, dem Gottesdienst der französisch-reformierten Kirche außerordentlich ähnlich. Mein Vater hatte mit der Annahme dieser Stellung die Schiffe hinter sich verbrannt; die Rückkehr zur Orthodoxie war ihm abgeschnitten; da es damals nur die eine Gemeinde ihrer Art in der Welt, zum wenigsten in Europa, gab, war er sozusagen an die Scholle gefesselt. Und die Gemeinde war klein und konnte ihren Geistlichen nur geringe Gehälter zahlen. Aber mein Vater gab frohen Herzens alle Möglichkeiten dahin, um mit seinem Gewissen nicht in Widerstreit zu geraten, nahm an und heiratete - auf ein Gehalt von ganzen 500 Thalern jährlich. Und damit war seinen künftigen Söhnen der Rahmen ein für allemal gesteckt: die ehrenvolle Dürftigkeit eines akademischen Kleinbürgerhauses.

In ein solches Haus paßte meine Mutter nach Herkunft und Wesensart vortrefflich, denn sie entstammte bereits dem gleichen Milieu. Ihr Vater, Dr. Johann Davidson, war praktischer Arzt in Pyritz in Pommern. Als sein viertes Kind, ein Sohn nach drei Töchtern, von denen meine Mutter, Antonie, die älteste war, geboren war, erkrankte er unheilbar und saß viele Jahre gelähmt auf seinem Stuhl. Das Vermögen war winzig, nur mit geradezu heroischer Askese konnte meine Großmutter die beiden Enden zusammenbringen und ihre Kinder standesgemäß erziehen. Die beiden ältesten Töchter bestanden das Examen als höhere Lehrerinnen, für den Sohn aber waren die Mittel zum Studium nicht mehr vorhanden; er mußte das Gymnasium mit dem Zeugnis zum Einjährigendienst verlassen und Kaufmann werden. Er wurde ein wohlhabender Mann, aber dieser »Verlust seiner Klasse« hat ihm das ganze Leben vergällt.

Denn das war die Einstellung dieser Schicht, die ihre geistige Herkunft unmittelbar von Kant herleitete: es gibt keine anderen Werte, als die Werte des Geistes. Reichtum ist bestenfalls gleichgültig, eigentlich etwas Niederzwingendes, nur Bildung adelt; der [S. 72] Kaufmann ist ein Mensch minderen Wertes. Diese, wie ich jetzt weiß - denn ich habe viele Kaufleute kennengelernt, die im höchsten Maße gebildete Menschen waren - arg übertriebene Auffassung hat auch mich noch in meiner Jünglingszeit sehr stark beherrscht. Als ich bei einem Besuch in Hamburg hörte, daß ein entfernter Vetter, ein sehr begabter und mir sehr lieber Mensch, der Sohn eines großen Industriellen, Kaufmann werden wollte, war ich geradezu entsetzt. Er wieder konnte meine Einstellung gar nicht verstehen. Damals habe ich meine erste große Erfahrung über die Kraft gemacht, mit der die soziale Umgebung die Wertungen des Menschen bestimmt, denn in Hamburg war damals bereits die neue Einstellung durchgedrungen, die heute ganz Deutschland, wie ich fürchte, allzu stark beherrscht.

Meinen Eltern wurden binnen vier Jahren vier Kinder geboren, von denen das älteste, wie schon gesagt, bald starb. Ich wuchs zwischen zwei Schwestern auf, von denen die eine ein gutes Jahr älter, die zweite nicht zwei Jahre jünger war als ich. Die ältere, Paula, meine vertraute Freundin während unseres ganzen Lebens - sie ist 1918 gestorben - wurde später die erste Gattin Richard Dehmels; sie hat sich als Kinderdichterin einen großen Namen gemacht; eine herrliche Frau, die ein hartes Schicksal, schwere chronische Krankheit und den Verlust ihres geliebten Gatten, mit geradezu heldenhafter Tapferkeit trug. Die jüngere Schwester, Elise, ist die Gattin des Leipziger Ägyptologen Georg Steindorff. Nach einer Pause von mehreren Jahren wurde uns noch ein Bruder geschenkt; er wurde zu unserem großen Schmerze von der furchtbaren Sommerdiarrhöe hingerafft, die damals die Säuglinge der Großstadt zehntete, aber uns wurde bald Ersatz in einem anderen Bruder, Carl, der heute als sehr angesehener Professor der Chemie in Berlin wirkt.

Meine Mutter hatte es schwer. Sie mußte die kleinen Einkünfte durch eigene Arbeit ergänzen; die Eltern nahmen junge Leute als Pensionäre in ihr Haus auf, während Vater durch Privatstunden nachhalf. Strenge Sparsamkeit war das Gesetz des Hauses, aber uns Kindern hat es niemals an etwas Notwendigem gefehlt und am allerwenigsten an dem Notwendigsten: der Liebe. Meine Mutter, die mit nur einem Dienstmädchen den großen Haushalt bewältigte und selbst die Küche versorgte, fand immer die Zeit, für uns alle die Kleidung herzustellen, und später, als wir schulpflichtig wurden, unsere Ausbildung zu leiten und zu überwachen. [S. 73] Ich las dank ihrem Unterricht mit zehn Jahren ziemlich fertig französisch, wenig später ziemlich fertig englisch. Meine Aufsätze habe ich ihr bis zum Abiturientenexamen regelmäßig vorgelesen, und ihr Beifall war mir wichtiger, als der meiner Lehrer. Meine Mutter war schlechthin die klügste Frau, die ich in meinem Leben kennengelernt habe: von unfehlbarer Logik, von einer nie fehlenden Sicherheit der Intuition und des Urteils; dieser ungeheure Intellektualismus wurde aber auf das Glücklichste im Gleichgewicht gehalten durch eine fast übermenschliche Güte, Opferwilligkeit und vor allem Gerechtigkeit. Sie verteilte ihre Liebe vollkommen unparteiisch unter ihre vier Kinder; nie hat eines von uns das Gefühl gehabt, vorgezogen oder zurückgesetzt zu sein. Wenn die Gerechtigkeit zum Leitstern meines Lebens geworden ist, so danke ich es vor allem dieser hohen Frau.

So waren denn die Elemente einer guten Mischung gegeben. Schon in der Mischung von zwei Blutströmen, die, wenn auch ursprünglich vielleicht eins, durch Jahrhunderte voneinander getrennt waren. Denn mein Vater stammte, wenn die Familientradition nicht täuscht, von vornehmen sephardischen, spaniolischen Juden, ehemaligen Possessoren aus dem Stamme Juda, angeblich sogar aus dem Geschlechte Davids, ab, die vor der Inquisition zuerst nach Holland geflohen waren, um dann nach dem Oberrhein zu ziehen. Mutter aber stammte aus askenasischen Blute. Ihr Großvater war aus der Provinz Posen in die Mark gewandert; ein Vetter meiner Mutter war der berühmte Schauspieler Bogumil Dawison, der erste Heldenspieler seiner Zeit. Mit dieser Blutmischung mag es zusammenhängen, daß auch die anderen Elemente wenigstens die Möglichkeit boten, ein harmonisches Ganzes zu bilden: das reiche Phantasieleben des dichterisch veranlagten, impulsiven, zuweilen heftigen, sanguinischen Vaters, und jener fast unheimliche Intellektualismus des ghettoerzogenen Ostjudentums, den die Mutter von ihrer Seite her mitgebracht hatte. Ihr Vater muß ebenfalls ein Mann von ungewöhnlicher Intelligenz gewesen sein; er hat auf seinem Krankenlager rastlos studiert, las fast sämtliche lebende Sprachen und war ein profunder Kenner des Lateinischen und Griechischen; in unserer Familie existiert noch ein griechisches Lexikon, in das er unzählige Eintragungen aus allen möglichen Schriftstellern gemacht hat. Stahr, der Biograph Lessings, der ihm befreundet war, hat ihm ein ehrenvolles Denkmal gesetzt.

[S. 74] Unter der Leitung dieser beiden prächtigen Menschen, unserer geliebten Eltern, sind wir aufgewachsen. Wir haben mit der Muttermilch die Verachtung allen bloßen Scheins und die Ehrfurcht vor allen wirklichen Werten eingesogen; die Verachtung des Mammon war uns eine Selbstverständlichkeit; ich habe auch in den reichsten Häusern meiner Schulkameraden niemals auch nur einen Moment das Gefühl der Minderwertigkeit gehabt, eher das Gegenteil. Es gab für uns nur eine Sünde, die gestraft wurde: die Unwahrheit. Sonst war der Grundsatz der Erziehung: Vertrauen und Freiheit. Hier habe ich die Maßstäbe gewonnen, an denen ich unser öffentliches Leben gemessen habe und noch messe. Das Ideal der politischen Freiheit und Gleichheit verstand sich von selbst; mein Vater hatte als junger Mann die 48er Bewegung in Berlin mit heißem Herzen mitgemacht.

Ich habe das Friedrichsgymnasium in Berlin von der Vorschule bis zur Reifeprüfung durchgemacht: als der zweite Schüler der Anstalt, der ohne unvorhergesehenen Aufenthalt die zwölfgliedrige Stufentreppe erstiegen hat. Mein Vorgänger war nur ein halbes Jahr vor mir, Hugo Liepmann, der zuletzt ein hochberühmter Nervenarzt in Berlin war. Er mußte vor einiger Zeit an sich selbst ein grauenhaftes unheilbares Nervenleiden konstatieren, das ihn geistig völlig zerrüttet haben würde; ich bin stolz darauf, daß dieser Kamerad meines Lebens stolz und tapfer genug war, vorher freiwillig abzutreten, und daß seine Familie stolz und tapfer genug war, diesen Entschluß vorher zu billigen.

Bis zu meinem dreizehnten Jahre las ich wahllos alles, was mir unter die Hände kam. Dann hatte ich das große Glück, gerade zur kritischen Zeit, wo der Knabe zum Jüngling wird, einen Lehrer zu finden, dem ich hier ein Denkmal zu errichten wünsche: es war Ernst Voigt, einer der besten Schulmänner Deutschlands, der später Direktor unseres Gymnasiums und dann Berliner Stadtschulrat wurde und leider sehr jung starb. Er hat auf mich einen ungeheuren Einfluß ausgeübt; er verstand es, durch Ironie zur rechten Zeit und Lob und Tadel zur rechten Zeit alle Kräfte in denen zu wecken, in denen es Kräfte zu wecken gab. Bei ihm habe ich gelernt, wissenschaftlich zu arbeiten; er hat unverdrossen auch die längsten Aufsätze, die ihm seine Klasse einreichte, korrigiert und mit prächtiger produktiver Kritik zensiert. Ich habe später gehört, daß die Aufsätze seiner Prima auf Veranlassung des Kultusministeriums in ganz Deutschland zirkulierten, um den [S. 75] anderen Anstalten zu zeigen, was sich aus Primanern herausholen läßt. Ich habe Ernst Voigt heiß und ehrlich geliebt: er war eine prachtvolle, saftige Persönlichkeit mit einem Luthergesicht, ein Mann von unversiegbarem Humor, mit tiefstem Verständnis für junge Herzen, der wohl wußte, uns für das wahrhaft Wertvolle Ehrfurcht einzuflößen und uns lehrte, das nur Zeitliche zu verachten. Von meinen übrigen Lehrern hat Professor Fischer, namentlich in seinem physikalischen Unterricht, mir bleibende Anregungen gegeben, und der in hohem Alter verstorbene und mir bis zuletzt befreundete Historiker, Professor Paul Goldschmidt, nicht minder. Er hielt uns als Primaner zweimal wöchentlich wirkliche Universitätsvorlesungen über moderne Geschichte, an die ich heute noch mit Begeisterung zurückdenke.

Unter dem Einfluß Voigts fing ich an, systematisch zu arbeiten. Von jener Zeit an ist meine grüne Studierlampe fast zur Berühmtheit geworden. Mit einer Unterbrechung von drei übermütigen Studentenjahren habe ich von meinem 13. Lebensjahre an mit seltenen Ausnahmen tagtäglich bis in die Nacht hinein gelesen und gearbeitet. Ich habe als Schüler Odyssee und Ilias wenigstens ein halbes Dutzendmal durchgearbeitet, habe den ganzen Shakespeare englisch und zahllose Bände von Dumas (Vater) französisch gelesen, und habe schließlich als Primaner, angeregt von Voigt, der ein hervorragender Germanist war und viele Berufungen zur ordentlichen Professur des Fachs abgelehnt hatte, weil er sich als echter Lehrer von seiner Prima nicht trennen konnte, alles durchgearbeitet, was ich in der Schulbibliothek von germanistischer Literatur fand, und das war nicht wenig. Mein Verhältnis zu der Menge meiner Schulkameraden war zuerst kein besonders herzliches. Ich war weitaus der Jüngste in der Klasse, konnte der überlegenen Muskelkraft von drei bis fünf Jahre älteren Knaben, denen oft schon ein stattlicher Schnurrbart wuchs, nicht viel entgegensetzen, und hatte zuweilen dafür zu büßen, daß ich in den meisten Fächern des Unterrichtes einiges leistete; vielleicht habe ich auch diese Überlegenheit etwas überbetont, denn ducken konnte ich mich niemals. Aber mit der Pubertät schwollen auch mir die Muskeln; ich rückte schnell in die erste Turnriege vor, und wenn ich auch mit den Ältesten den Wettbewerb niemals aufzunehmen imstande war, so wurde ich doch von da an als Freund in ihren Kreis aufgenommen. Von dem Antisemitismus, der im Jahre 1878 [S. 76] mit einer Prügelaffäre zwischen einem israelitischen Herrn und zweien meiner eigenen Lehrer, Professor Bernhard Förster, dem Schwager Nietzsches, und Dr. Jungfer, seinen Ausgangspunkt nahm, habe ich als Gymnasiast noch nichts zu spüren bekommen. Um so mehr habe ich von da an gegen ihn zu kämpfe gehabt, zuerst als Student mit dem Rapier, das ich mit einiger Meisterschaft zu handhaben wußte, und später mit den Waffen des Geistes und der Rede. Ich war in den aufgeregten Studentenversammlungen jener Zeit einer der Führer der Linken gegen die, ach!, im Vergleich zu heute so gemäßigten Vertreter der damals aufkommenden völkischen Bewegung. Von den Jünglingen, mit denen ich damals im Redekampf der Tribüne stand, sind inzwischen die bedeutendsten, Wolfgang Heine und Helmut von Gerlach, zu Genossen meines Kampfes für die Freiheit geworden.

Die antisemitische Bewegung hat mein Leben aufs stärkste beeinflußt. Obgleich meine ganze Liebe den philologischen und historischen Wissenschaften galt, ließ ich mich doch - ich war noch nicht ganz 17 Jahre alt - davon abschrecken, ein Studium zu ergreifen, das mir den Hafen einer sicheren Existenz unter den Verhältnissen Deutschland-Preußens nicht versprechen konnte. Was aber sollte ich werden? Kaufmann war ausgeschlossen; zum Architekten fehlte mir die zeichnerische Begabung, zum Theologen die Gläubigkeit, vor der Jurisprudenz hatte ich einen heiligen Abscheu; aus meiner antimammonistischen Einstellung heraus war mir der Kampf um Mein und Dein unendlich zuwider. So blieb nichts als die Medizin, zu der ich mich um so eher entschloß, weil der Beruf des Großvaters nachwirkte, und weil ein gewisser jugendlicher Drang zur Philanthropie sich davon Befriedigung versprach.

Ich habe das Studium schlecht und recht vollendet, habe die drei Examina zur rechten Zeit ohne Schwierigkeiten und mit gutem Erfolg bestanden, war aber innerlich beteiligt nur an denjenigen Fächern, wo es etwas zu denken gab: an der Physiologie, an der experimentellen Pathologie, der inneren Klinik. Ich habe dann nahezu zehn Jahre (1886 - 1895) praktiziert, zuerst als praktischer Arzt, dann als Spezialist für Hals- und Nasenkrankheiten als Schüler Hermann Krauses. Es war mir auch bald gelungen, mir eine auskömmliche Praxis zu schaffen; ich glaube, daß ich kein schlechter und kein inhumaner Arzt gewesen bin; aber die volle Befriedigung fand ich nicht. Äußerer und innerer Beruf stimmten nicht zusammen. Ich wurde das Gefühl niemals los, daß ich mehr zu leisten verpflichtet [S. 77] war, als ich leistete, und daß ich auf diesem Gebiete niemals würde leisten können, was meiner Kraft angemessen wäre. Ich saß z. B. eine Zeitlang täglich viele Stunden am Mikroskop und hatte, wenn ich nach Hause ging, das lebhafte Gefühl, den Tag vergeudet zu haben. Die größte meiner Fähigkeiten blieb ungenutzt: die Fähigkeit zu denken.

Dennoch bin ich dem Schicksal dankbar, daß es mich auf diesem scheinbaren Umwege geführt hat. Ich hätte sonst, meiner ganzen Anlage nach, über das Wenige hinaus, was zu meiner Zeit das Gymnasium an Naturwissenschaften lehren konnte, wahrscheinlich nichts von ihnen gelernt. So aber bin ich mit völlig klaren Vorstellungen über die Naturwissenschaften und vor allem über den Aufbau und die Funktion eines höheren Organismus in Gesundheit und Krankheit in meinen eigentlichen Beruf hineingekommen; auch der oberflächlichste Kenner meiner Werke weiß, daß ich hier die leitenden Gedanken meiner Lebensarbeit fand, wie sie vor mir die zahlreichen Ärzte gefunden haben, die in der Geschichte der Gesellschaftswissenschaft Epoche gemacht haben: ein Bernard de Mandeville, ein Francois Quesnay, ein Charles hall, ein Thompson, ein Viktor Aimé Huber und andere.

Mein Drang nach einer befriedigenden Tätigkeit führte mich zunächst auf einen Seitenweg. Ich hatte eine gewisse Fähigkeit der Sprachbeherrschung auch in gebundener Rede und bildete mir eine Zeitlang ein, daß ich zum Dichter geboren sei. Durch meine nahe Beziehung zu Dehmel und Detlev v. Liliencron, der mir bis zu seinem Tode ein lieber Freund war (ich habe ihm zu seinem 50. Geburtstage ein heute vergriffenes Büchlein gewidmet) war ich ein leidenschaftlicher Anhänger der jungen Literatur und selbstverständlich Mitglied der »freien Bühne« geworden. Hauptmanns Revolutionsdramen »Vor Sonnenaufgang« und vor allem »Die Weber« regten mich mächtig auf und an; auch Otto Erich Hartleben, dessen Hausarzt ich eine Zeitlang war, drängte mit seinem verstandeskühlen, lächelnden, sympathischen, halb anarchistischen Sozialismus in der gleichen Richtung. Dagegen hat der Dichter-Anarchist Mackay, den ich etwas später im Hause von Ludwig Pietsch, dem einzigen wirklichen »Salon« des damaligen Berlin, kennenlernte, keinen Einfluß auf mich gewonnen.

Ich hatte als Vierundzwanzigjähriger eine kleine Dichtung in Terzinen veröffentlicht: »Der Weg zur Liebe«. Dann gelang es mir Ende 1893, ein Drama »Föhn« in einer der Matinéen aufführen [S. 78] zu lassen, die das Residenztheater unter der Leitung Lautenburgs auf die Anregung von Paul Block in jener Zeit den jung aufkommenden Dramatikern widmete. Das Stück gefiel dem Publikum und der Kritik leidlich; aber es fanden gerade diejenigen Szenen Beifall, an denen mir am wenigsten gelegen war, während umgekehrt diejenigen, in denen ich etwas Entscheidendes zu sagen geglaubt hatte, eben nur geduldet wurden. Ich erkannte damals mit mitleidloser Klarheit, daß ich kein Dichter sei, und zog mit Entschlossenheit die Konsequenzen. Ich habe nie wieder eine Szene geschrieben.

Der schwere Entschluß wurde mir durch zwei Dinge erleichtert: erstens hatte ich in dem dauernden, innig freundschaftlichen Zusammenleben mit meinem Schwager und Jugendfreunde Richard Dehmel die Möglichkeit, meine rein formale Begabung mit dem wirklichen Genie eines geborenen Dichters zu vergleichen, und ich war nicht gesonnen, mich Dingen zu widmen, die andere wesentlich besser machen konnten als ich; zweitens aber erfuhr ich gerade in jener kritischen Zeit den gewaltigen Eindruck, der mein Leben und meine wissenschaftliche Laufbahn endgültig entschied. Es war die Berührung mit dem jungen Sozialismus der damaligen Zeit.

Ich wurde völlig unvorbereitet von diesem mächtigen Gedanken getroffen. Meine Eltern waren gut fortschrittlich gesinnt gewesen; aber selbst diese unendlich freien und geistigen Menschen wußten nichts anderes vom Sozialismus, als was die freisinnigen Zeitungen darüber schwätzten. Während es sonst wohl kaum eine geistige Bewegung der ganzen Zeit gab, die nicht bis in mein Elternhaus ihre Wellen geschlagen hatte; während ich als werdender Jüngling keine Frage stellen konnte, auf die meine Eltern nicht die Antwort gehabt, oder, wenn sie selbst sie nicht geben konnten, beschafft hätten: war von ökonomischen und sozialen Dingen in diesem Hause der reinen Geistigkeit, das mit wirtschaftlichen Problemen niemals in Berührung geriet, nicht im entferntesten die Rede. Selbst die großen Namen des damaligen Sozialismus waren mir bis zum Ausgang meiner Studienzeit gänzlich unbekannt. Mein Jugendfreund Georg Adler, der verstorbene Kieler Professor, hat mich in späterer Zeit lachend daran erinnert, daß ich einmal in seinem Studierzimmer einen Band von Proudhon fand und den Namen, den ich für einen englischen hielt, als »Prauden« aussprach. Wir waren Kulturkämpfer: für die Entwicklungslehre gegen die Kirchlichkeit, und politische Kämpfer: für die Freiheit [S. 79] gegen den Absolutismus, aber vom sozialen Kampf wußten wir buchstäblich nichts. Unsere Stellung gegenüber der arbeitenden Klasse war die der Bourgeoisie: Bewußtsein einer unüberbrückbaren Distanz, ein gewisses humanes Wohlwollen selbstverständlich, aber doch der absolute Mangel gewissensmäßiger Hemmungen, namentlich auch, wie ich leider gestehen muß, im Verhältnis zu den Frauen der Unterklasse. Auch wir Söhne der freisinnigen Häuser standen damals noch ganz unter dem Gruppenideal der in Deutschland noch allmächtigen feudalen Oberklasse, dem sogenannten »Husarenideal«: in einer Stunde drei Meilen Galopp, drei Flaschen Wein und drei Mädchen! Dieser Geist beherrschte auch die Burschenschaft, deren Mitglied und »Renommierfechter« ich war.

Diese selbstgewisse Einstellung wurde allmählich immer mehr untergraben, bis ihr tragender Pfeiler einstürzte. Schon die Erfahrungen meiner jungen Praxis mußten einen Mann von einigermaßen guter Gesinnung an der Gottgewolltheit der Ordnung, in der er lebte, irremachen. Ich hatte unzählige Male Totenscheine für Säuglinge auszuschreiben, die, ehe der Arzt gerufen werden konnte, urplötzlich der Geißel der Großstädte, der Sommerdiarrhöe, erlegen waren. Jetzt kannte ich die Ursachen: verdorbene Milch und überhitzte Mietskasernen, und die Erinnerung an mein heißgeliebtes Brüderchen, das ich verloren hatte, schärfte mir das Auge und das Gewissen. Ich hatte ferner als geschickter Geburtshelfer bei Mädchen und auch bei Ehefrauen eine Unzahl von Aborten zu behandeln, von denen ich selbstverständlich erkannte, daß sie durch verbotene Eingriffe herbeigeführt waren. Und vor allen Dingen: als Arzt in einer, von der ärmeren Bevölkerung bewohnten, Berliner Vorstadt sah ich viele Fälle von Schwindsucht, und gerade in jene Jahre fiel die Erkenntnis, daß die Tuberkulose eine bei rechtzeitigem Eingreifen gut heilbare Infektionskrankheit ist. Ich wußte, daß ich diesen Familienvater oder diese Mutter zahlreicher Kinder hätte retten können, wenn es möglich gewesen wäre, sie lange genug den Schädigungen des Berufs zu entziehen und in guter Luft und bei guter Nahrung zu pflegen - und mußte sie sterben lassen! Tag für Tag sah ich mit immer wachsendem Verständnis und immer größerem Entsetzen in das Medusenantlitz der sozialen Frage.

Inzwischen hatte sich aber auch das Milieu, in dem ich lebte, grundstürzend geändert. Ich kam mit jungen Leuten zusammen, [S. 80] die von der hoch aufrauschenden Welle des jungen Sozialismus zu Höhen getragen wurden, zu denen ihr eigener Geist sie nie hätte emporgelangen lassen. Einige, so namentlich den uns sehr lieben Gustav Landauer, den edelsten der Märtyrer, lernte ich durch meinen Bundesbruder und Leibfuchs Richard Dehmel kennen, der 1888 mein Schwager geworden war; seine leidenschaftlichen Verse flogen der Revolution auf jedem Gebiete des Lebens, bis zur sozialen Frage jener Zeit, wie ein Banner voran. Andere junge Sozialisten lernte ich in dem sogenannten »ethischen Klub« kennen.

Julius Bab hat diesen merkwürdigen Diskussionsklub in seiner ansprechenden Skizze »die Berliner Bohême« einigermaßen zutreffend geschildert. In einem Bierkeller der Friedrichsstadt kamen allwöchentlich einmal eine Anzahl junger Brauseköpfe unter Vorsitz des kränklichen aber gütigen und taktvollen jungen Rechtsanwalts Dr. Mühsam zusammen. Einer hielt einen Vortrag über irgendein literarisches oder soziologisches oder politisches Thema (ich z. B. über das damals Aufsehen erregende Buch »Rembrandt als Erzieher«), und dann begann die Redeschlacht. Dort habe ich nicht nur die gewaltigsten Anregungen erhalten, sondern auch zu debattieren gelernt. Es ist merkwürdig, welche Anziehungskraft diese kleine Gruppe, die keine Statuten, keinen Vorstand, keine Beitragszahlungen, keine Geschäftsordnung, kurz, nichts hatte, was an einen Verein erinnert, auf die bedeutenderen Köpfe der damaligen jungen Generation ausübte. Zu den regelmäßigen Besuchern der ersten Zeit gehörten z. B. Bruno Wille, Wilhelm Bölsche, Julius und Heinrich Hart, Otto Erich Hartleben, Türck, einer der Begründer der freien Volksbühne, Felix Holländer, der Romancier und Dramaturg, Karl Ludwig Schleich, einer meiner liebsten Jugendfreunde - er hat, nebenbei gesagt, meinem Elternhause in seinen Memoiren »Besonnte Vergangenheit« ein schönes Denkmal gesetzt - dann Karl Peters u. a. Einige Male tauchten Gerhard Hauptmann und sein Intimus Moritz Heymann in unserem Kreise auf. Hier zuerst erfuhr ich, daß der Sozialismus mehr ist als der »Sklavenaufstand« der durch eigene Schuld Armen; ich hatte namentlich von Bruno Willes geistiger Haltung und gütiger Persönlichkeit den stärksten Eindruck; ich schämte mich ehrlich meiner Unwissenheit, und er war es, an den ich mich mit der Bitte wandte, mir durch Empfehlung einiger Bücher den Weg zum Verständnis zu eröffnen. Soviel ich mich entsinne, empfahl er mir Bebels »Frau« als Erstlingslektüre.

[S. 81] Ich wurde überzeugter Sozialist - in bezug auf das Ziel! Aber die sozialdemokratische, marxische Lösung des Problems war mir nicht überzeugend. Ob es die aus meinem Elternhause mitgebrachte Klasseneinstellung war, die mich die Freiheit in allen ihren Formen als das höchste Gut zu betrachten gelehrt hatte, oder ob es schon damals halb unterbewußte Kritik gewesen ist, kann ich nicht sagen. Jedenfalls war mir die Konzeption dieses »Zukunftsstaates«, der das ganze Leben seiner Bürger von einer Zentralstelle aus beherrscht, im tiefsten Grunde meines Herzens zuwider, und ich suchte nach einer anderen Lösung. Es war mir beschieden, auf den Weg dazu geführt zu werden: ich verkehrte damals wie ein eigenes Kind im Hause eines hochgebildeten Ehepaares. Der Hausherr, Dr. Lewinstein, hatte eines Sprachfehlers wegen die akademische Laufbahn - er war Privatdozent für Chemie in Heidelberg - aufgeben müssen. Er war ein nach dem damaligen Stande der Wissenschaft tiefgebildeter Volkswirt orthodox bürgerlicher Einstellung. Seine Gattin, aus vornehmster christlicher Patrizierfamilie Königsbergs, eine Frau hohen Geistes und reinsten Wollens, ganz in kantischer Strenge des Denkens und Wollens erzogen, versammelte allsonntäglich einen Kreis junger Freunde um sich. (Sie ist soeben, hochbetagt, gestorben, ist aber bis zu ihrem Tode in voller geistiger Frische und mir eine treue Freundin geblieben.) Auch hier wurde ein Vortrag gehalten und debattiert, aber der ganzen Geistesrichtung entsprechend mehr über philosophische als über andere Probleme. Hier hat sich der Sohn des Hauses, damals noch sehr jung, der später sehr bekannt gewordene Professor Georg Nikolai, die trotzige Liebe zur Gerechtigkeit erworben, die ihn sich während des Weltkrieges gegen die Allmacht der Generalität auflehnen ließ und zuletzt aus dem Vaterlande vertrieb. Und hier kam ich zuerst in Berührung mit dem Gedankenkreise des liberalen Sozialismus, wie ihn damals Theodor Hertzka vertrat.

Hertzka hatte bekanntlich in seinem Roman »Freiland« das Gedankenbild eines neuartigen Sozialismus entworfen, der dem autoritären Sozialismus der Marxisten die Spitze bot; eine Gesellschaft, in der die rationelle Gleichheit ohne Verzicht auf die wirtschaftliche und bürgerliche Freiheit als erreicht geschildert wurde. Überall in Deutschland und Österreich hatten sich Gruppen junger Leute gebildet, die entschlossen waren, dieses Ideal zu verwirklichen; mehrere von ihnen verkehrten in dem Hause meiner Freunde, [S. 82] unter ihnen Oehlke, der später der sehr streitbare Chefredakteur einer Breslauer freisinnigen Zeitung wurde, und seine Braut, eine Angehörige der Königsberger Patrizierfamilie Plehn. Auf ihre Anregung hin hörte ich Hertzka sprechen und trat der Berliner Ortsgruppe bei, die damals von dem prächtigen Landgerichtsrat Krecke geleitet wurde, einem Manne von bestem sozialen Willen und großer Schärfe des Geistes. Außerdem gehörte z. B. noch der Miterfinder des ersten Flugzeuges, der Bruder Otto Lilienthals, Gustav, zu der Gruppe dieser »Freiländer«, wie sie sich nannten, und Otto selbst erschien des öfteren in ihren Sitzungen.

Wir hatten in unseren Versammlungen scharfe Redekämpfe mit den übrigen Gruppen zu bestehen, die gleich uns, aber auf anderen Wegen, zum Endziel einer rationellen Gesellschaft strebten: mit Anarchisten verschiedener Richtung und vor allem mit den Sozialdemokraten. Ich hatte inzwischen manches gelesen: Adam smith, Marx´ »Kapital«, und vor allem Eugen Dührings berühmte Bücher, den »Kursus« und die »Geschichte der Nationalökonomie«, auf die mich Krecke hingewiesen hatte; von Dühring, der in der zweiten Auflage seines berühmten Buches die sozietäre Gesellschaft voll entwickelt hatte, war Hertzka offenbar aufs stärkste angeregt worden, wie Dühring selbst, das erkannte ich viel später, von Carey und John Stuart Mill auf der einen und den St. Simonisten auf der anderen Seite.

Als ein im »ethischen Klub« geübter Debatter und auf Grund meiner allmählich immer weiter greifenden guten Kenntnisse der ökonomischen Theorie wurde ich bald der Hauptverteidiger unserer Ideen im Kampfe gegen die marxistischen Parteileute und ward Mitleiter der Gruppe. Ich will sofort hinzufügen, daß ich in diesen bewegten Zeiten mit all den anderen vielen Gruppen und Grüppchen in Berührung kam, die zu unserem gemeinsamen Ziele marschierten. Ich habe mit dem Oberstleutnant von Egidy, mit meinem alten Freund Adolf Damaschke von den Bodenreformern, mit den Männern von der ethischen Kultur und anderen so manchen ehrlichen Strauß ausgefochten, zuweilen gegeneinander, zuweilen verbündet gegen den gemeinsamen Gedankengegner, den Marxismus.

Ich war nur mit halbem Herzen Anhänger Hrtzkas. Die Grundkonstruktion, die er seiner Gesellschaft gab, leuchtete mir ein; ich halte sie heute noch für eine geistige Leistung von höchster Bedeutung, die ich allerdings mehr Dühring als Hertzka zuschreibe. Aber seine Absicht, dieses Gemeinwesen weit jenseits der Grenze [S. 83] aller Kultur, in Zentralafrika, in einem der Hochtäler des Kenia, dem »Niemannsland« zu verwirklichen, empörte den Naturwissenschaftler in mir: natura non facit saltum; ich fühlte deutlich, daß hier das utopische Element steckte, da ich auch von der Kultur keine Sprünge vorauszusetzen imstande war. Noch ehe die von Hertzka nach Ostafrika entsandte, völlig ungenügend ausgerüstete Expedition zu ihrem Glück schon an der Küste daran gescheitert war, daß die Engländer ihr die Weiterreise ins Innere verweigerten, quälte ich mich mit dem Bemühen, den Ausgang aus der Gedankenverschlingung zu finden, auf der Hertzka seine merkwürdigen Pläne aufgebaut hatte.

Seine Gründe dafür waren unmittelbar einleuchtend und schienen völlig unwiderlegbar. Er sagte erstens, daß bisher sämtliche Versuche einer produktiv-genossenschaftlichen Organisation gescheitert seien; wollte man aber den aussichtslosen Versuch dennoch wagen, und sollte er wider Erwarten glücken, so würde allenfalls eine kleine »freiländische« Siedlung im alten Kulturland zur Blüte gebracht werden können; aber sie würde niemals zu wirklicher Größe heranwachsen und nie über die privatwirtschaftliche Hebung ihrer Mitglieder hinaus zu wirklich sozialökonomischer Bedeutung gelangen können. Denn in der Nachbarschaft einer solchen, der Voraussetzung nach erfolgreichen und wohlhabenden Siedlung würde die Grundrente schnell wachsen und sie ab- und einschnüren, so daß sie über eine gewisse Größe nicht hinausgelangen könnte. Deswegen sei es nötig, in einem weiten herrenlosen Gebiete zu beginnen, in dem man von vornherein das ganze Land für die Gemeinschaft in Anspruch nehmen und derart dem privaten ausschließenden Grundeigentum entrinnen könnte.

Über diese Dinge dachte ich rastlos nach, bis mir in einer unvergeßlichen Nacht Ende 1893 wie ein Blitz die Erkenntnis kam: Hertzkas Annahme ist falsch; in der Nachbarschaft solcher Siedlungen muß die Grundrente, anstatt zu steigen, im Gegenteil fallen! Denn hier wird der Lohn hoch stehen, da kein Kapitalismus Abzüge vom Arbeitslohn erpreßt; ferner ist hier, wenn die Anlage nur nicht allzu klein ist, steigende Arbeitsgelegenheit für Neuankömmlinge vorhanden: folglich wird die Siedlung den Nachbarn die Arbeiter fortsaugen und sie zwingen, mindestens die gleichen Löhne zu zahlen. Steigender Lohn aber bedeutet sinkendes arbeitsloses Einkommen aus Grundrente und Profit!

[S. 84] Diese Erkenntnis wirkte in der Tat auf mich wie ein Blitz. Wie man in dunkler Nacht im Gebirge in einem Wetterleuchten eine ganze Kette von Gipfeln und Gletschern vor sich sieht, so sah ich damals in einem einzigen Augenblick die ganze Arbeit meines Lebens scharf vorgezeichnet vor mir. Es war die Sekunde dessen, was die alte Mystik die »Gnadenwahl« nannte. Mit war die Aufgabe meines Lebens gestellt, und ich habe seit jenem Augenblick ohne Ende an ihr geschafft; ich habe zuweilen heftig gegen den Stachel gelöckt, wenn die Last allzu schwer auf meine Schultern drückte, wenn ich in harter und so lange völlig widerhalloser Arbeit bis zum Zusammenbruch ermüdet war. Aber dieselbe Macht, die jenen Gedanken in mich geworfen hatte, hat mich weiter und weiter getrieben, und ich darf es heute gestehen: der Stunde der Seligkeit des Erkennens waren unsagbar viel mehr als der Stunden der Qual, des Zweifels und fast der Verzweiflung.

Ich hatte in jener blitzartigen Erkenntnis den Faden ergriffen, der mich durch das Labyrinth der Tatsachen geführt hat. Ich hatte das Gesetz des Lohnes und des Mehrwertes gefunden: der Lohn hatte sich mir enthüllt als der volle Arbeitsertrag, gekürzt um eine Steuer, die der Bodenbesitz dem Arbeiter aufzuerlegen imstande ist. Von hier aus war der Weg bis zur letzten Erkenntnis, bis zur Lösung der letzten Probleme noch unendlich weit, und es hat mehr als ein Vierteljahrhundert gedauert, bis ich ihn zu Ende gegangen war. Aber das Ziel war unverkennbar bezeichnet und die Richtung des Weges im großen und ganzen unverkennbar erkannt.

Glühend vor Eifer setzte ich mich an die Arbeit und schrieb 1894 mein erstes kleines ökonomisches Buch, eine Broschüre »Freiland in Deutschland«. Wenn ich es heute wieder zur Hand nehme, bin ich erstaunt und fast entsetzt, zu sehen, mit welcher fast nachtwandlerischen Sicherheit ich mich damals auf dem schmalen Grat zwischen den Abgründen zu halten wußte, obgleich mein wissenschaftliches Gepäck wahrlich noch überaus leicht war. Das Büchlein enthielt viele meiner leitenden Gedanken zur Theorie und im wesentlichen auch zur Praxis. Ich schlug vor, den Kapitalismus durch die Errichtung von Siedlungen anzugreifen, die weiträumig genug angelegt wären, um durch Intensivierung des landwirtschaftlichen Betriebes und durch Heranziehung städtischer Elemente den benachbarten Großgrundbesitzern und Kapitalisten ihre Arbeiter abzusaugen und sie auf diese Weise zu zwingen, höhere Löhne zu [S. 85] zahlen; und das heißt: auf einen Teil ihres Mehrwerts nach dem anderen zu verzichten, bis dieser verschwunden, und das Ideal des vollen Arbeitsertrages erreicht sei. Der Weg ging also über die landwirtschaftliche Arbeiterproduktivgenossenschaft zur Siedlungsgenossenschaft und zum länderüberspannenden Bund der Siedlungsgenossenschaften.

Ich halte diesen Weg der Lösung nach wie vor nicht nur für richtig, sondern für die einzige Möglichkeit, das große Problem zu lösen, ohne durch so grauenhafte Erschütterungen mit so viel nutzloser Vergeudung von Gut und Blut schreiten zu müssen, wie sie die russische Sowjetrevolution mit sich geführt hat. Der Erfolg des Büchleins war zunächst nur der, daß ich Hertzkas Anhängerschaft völlig auseinandersprengte. Der größere Teil trat zu mir über; Hertzka selbst hat meines Wissens niemals eine Erwiderung versucht. Als ich ihn fast 30 Jahre später wiedersah - ich hatte ihn gehört, war ihm aber nie vorgestellt worden - hat er es gleichfalls vermieden, sich auf diese letzten grundsätzlichen Probleme einzulassen, war aber überaus freundschaftlich und voller Hochachtung. Vor einigen Jahren ist er hochbetagt zur letzten Ruhe eingegangen, ebenso wie Eugen Dühring, den ich niemals persönlich auch nur gesehen habe. Er lebte als fast menschenscheuer Einsiedler in Nowawes; er war bekanntlich fanatischer Antisemit, und ich hatte keine Neigung, mich einer Abweisung auszusetzen und mir das Bild eines Denkers zu verderben, der jedenfalls einmal ein gewaltiger Kopf gewesen war.

Ich versuchte, für eine genossenschaftliche Siedlung im Kreise unserer Freunde die nötigen Geldmittel aufzutreiben. Zu diesem Zwecke wurde eine Genossenschaft gegründet. Es erging mir wie Proudhon mit seiner Volksbank! Die Mittel reichten bei weitem nicht hin, und ich löste nach einigen Jahren die Genossenschaft auf und zahlte die Anteile zurück. Aus unserem Kreise sind auch noch andere Genossenschaften hervorgegangen: ein Konsumverein »Hilfe«, der gegen meinen Rat das siegreiche Prinzip der Pioniere von Rochdale verließ, zunächst möglichst hohe Dividenden herauszuwirtschaften, und infolgedessen so klein blieb, daß er gar nichts zu leisten imstande war. Er mußte ebenfalls nach einiger Zeit wieder liquidiert werden. Ferner eine kleine Baugenossenschaft »Eigene Scholle«, um die sich besonders Gustav Lilienthal, der Baumeister war, bemühte. Auch sie hat keine wesentlichen Erfolge erzielt; dann war ein Mitglied unseres Kreises, ein gewisser Hülsen, [S. 86] beteiligt an dem sogenannten »Sozialreformatorischen Genossenschaftswesen«, das ein hoher Beamter, namens von Broich, vorwiegend mit Hilfe einiger Pastoren inaugurierte. Voll geglückt sind von all diesen Unternehmungen nur zwei: zuerst die Hamburger Konsum-, Produktiv- und Bau-Genossenschaft »Produktion«, an deren Aufbau unsere Gedanken mitgewirkt haben, namentlich durch die Vermittlung meines alten verehrten Freundes Raphael Ernst May, eines Mannes, der sich als Statistiker einen wohlverdienten Namen gemacht hat. Von einigen Mitgliedern unserer Hamburger Ortsgruppe stark angeregt, unter Mitwirkung von Krecke und mir selbst, stellten sich dort die starken freien Gewerkschaften hinter den Gedanken und brachten das Unternehmen schnell zu der bekanntlich sehr großen Blüte.

Nicht so sensationell, aber viel bedeutungsvoller war eine erste Siedlung, die gleichfalls aus unserem Kreise angeregt wurde: die heute noch blühende Obstbausiedlung Eden bei Berlin-Oranienburg. An der Ausarbeitung ihres Statutes waren wieder Krecke und ich stark beteiligt; außerdem hat ein gewisser Sponheimer, der ebenfalls unserem Kreise nahestand, mitgewirkt. Die Gründer waren Vegetarianer und Lebensreformer. Trotzdem sie auf dem schlechtesten Sandboden begannen, der existiert, und nur sehr wenig von Obstbau und Gartenkultur verstanden, haben sie ihre Siedlung zu einer prächtigen Entwicklung geführt; ich habe in meinem Aufsatz »Die Utopie als Tatsache« (neu abgedruckt in der 1924 erschienenen Sammlung meiner Reden und Aufsätze, »Wege zur Gemeinschaft«) diesen Erfolg gebührend gewürdigt. Hygienisch und sittlich ein Erfolg, der jeden Skeptiker beschämen muß, die niedrigste Säuglingssterblichkeit der Welt (3,8% gegen 18 - 24% im gleichzeitigen Gesamtdeutschland); Schulkindersterblichkeit und Kriminalität Null!

Ich will hier sofort vorgreifend bemerken, daß ich den Gedanken der praktischen Verwirklichung meiner Siedlungsgenossenschaft niemals aufgegeben habe. Im Jahre 1905 glaubte ich am Ziele zu stehen. Es gelang meiner rastlosen Propaganda, unter sozial gesinnten wohlhabenden Freunden etwa eine Viertelmillion Mark für den Zweck aufzutreiben. Ich verdankte diesen Erfolg vor allem meinem Freunde J. Stern, einem der größten Kaufleute Deutschlands, dem Begründer und langjährigen Leiter der Spirituszentrale, einem Manne, der von Jugend auf grundsätzlicher sozialer [S. 87] Reform zugewandt gewesen war, der in seinem eigenen großen Betrieb musterhafte Wohlfahrtseinrichtungen geschaffen hatte, der weiterhin an der Begründung der Gewerkschaftsbank an hervorragender Stelle tätig war. Er hatte als Spritfabrikant weitreichende Beziehungen zur Groß-Landwirtschaft und stand kraft dieser Sachkenntnis dem Gedanken nicht mit der hilflosen Skepsis gegenüber, die die nur industriell eingestellten Kapitalisten allen Unternehmungen in der Landwirtschaft entgegenzubringen pflegen.

Das Unternehmen hatte keinen Erfolg. Es wäre falsch, zu sagen, daß der Versuch »gescheitert« ist: er konnte nicht einmal begonnen werden! Die Sachverständigen, auf die ich mich verlassen mußte, waren auf ein Gut (Wenigen-Lupnitz bei Eisenach) hereingefallen, dessen Bodenqualität sie ungeheuer überschätzten. Sie glaubten, den sehr schweren Tonboden durch Drainage zu hoher Ertragsfähigkeit bringen zu können; aber es stellte sich heraus, daß die Drainage nicht »zog«, weil der Ton zu feinschlämmig war, als daß sich die Kapillaren hätten bilden können. Eine ununterbrochene Reihe von höchst unglücklichen Witterungsperioden kam dazu, und so mußte sich die von mir gegründete Gesellschaft, deren Mittel erschöpft waren, entschließen, das erste einigermaßen annehmbare Angebot anzunehmen und den Versuch aufzugeben. Immerhin konnte der weitaus größte Teil des Kapitals zurückgezahlt werden. Ich habe über das Unternehmen in der »Sozialen Praxis« 1908 unter dem Titel: »Ein gescheitertes sozialpolitisches Unternehmen« berichtet; der Aufsatz ist in meinen »Wege zur Gemeinschaft« S. 253 ff. abgedruckt.

Obgleich in diesem Falle nur Unkenntnis oder Böswilligkeit von einem Mißerfolg des Gedankens reden könnte, hieß es doch überall: die Oppenheimersche »Utopie« sei gescheitert. Und es dauerte 13 Jahre, bis es mir gelang, die erforderlichen Mittel für einen neuen Versuch aufzubringen. Mein inzwischen zu meinem Schmerze verstorbener Freund Jakob Christian de Wijs, ein durchaus nicht reicher holländischer Reeder, stellte mir im März 1920 eine Million Papiermark zur Verfügung. (Ich habe ihm und seiner prächtigen Gattin, Lizzi de Wijs, den zweiten Halbband meiner Theorie der reinen und politischen Ökonomie in herzlicher Dankbarkeit gewidmet.) Der damalige Landwirtschaftsminister, Otto Braun, gewährte einer von mir zu gründenden gemeinnützigen Siedlungsgesellschaft die Option auf das ehemalige Remontegut Bärenklau, das etwa 30 km nordwestlich von Berlin [S. 88] zwischen den beiden Städten Oranienburg und Velten gelegen ist. Meine alten Freunde von der Obstbausiedlung Eden, die für ihren jungen Nachwuchs breitere Ansiedlungsmöglichkeiten brauchten, als ihnen ihr winziger Besitz gewährte, brachten aus eigenen Mitteln und ihrem Kredit die erforderlichen weiteren zwei Millionen Papiermark auf, und so konnten wir am 1. Juli 1920, zunächst als Pächter, aber mit der verbürgten Zusicherung der Auflassung des Gutes zu Eigentum, die Wirtschaft übernehmen. Ich konnte die Oberleitung dieses Mal in die bewährtesten Hände legen: die landwirtschaftliche in die meines alten Schülers und Freundes Salomon Dyk, eines der ersten Landwirte Deutschlands, der sich als Begründer des Industriegutes Messingwerk bei Eberswalde einen internationalen Namen gemacht hat; die siedlungstechnische und finanzielle Leitung in die meines alten Freundes Otto Jackisch, des »Bismarck« von Eden, der seine Genossenschaft fast ein Menschenalter hindurch durch alle Klippen und Wirbel zu steuern verstanden hat. Trotzdem das Gut arg vernachlässigt war, trotzdem uns gleich am dritten Tage eine Scheune mit der gesamten Ernte und der Dreschmaschine durch einen Blitzschlag eingeäschert wurde, trotzdem die Auflassung durch alle möglichen bürokratischen Bedenklichkeiten fast zwei und ein halbes Jahr verzögert wurde, trotzdem die Feindseligkeit der Nachbarn gegen die »Judenwirtschaft« und unerträgliche Schikanen seitens mehr untergeordneter Beamter uns die allergrößten Schwierigkeiten machten, trotzdem wir schließlich mit einem überaus geringen Betriebskapital zu arbeiten haben, ist die Siedlung doch bisher sehr befriedigend gediehen. Sie hat die schwere Inflationsperiode und die noch schwereren Kreditschwierigkeiten der letzten Zeit überwunden. Das Gut ist heute als Musterwirtschaft zu bezeichnen; seine Erträge an Korn und Kartoffeln haben sich, berechnet auf die Fläche, etwa verdoppelt, der Gesamtertrag an Brotkorn hat sich etwa verdreifacht, der an Kartoffeln etwa verfünffacht; es sind sehr gute Ernten an Zuckerrüben erzielt worden, die früher niemals dort angebaut worden sind; an Stelle der sieben »Leutekühe«, die wir vorfanden, stehen jetzt über 60 Gutskühe und 17 »Leutekühe« und eine große Anzahl von Jungvieh in den Ställen, das Gut hat elektrische Anlage, Mühle und Brotbäckerei erhalten; 17 Morgen Handelsgarten und Baumschulen wachsen ihren Erträgen entgegen; es sind 14 prächtige Arbeiterwohnungen neu gebaut und mehr als 20 Siedlerstellen ausgelegt worden, die schon zum großen Teil in vollem Betriebe [S. 89] sind. Die Siedlung steht mithin jetzt in ihrem neunten Jahre, während mir immer prophezeit worden war, daß ich binnen sechs Wochen, höchstens sechs Monaten bankrott sein würde.

Jenem mißglückten und diesem geglückten Versuch steht ein dritter zur Seite, den ich im Auftrag der zionistischen Partei im Jahre 1911 in Merchawja (Gottes Weite) im nördlichen Palästina in der Nähe von Haiffa begann: ein moderner Großbetrieb mit gewinnbeteiligter Arbeiterschaft, der in der ersten Zeit ebenfalls unter der Leitung meines Freundes Dyk stand. Hier war ich des Erfolges, wie ich ausdrücklich jeder Zeit ausgesprochen hatte, nicht sicher gewesen. Denn es handelte sich darum, in einem Lande mit wenig bekannten natürlichen Bedingungen nicht nur eine neue Art des Betriebes, sondern auch der Arbeitsverfassung einzuführen, und zwar mit einer Belegschaft von Arbeitern, die wohl den besten Willen, aber keine oder fast keine fachliche Vorbereitung besaßen. Ich hätte bei weitem vorgezogen, den Muster- und Mutterversuch in Europa zu machen, und Theodor Herzl, der meine Bedenken würdigte, war bereit gewesen, einen solchen Plan zu fördern. Leider machte sein allzu früher Tod all dem ein Ende, und ich sah mich moralisch gezwungen, den bedenklichen Versuch zu wagen. Dennoch kann er nicht als mißlungen bezeichnet werden. Trotzdem die Arbeiter, zumeist Russen, trotz aller Anhänglichkeit an meine Person sich nicht von ihren überlieferten heimatlichen Anschauungen in bezug auf den »Klassenkampf« losmachen konnten und in dem Administrator dieses durchaus gemeinnützigen Unternehmens den »kapitalistischen Unternehmer« oder gar »Schweißtreiber« witterten; trotzdem ihre nationalistische, ja chauvinistische Einstellung gegenüber dem Araberproblem große Schwierigkeiten herbeiführte und beträchtliche unnötige Kosten veranlaßte; trotzdem der Boden auch hier nicht entfernt die Qualität besaß, die die Sachverständigen des Einkaufs angenommen hatten: trotz alledem hat das Unternehmen ungefähr acht Jahre aufrecht gestanden, und zwar in einer Notzeit, in der jedes private Großgut gnadenlos zusammengebrochen wäre. Fast vom Moment der Gründung an lag die Türkei im Kriege zuerst mit den Griechen, dann mit dem Balkanbund, dann mit der Entente. Das Gut litt schwer unter Einquartierungen und Requisitionen von Korn, ja sogar von Saatgut und Arbeitstieren, unter der Rekrutierung von Arbeitern mit türkischer Nationalität und unter der Internierung solcher von feindlicher Nationalität; und die Genossenschaft [S. 90] löste sich dennoch nur auf aus einem von mir vorausgesehenen und vorausgesagten Grunde. Ich hatte gewußt, daß es unmöglich ist, eine solche Unternehmung mit verheirateten Arbeitern durchzuführen, wenn nicht jede Familie ihre eigene Wohnung, womöglich mit eigenem Eingang von der Straße her besitzt: im anderen Falle sprengen die Zwistigkeiten der Frauen jede Genossenschaft. Merchawja, das mit einem Stamm lediger Arbeiter begonnen hatte, hatte nicht die Mittel, während des Weltkrieges die nötigen Arbeiterwohnungen zu errichten, und so kam es, als die jungen Leute sich allmählich beweibten, zu den von mir vorausgesehenen Schwierigkeiten und Zwistigkeiten, die die Genossenschaft schließlich zur Auflösung brachten. Im übrigen wird das Gut heute von einer neu gebildeten, leider kommunistischen, Arbeitergenossenschaft bewirtschaftet, die ein für palästinensische Verhältnisse nicht ungünstiges Gedeihen aufweist.

Ich kehre zur Schilderung meiner Laufbahn zurück. Teils aus wissenschaftlichem Bedürfnis, namentlich aber in der Absicht, die Mittel für einen praktischen Versuch mit meiner Siedlungsgenossenschaft zu gewinnen, beschloß ich, mich mit einem größeren Werke an die breite Öffentlichkeit zu wenden. Es galt, eine Geschichte und Theorie des Genossenschaftswesens zu schreiben, um die landwirtschaftliche Produktivgenossenschaft entgegen der herrschenden Lehrmeinung als möglich zu erweisen. Ich wandte mich an einen unserer Gruppe nahestehenden Fachmann des Genossenschaftswesens, Dr. Karl Munding, den verdienstvollen Herausgeber der Werke Viktor Aime Hubers. Am 30. März 1895, meinem Geburtstage, erhielt ich von ihm die erbetene Nachricht: die Titel einiger Schriften über Genossenschaftswesen, und machte mich sofort an die Arbeit.

Eine Zeitlang ließ sie sich noch mit meiner nicht sehr großen und nicht sehr anstrengenden Praxis als Spezialarzt vereinigen. Aber diese Vereinigung erwies sich bald als aus sittlichen Gründen unmöglich. Ich war von meiner Arbeit so vollkommen hingenommen, so im eigentlichen Sinne des Wortes »besessen«, daß ich das menschliche Interesse für meine Kranken verlor. Da ich rastlos arbeitete, war mir jeder in meiner Sprechstunde erscheinende Patient so etwas wie eine unliebsame Störung. Das Gewissen zwang mich, zu wählen.

Ganz leicht war die Wahl nicht. Ich hatte mich inzwischen verheiratet, war Vater eines Kindes und hatte für meine Familie [S. 91] zu sorgen. Aber schon hatte sich mir ein Notausgang eröffnet. Eine Berliner Feuilletonkorrespondenz hatte 1893 zwei Preise von je 500 Mark ausgesetzt für ein Feuilleton und eine Novellette, beide über das Thema »Norddeutsch und Süddeutsch«. Ich beteiligte mich an beiden Konkurrenzen; die Beiträge waren mit verschiedener Schrift geschrieben und hatten verschiedenes Kennwort. Ich bekam beide Preise. - Es war eine kleine Sensation im Kreise der Berufsschriftsteller, daß ein bisher völlig unbekannter Außenseiter einen derartigen Erfolg hatte. Damit war ich ganz ohne meinen Willen plötzlich zum »Schriftsteller«, mindestens im Nebenberuf, geworden. Die Familienblätter bestürmten mich um Beiträge; auch die Tageszeitungen nahmen bereitwillig gelegentliche Aufsätze von mir an. Unter anderem schrieb ich im gleichen Jahre 1893 für die Vossische Zeitung »Wanderbriefe aus Tirol«, die sich viele Freunde erwarben. Sie sind dann zusammengefaßt unter dem Titel »Die Ferienwanderung« im Verlage Fontane erschienen. Ich habe auch später in dieser und anderen Zeitungen Schilderungen meiner Reisen veröffentlicht, die mich zumeist ins Hochgebirge führten. Ich war bis zu meinem Oberschenkelbruch von 1922 ein leidenschaftlicher und nicht ganz schlechter Hochsteiger, wenn ich auch niemals ganz schwere Touren führerlos zu machen imstande war. Ich habe in Tirol und der Schweiz in 30 Jahren zwischen 200 und 300 Spitzen erstiegen und mir hier immer wieder die Kraft und den Mut zu meiner Arbeit geholt. Mein Bruder Carl und später mein Vetter Adolf Nassau, jetzt Notar in Hagen, waren meine getreuen Kameraden durch viele Jahre.

Eine Reihe von Leitartikeln, die ich für Berliner politische Zeitungen der Linken, namentlich die Berliner Volkszeitung, geschrieben hatte, die damals unter Vollraths Leitung stand, machten mich als politischen Journalisten bekannt. Ich hatte mit alledem genug schriftstellerischen Einfluß und Absatz gewonnen, um zur Not bei starker Einschränkung meines Etats mit meiner Familie existieren zu können. Ich gab die Praxis ab, ging im Sommer 1895 mit Frau und Kind an den Starnberger See und schrieb dort binnen drei Monaten meine »Siedlungsgenossenschaft« im ersten Entwurf. Ich war immer noch ein krasser Außenseiter. Die erforderliche Literatur hatte ich mir dadurch beschafft, daß ich immer die, in den Anmerkungen der von mir benutzten Bücher angeführten, Werke aus der Bibliothek bezog und so ganz systemlos immer weiter kam. Ich habe erst nach Vollendung jener ersten großen Arbeit erfahren, [S. 92] daß es so etwas wie ein »Handwörterbuch der Staatswissenschaften« gibt, das mir viel bequemer und viel sicherer den Weg zum vorhandenen Schrifttum hätte öffnen können. Ich kehrte im Herbst nach Berlin zurück, las noch massenhaft neue Literatur und habe dann vom Anfang September bis Mitte Dezember das gewaltige Manuskript meiner Siedlungsgenossenschaft mit der einzigen Ausnahme des Schlußkapitels völlig neu geschrieben: in 70 Tagen 2000 Seiten Handschrift, 30 Seiten täglich, obgleich wenigstens die Hälfte der Handschrift immer wieder in den Papierkorb wanderte, um besserer Formulierung Platz zu machen. Ich erzähle das, um die »Besessenheit« zu schildern, mit der ich damals arbeitete.

Ich war sehr vom Glück begünstigt. Mit fast dem ersten Spatenstich, den ich in meinen neuen Acker tat, stieß ich auf die reichste Goldader, die in der Volkswirtschaftslehre angeschlagen worden ist, seitdem Adam Smith den Zusammenhang zwischen der Marktgröße, der Arbeitsteilung und der Produktivität der Volkswirtschaft erkannt hat.

Ich fand, daß die bestehende Einteilung der städtischen Genossenschaften in zwei Gruppen: die »distributive« mit sechs, und die »produktive« mit einer Organisationsform falsch sein mußte, weil die der ersten Gruppe zugeordnete Magazingenossenschaft ganz genau denselben prinzipiellen Lebenslauf aufwies, wie die Produktivgenossenschaft, während die übrigen fünf der ersten Gruppe wieder unter sich aufs nächste verwandt erschienen. Es zeigte sich denn auch, daß die scheinbar ideale, weil auf einer disjunctio completa beruhende, ältere Einteilung nur durch ein grobes Mißverständnis des Wortes »Distribution« hier angewendet worden war. Der wahre Unterschied enthüllte sich mir als der der Genossenschaften solcher Wirtschaftspersonen, die durch Kauf Waren vom Markte nehmen, um sie im inneren Kreise zu verteilen, einerseits, und andererseits der Genossenschaften solcher Wirtschaftspersonen, die im inneren Kreise Waren herstellen, um sie zum Verkauf auf den Markt zu bringen. Kurz: Genossenschaften von Käufern bzw. Verkäufern. Von hier aus führte der nächste Schritt zu einer bisher noch niemals vorgenommenen theoretischen Untersuchung: man hatte immer das Verhältnis eines Käufers zu einem Verkäufer, und der Gesamtheit aller Käufer einer Ware zu der Gesamtheit ihrer Verkäufer untersucht: aber niemals das Verhältnis eines Käufers bzw. Verkäufers zu den übrigen Käufern bzw. Verkäufern der gleichen Ware. Die Untersuchung führte zur Entdeckung [S. 93] einer sehr wichtigen neuen Erkenntnis: die Konkurrenz tritt in zwei verschiedenen Formen auf, als friedlicher Wettbewerb zwischen den Käufern, als feindlicher Wettkampf zwischen den Verkäufern der kapitalistischen Gesellschaft; oder mit anderen Worten: über den Käufergenossenschaften steht der berühmte sogenannte »genossenschaftliche Geist«, über den Verkäufergenossenschaften der ebenso berühmte »kapitalistische Geist«.

Diese Erkenntnis trug bald noch weiter. Es stellte sich heraus, daß die landwirtschaftliche Produktivgenossenschaft, im schärfsten Gegensatz gegen ihre industrielle Namensschwester, Verhalten und Lebenslauf der Käufergenossenschaft aufzeigt, obgleich es sich um Verkäufer handelt. Es ergab sich, daß der landwirtschaftliche Verkäufer genau so gelagert ist wie der städtische Käufer und seine Gruppe. Von hier aus wurde z. B. das auffällig feste Zusammenhalten landwirtschaftlicher Unternehmerverbände (z. B. des Bundes der Landwirte) verständlich im Gegensatz zu ähnlichen Versuchen, die industriellen und kommerziellen Unternehmer in gleicher Art zu organisieren (z. B. Hansebund).

Schließlich zeigte sich noch eine überaus interessante Tatsache. Die Zunft des hohen Mittelalters war zwischen etwa 1000 - 1370 n. Chr. eine Genossenschaft, die sämtliche Züge der Käufergenossenschaft aufwies, und schlug dann ziemlich plötzlich in eine charakteristische Verkäufergenossenschaft um. Die Deduktion hatte mir bereits 1896 ergeben, daß eine solche »Transformation« nur geschehen könne, wenn infolge der Sperrung des Grund und Bodens durch massenhaftes Großgrundeigentum eine starke Abwanderung in die Industriebezirke stattfindet, und hier eine »Reservearmee« unbeschäftigter Arbeiter sich der Exploitation der Kapitalisten darbietet und die krankhaft starke Expansion der Industrie erlaubt. Die Transformation der Zunft, von der ich 1896, als ich die »Siedlungsgenossenschaft« schrieb, noch nichts wußte, gab mir also die Möglichkeit, die Probe auf mein Exempel zu machen. Die Tatsachen bestätigten die Rechnung! Es zeigte sich in der Tat, daß um das Jahr 1000 in Deutschland das Großgutseigentum als solches verschwand und sich in die sozial harmlose »Großgrundherrschaft« umwandelte, daß aber von der Mitte des 14. Jahrhunderts an, allmählich von Ost und West vorschreitend, der, wie Knapp sagt, erste kapitalistische Betrieb der [S. 94] Neuzeit, der moderne Großgutsbesitz und -betrieb, sich immer weiter ausdehnte, bis er zur Sperrung des Bodens und massenhaften Abwanderung führte; der Sperrung des Bodens mußte auch die der Zunft folgen. Ich legte dieses Ergebnis in einem 1898 erschienenen Bande »Großgrundeigentum und soziale Frage, Versuch einer neuen Grundlegung der Gesellschaftswissenschaft«, nieder. Das Buch zerfällt in zwei Teile: der erste gibt in einer einzigen Kette von Deduktionen, getreu dem methodischen Prinzip der klassischen Ökonomik, zuerst die reine Ökonomie: das Gedankenbild einer Gesellschaftswirtschaft, die als entstanden und gereift gedacht ist ohne jeden Eingriff außerökonomischer Gewalt, in der es also vor allem kein Großgrundeigentum gibt. Es war dem Ideal »Freiland« ähnlich. Dann wird die Bodensperre in die Rechnung eingeführt, und die Deduktion ergibt nunmehr das bis in die letzten Einzelheiten genaue Bild der kapitalistischen Wirtschaft. Der zweite Hauptteil weist dann nach, daß die viel bewunderte Wirtschaft des frühen Mittelalters eben in jener Zeit von 100 - 1370 Zug um Zug und Punkt für Punkt in ökonomischer Hinsicht, trotz des Fortbestandes der politischen Standesunterschiede, der Deduktion entsprach.

Das Buch hat bis heute, auch in seiner zweiten, 1922 erschienenen Auflage, meines Wissens keine wissenschaftliche Kritik gefunden; trotzdem, oder vielleicht weil, es einen sehr scharfen sachlichen Angriff auf die historische Schule, die zur Zeit seines Erscheinens noch fast allmächtig die Universitäten beherrschte, darstellt. - Ich hatte ihr vorgeworfen, daß sie den Hauptwendepunkt ihres Hauptarbeitsgebietes um nicht weniger als 180 Jahre zu spät angesetzt hätte, weil sie weder die geschichtlichen, noch die ökonomischen Zusammenhänge richtig verstanden hätte. Nur eine einzige private Stimme ist mir zugegangen, ein Brief Karl Lamprechts, den ich in der zweiten Auflage im Vorwort abgedruckt habe. Er schreibt mir, daß ihm der von mir hergestellte Zusammenhang zwischen ländlicher und städtischer Bewegung als »evident« erscheine. Dem damals noch jungen unbekannten Autor durch eine Anzeige seines Geisteskindes ein wenig auf den Weg zu helfen, hat Lamprecht trotzdem nicht für erforderlich gehalten. Nach einer Mitteilung von Professor Julius Wolf hat er es abgelehnt, dem Buch eine Anzeige zu widmen.

Mit diesem Werke hatte ich endgültig den Anschluß an die Wissenschaft gefunden, der seither in immer steigendem Maße [S. 95] meine Bemühungen gegolten haben: der Soziologie. Das geht schon aus dem dem Buche gegebenen Untertitel klar hervor. In der Tat hatte sich mir ja eine Wahrheit erschlossen, die den Atem zu rauben imstande war. Zum ersten Male in aller Geistesgeschichte war es hier gelungen, das vollkommen typische und regelmäßige Verhalten ganzer Menschengruppen in streng mathematischer Art aus ihrer Lagerung abzuleiten, und zwar nicht nur von Städtern der Neuzeit, die in genossenschaftlichen Bindungen zusammentreten, sondern auch von modernen Landwirten und mittelalterlichen Zunftmeistern. Hier fiel Licht auf ein ganzes Gebiet der Geschichte, und ich bin heute noch ebenso sicher, wie vor 30 Jahren, daß es niemals möglich sein wird, die Geschichte der mittelalterlichen Städte und damit die des gesamten Deutschland und darüber hinaus des gesamten Westeuropa, das Aufkommen des Landfürstentums und des absoluten Staates einbegriffen, vollkommen zu verstehen, wenn man nicht die von mir durch gutes Glück aufgefundenen Zusammenhänge zwischen der Lagerung der Gruppen und ihrer psychologischen Motivation zu typischer Handlung ernsthaft in die Rechnung einsetzt. Hier zuerst wurden mir die unlösbaren Zusammenhänge zwischen der Ökonomik, der Rechtsgeschichte und der politischen Geschichte völlig klar, und damit die Notwendigkeit einer Wissenschaft, die, über das fachmännische Spezialistentum hinausgehend, gerade diese Zusammenhänge zu ihrem eigentlichen Untersuchungsgebiet macht. Ich habe mich in dem Vorwort zum ersten Bande meines »Systems der Soziologie« des Näheren über diese Notwendigkeit ausgesprochen und glaube, daß die hier niedergelegten persönlichen Erfahrungen völlig hinreichen, um die Konzeption einer rein »formalen« Soziologie abzutun, die einige Gelehrte immer noch aufrechtzuerhalten versuchen, nachdem ihr Schöpfer, Simmel, selbst sie längst aufgegeben hatte.

Mit den beiden Werken von 1896 und 1898 war die ökonomische Theorie des liberalen Sozialismus im wesentlichen vollendet; und damit war mir das Arbeitsprogramm der nächsten Zeit vorgeschrieben. Ich hatte den Weg der Mitte gewählt, der Synthese der beiden streitenden Auffassungen: Liberalismus und Marxismus, und damit nicht, wie das Sprichwort sagt, den Weg der größten Sicherheit, sondern des härtesten Kampfes. Denn als eine wirkliche Synthese wurde und wird noch immer meine Arbeit nicht gewertet: eine Synthese, in der jene Gegensätze der Auffassungen in dem dreifachen Hegelschen Sinne »aufgehoben« sind: kompensiert, bewahrt [S. 96] und auf höhere Ebene emporgehoben, sondern man hält meine Arbeit nach wie vor - wenn auch die absoluten Zustimmungen sich erfreulicherweise mehren - in unserer Zeit des systemlosen Denkens und der Skepsis à tout prix für schlappen Eklektizismus, und so hatte ich meinen Weg kritisch und antikritisch zu sichern. Mit der »historischen Schule« hatte ich mich bereits auseinandergesetzt. Jetzt griff ich zuerst die bürgerlich-liberale Kernlehre an, die einzige Erklärung, die sie für die kapitalistischen Zusammenhänge noch besitzt: das Malthussche Bevölkerungsgesetz (in meiner Arbeit »Das Bevölkerungsgesetz des T. R. Malthus, Darstellung und Kritik«, Berlin, Bern, 1900). Drei Jahre später ließ ich den Angriff gegen die andere Seite folgen: »Das Grundgesetz der Marxschen Gesellschaftslehre, Darstellung und Kritik« (Berlin 1903). Natürlich wurde ich dem bekannten Strafregime unterworfen; noch 1919 hat mich ein Mann von dem Einfluß eines Adolf Braun in einer Anzeige meines »Kapitalismus, Kommunismus, wissenschaftlicher Sozialismus« als einen schurkischen Karrieremacher behandelt, der die sichere Laufbahn des »Marxtöters« gewählt habe. Ich habe inzwischen gelernt, über derartige Eselsfußtritte zu lächeln.

Mein Buch über Malthus wurde endlich einigermaßen beachtet. Männer, wie Julius Wolf, Heinrich Dietzel und Eduard Bernstein beteiligten sich an der Diskussion. Ich habe diesen einzigen literarischen Erfolg nicht so sehr der Kraft meiner Gründe zu verdanken (das Buch ist, wie ich jetzt erkennen muß, von allen meinen Büchern das am wenigsten sorgfältig gearbeitete), sondern lediglich der zufälligen Konjunktur. Damals begann die Ziffer des Bevölkerungszuwachses sich langsam zu vermindern, und damit schlug das Interesse der Bourgeoisie plötzlich um. Statt »moral restrain« predigte man von jetzt an der Arbeiterschaft das biblische: seid fruchtbar und mehret euch! Denn was würde aus dem Kapital und seinem Klassenstaat werden, wenn ein General-Gebärstreik der Proletarierfrauen das exploitable Material der Fabrikkulis und des heldenhaften Kanonenfutters empfindlich zusammenschrumpfen ließe?!

Ich habe dann meinem Buche gegen Marx, den ich übrigens als einen der gewaltigsten Ökonomen und Soziologen der Geschichte aufs höchste verehre, ein weiteres volkstümliches Schriftchen folgen lassen: »Die soziale Frage und der Sozialismus, eine kritische Auseinandersetzung mit der marxistischen Theorie«, zuerst 1912, [S. 97] seitdem mehrfach in größeren Auflagen wieder aufgelegt. Die Veranlassung dazu gab der leider im Felde gefallene Abgeordnete Ludwig Frank, der sich meiner Auffassung fast bis zum Verschwinden der Gegensätze genähert hatte. Die Aufsätze sollten zuerst im »Zeitgeist«, dem Organ der Vertrauensmänner der Metallarbeitergewerkschaft erscheinen: aber die Parteiguillotine sauste nieder, der verleugnete Redakteur ging, und die Partei war wieder einmal vor der Berührung mit den ketzerischen Ideen eines Außenseiters gerettet. Wenn man ihr sonst nicht allzu viel Konsequenz und Geschicklichkeit nachrühmen darf: die Konsequenz und Geschicklichkeit, mit der sie es von jeher verstanden hat, ihre Herde vor der Verpestung mit neuen Ideen zu bewahren, ist schlechthin bewundernswert. Meine immer wiederholten Bemühungen, die Herren um Kautsky zu einer ehrlichen Diskussion zu bringen, sind ohne jeden Erfolg geblieben; ich habe diesen Versuch zum letzten Male 1919 in der oben erwähnten Schrift: »Kapitalismus, Kommunismus, wissenschaftlicher Sozialismus« unternommen.

Ich hatte mich außer mit den beiden bürgerlichen und der marxistischen Theorie auch noch mit einer nächst verwandten Theoretik auseinanderzusetzen: der Bodenreform Henry Georgescher Prägung. 1909 erschien meine Schrift: »David Ricardos Grundrentenlehre, Darstellung und Kritik«. Hier ist das Problem der Grundrente in breiter dogmengeschichtlichen Darstellung entwickelt; hier habe ich zum ersten Male das vor 80 Jahren von Rodbertus gestellte, bis dahin ungelöste »Problem der isolierten Insel« vollkommen im Sinne Ricardos lösen und dann dennoch zeigen können, daß die Ricardosche Grundrententheorie nur eine Teilwahrheit enthält und vollkommen falsch ist, weil sie sich für eine Volltheorie ausgibt. An dieses Buch schloß sich eine Polemik mit Karl Diehl, die in Conrads Jahrbüchern ausgetragen wurde.

Während der Arbeit an diesem Buche wurde mir, wieder wie durch plötzliche Eingebung, klar, daß der arg vernachlässigte Begriff des Monopols den Schlüssel zu der theoretischen Lösung der sozialen Probleme darstellt. Ich habe diesem Begriff dann eine Ausarbeitung zuteil werden lassen, die mindestens dem Umfang nach weit über alles hinausgeht, was bisher in der Literatur darüber vorhanden war. Das wichtigste der hier gewonnenen Ergebnisse war die Erkenntnis, daß bei jedem Tausch unter dem [S. 98] Monopolverhältnisse der Monopolist einen »Mehrwert« einstreicht, den der Kontrahent, der seinerseits einen »Minderwert« erhält, abzutreten hat. Von hier aus löste sich das Problem auch des gesellschaftlichen Mehrwertes, vor allem des Kapitalprofits, das noch einem Marx so ungeheure Schwierigkeiten bereitet hatte, auf das allereinfachste. Man mußte nur das Marxsche »Kapitalverhältnis«, das er unzweideutig als ein Klassenmonopolverhältnis beschrieben hat, auch als solches mit Klarheit erkennen und bekennen. Und damit war fernerhin ein altes Ziel der nationalökonomischen Theorie erreicht:

Vom Ende des 18. Jahrhunderts an gehen zwei Ströme nebeneinander her, die man gröblich als die deduktive und als die geschichtsphilosophische Schule bezeichnen könnte, jene begründet von den Physiokraten und zur höchsten formalen Vollendung geführt durch Ricardo, diese begründet von St. Simon, weitergeführt durch die St. Simonisten, Sismondi, Rodbertus und Dühring. Die erste Richtung versuchte vergeblich, mit der von mir sogenannten »rein-ökonomischen« Methode die Entstehung und das innere Wesen der kapitalistischen Ordnung zu erklären. Das heißt: sie sah methodisch von allen Einwirkungen der Weltgeschichte und der von ihr geschaffenen Institutionen auf die Gesellschaftswirtschaft ab. Die zweite Schule vertrat demgegenüber die offenbar richtige und keines Beweises bedürftige grundsätzliche Auffassung, daß die Geschichte nicht nur gewesen ist, sondern auch gewirkt hat; oder mit anderen Worten, daß die historischen Tatsachen der Eroberung, Unterwerfung, Ständebildung, der Sklaverei und Leibeigenschaft usw. Formen des Eigentums geschaffen haben, die noch in unseren heutigen kapitalistischen Gesellschaften überdauern und als »Verteilung der Produktionsfaktoren« die Verteilung der Güter entscheidend beeinflussen.

Die Aufgabe war offenbar, diese beiden Strömungen in ein Bett zu leiten, das heißt, den Begriff der »außerökonomischen Gewalt« in einen ökonomischen Terminus umzuformen, der in die Deduktion der Ökonomik eingesetzt werden konnte. Diese Aufgabe hat bereits John Stuart Mill unter dem Einfluß seines Freundes und Lehrers Auguste Comte mit ziemlicher Klarheit erkannt. Dann haben Proudhon und Marx, beide ohne Erfolg, sich bemüht, den Kranz zu erringen, und auch später noch haben Männer wie Sombart und Tugan-Baranowski mit geringeren Mitteln und noch geringerem Erfolge den gleichen Versuch gemacht.

[S. 99] Ich glaube, daß mir ein gutes Glück die Lösung dieses gewaltigen Problems zugeworfen hat. Es stellte sich ohne weiteres heraus, daß die außerökonomische Gewalt, zuerst in Gestalt der Sklaverei, dann vor allem in Gestalt des Großeigentums, Klassenmonopole geschaffen hat, die in dem modernen Verfassungsstaat fortbestehen und fortwirken. Damit war jene Umformung der historischen Einwirkungen in einen ökonomischen Terminus geglückt, denn das Monopol ist ein alteingeführter und unentbehrlicher Begriff der theoretischen Ökonomik. Und von hier aus ließen sich dann auch die großen Probleme in der allereinfachsten Weise lösen, wenn es auch noch einundeinhalb Jahrzehnte gedauert hat, bis mir die letzte Ausfeilung geglückt ist.

Wenn ich heute auf diese wissenschaftliche Entwicklung zurückblicke, so glaube ich sagen zu dürfen, daß ihr Hauptinhalt gewesen ist, ein echtes, schon bekanntes, aber völlig vernachlässigtes Gesetz in die soziologische und namentlich die nationalökonomische Theorie einzubauen.

Es handelt sich um einen von dem Freiherrn Theodor von der Goltz, Professor an der Universität Bonn und Direktor der landwirtschaftlichen Hochschule Poppelsdorf, entdeckten Zusammenhang zwischen der Grundbesitzverteilung und der Wanderung. In seiner Schrift von 1893 »Die ländliche Arbeiterklasse und der preußische Staat« schreibt er klipp und klar: "Mit dem Umfang des Großgrundbesitzes parallel und mit dem Umfang des bäuerlichen Besitzes in entgegengesetzter Richtung geht die Auswanderung". Dieses Gesetz hat sich seither als ein zeitlich wie räumlich allgemeines erwiesen: es gilt für die ganze Zeit des Kapitalismus und für alle kapitalistischen Länder der Welt ohne Ausnahme; es setzt sich, wie Max Weber einmal sagte, "mit einem seltenen statistischen Eigensinn überall durch".

Wir verfügen in der Geisteswissenschaft im allgemeinen und in der theoretischen Ökonomik im besonderen nur über sehr wenige solcher echten Gesetze, d. h. quantitativ feststellbare Beziehungen zwischen den Erscheinungen in Raum und Zeit. Man hätte erwarten müssen, daß dieses neue Gesetz der Theorie Anlaß gegeben hätte, sich entsprechend umzuformen: aber es geschah nicht. Die Schuld daran trug vor allem die Situation der Wissenschaft in Deutschland, ihre Spezialisierung und die damals fast absolute Herrschaft der historischen Schule. Ein Spezialist für Agrarpolitik hatte das Gesetz entdeckt, einige andere Spezialisten des gleichen [S. 100] Fachs, vor allem Max Sering und Freiherr von Schwerin, kannten es und wandten es auf ihre Spezialprobleme an. Aber den eigentlichen Theoretikern blieb es unbekannt oder machte doch zum mindesten nicht den erforderlichen Eindruck. Aus diesem Grunde konnte in Deutschland kaum etwas für den notwendigen Umbau der Theorie geschehen.

Noch viel weniger aber war das vom Auslande zu erwarten. Das Gesetz konnte nur in Deutschland gefunden werden, denn nur hier sind Bauernbezirk und Großgrundbezirk, West- und Ostelbien, einigermaßen säuberlich geographisch geschieden, während z. B. Großbritannien und Spanien ganz und gar Großgrundeigentumsländer sind, Frankreich zwar nicht durchaus Kleingrundeigentums-, wohl aber Kleinbetriebsland ist. Hier konnte also die Statistik auf diesen überaus wichtigen Zusammenhang nicht führen. Und selbst in Deutschland konnte das Gesetz nicht viel früher aufgefunden werden, als es geschah; denn die gewaltige Aus- und Abwanderung vom platten Lande her erreichte erst in den siebziger und achtziger Jahren ihren Höhepunkt. Und so mußte z. B. Karl Marx zehn Jahre vor der Entdeckung dieses neuen Gesetzes sterben, das, richtig verwendet, sein System in entscheidenden Punkten umgestalten mußte.

Für mich war das Goltzsche Gesetz ein unendlich wertvoller Fund, nicht nur, weil ich ganz im allgemeinen und in dem schon geschilderten scharfen Gegensatz gegen den Historismus vorwiegend theoretisch eingestellt war, sondern vor allem auch deswegen, weil mir aus jener oben dargestellten blitzartigen Erkenntnis heraus sofort die ganze Tragweite des Gesetzes sich offenbaren mußte.

Ich habe zuerst die ökonomischen Konsequenzen gezogen. Schon Sering und andere hatten gesehen, daß namentlich die Abwanderung in zwiefacher Weise herabdrückend auf den Lohn wirkt. Denn einerseits ist die Wanderung dafür verantwortlich, daß sich in den Bezirken des Großgrundeigentums die Bevölkerung nicht entfernt in dem Maße verdichtet, wie es im Bauernbezirk der Fall ist. Die Kaufkraft des Binnenmarktes bleibt also hier weit unter dem Möglichen, und das heißt, daß die Nachfrage nach Arbeitern von hier aus geringer ist, als sie wäre, wenn alles Land Bauernland wäre. Auf der anderen Seite vermehrt die gewaltige Abwanderung das Angebot auf dem Markte der Arbeit in den Städten; die Folge ist, daß die Löhne gedrückt oder in ihrem Aufstieg zum [S. 101] mindesten zurückgehalten werden. Da nun, nach Ricardo, der Profit derjenige Anteil am Werte des Produktes ist, den der Lohn nicht beansprucht, so war mit dieser Konsequenz nicht nur die klassische Lohntheorie, sondern auch die klassische Profittheorie erschüttert, und die Frage durfte gestellt werden, ob nicht der Arbeitslohn den Wert des ganzen Produktes erhalten würde, wenn es nur Bauernbesitz und keinen Großgrundbesitz überhaupt gäbe. Die Deduktion ergab denn auch dieses Resultat, das durch die historischen Untersuchungen durchaus bestätigt wurde.

Ich habe fernerhin die Konsequenzen dieser Grundbesitzverteilung nach anderen als nur ökonomischen Richtungen hin verfolgt und bin auf diese Weise zu einem wichtigen Teilgebiet der Soziologie, zur Moralstatistik und biologischen Statistik geführt worden. Es ergab sich, daß die Militärtauglichkeit im Großgrundbezirk nur etwa 40 % derjenigen im Bauernbezirk ausmacht, daß Alkoholismus, Kriminalismus und Prostitution dort wesentlich häufiger und schwerer sind als hier, und schließlich, daß - ein wichtiger Beitrag zur Städtetheorie - eigentliche Großstädte fast nur im Bezirk der Massenwanderung entstehen: und deren arger soziologischer Charakter ist ja unbestritten.

Aber die Untersuchung mußte auch nach der entgegengesetzten Richtung hin geführt werden. Die Frage drängte sich selbstverständlich auf, wie denn diese Institution entstanden sei, die so verhängnisvoll auf die Völker, auf ihre Wirtschaft und ihre sittliche Haltung und Gesundheit, einwirkt. Und diese Erwägungen führten erst recht zur Soziologie und zwar zur Staats- und Rechtslehre und damit zu der völligen Sicherung der Gesamtauffassung, daß alle Gesellschaftswissenschaften in der Soziologie ihre Erkenntnistheorie und Methode und ihren gemeinsamen Beziehungspunkt haben.

Es ließ sich stringent nachweisen, in Übereinstimmung mit der gesamten neueren Völkerkunde, daß der weltgeschichtliche Klassenstaat ein Geschöpf der Eroberung ist. Er hat sofort bei seiner Gründung zwei Institutionen gesetzt, die der Herrschaft der Sieger zum Zweck der wirtschaftlichen Ausbeutung der Besiegten dienten: politisch die Ständescheidung und wirtschaftlich das große Grundeigentum. Damit war die gemeinsame Prämisse der gesamten sogenannten bürgerlichen Soziologie in Historik, Ökonomik, Staats- und Rechtslehre völlig widerlegt, das »Gesetz der ursprünglichen Akkumulation«: die Annahme, daß der Staat [S. 102] sich ohne Einwirkung außerökonomischer Gewalt durch rein innere ökonomische Kräfte langsam aus einem Zustande der Gleichheit Aller zu der heutigen Klassenscheidung und Eigentumsverteilung entwickelt habe. Ich habe diesem Pseudogesetz, der »Wurzel aller soziologischen Übel in Theorie und Praxis«, in meinem »Staat« eine geistesgeschichtliche Darstellung von einem vierteltausend Seiten gewidmet, habe seine vielfach verzweigte Wurzel aufgedeckt und es, wie ich annehme, endgültig widerlegt.

Es kann jetzt gar nicht mehr bestritten werden, daß die moderne Gesellschaftswirtschaft sich »im feudalen Raume« entwickelt hat, d. h. in einer Ordnung, die die Klassenscheidung und die Aussperrung der Volksmasse vom Bodeneigentum durch das massenhafte Großgrundeigentum enthielt. Dem entspricht es denn auch vollkommen, daß überall der agrarische Kapitalismus dem industriellen um Jahrhunderte vorausgeht, während dieser nur sehr zögernd folgt und sich recht eigentlich erst einstellt, nachdem die feudalen Schranken der Freizügigkeit des Landvolkes beseitigt worden sind. Der Hauptfehler der bisherigen, namentlich auch der Marxschen Gesellschaftsauffassung besteht darin, daß sie den Begriff »Kapitalismus« räumlich und zeitlich viel zu eng faßt. Unter Kapitalismus müssen wir verstehen jede Wirtschaftsverfassung, in der eine durch das Eigentum an allen Produktionsmitteln bevorzugte Oberklasse auf Grund der Arbeit einer ausgebeuteten Unterklasse Waren auf einen geldwirtschaftlich entfalteten Markt liefert. Die übliche Begrenzung auf den industriellen Kapitalismus allein und die Ausbeutung »freier Arbeiter« reißt die Erscheinung aus ihrem historischen und ökonomischen Zusammenhang heraus und muß daher ihr Verständnis verfehlen.

Von hier aus fiel nun wieder ein neues Licht auf entscheidende rechtsphilosophische und geschichtsphilosophische Probleme.

Von jeher haben Ethiker und Rechtsphilosophen das Großgrundeigentum verworfen, weil es auf Gewalt beruhe. Ich kam auf einem ganz anderen Wege zu dem gleichen Ergebnis und damit zur Bestätigung des Hauptgrundsatzes allen »Naturrechts«. Ich hatte gefunden, daß das Institut sozialschädlich ist; erst von hier aus erkannte ich ex post, daß es ungerecht ist. Die Naturrechtler hatten ihre Gegner nicht überzeugen können, weil sie umgekehrt aus dem Ursprung des Instituts auf eine Verwerflichkeit geschlossen hatten. Ich hebe das hier hervor, weil man mich mit Unrecht häufig als einen »Naturrechtler« mit dem bekannten [S. 103] höhnischen Akzent bezeichnet hat. Richtig ist daran nur, daß ich in den Konsequenzen mit einigen Naturrechtlern übereinstimme. Mir scheint in der Tat die gesamte »Weltgeschichte«, d. h. die Geschichte der durch Gewalt geschaffenen Klassenstaaten, jetzt völlig verständlich. Sie haben bei ihrer Gründung eine Todsünde gegen den heiligen Geist begangen, haben entgegen dem Gebot der Gerechtigkeit die Gleichheit der Würde Aller durch ungleiche Verteilung der Rechte und Pflichten schwer verletzt. Diese Sünde hat als Krankheitsstoff in ihnen gewirkt, hat in ihrer krassesten Ausgestaltung als Sklaverei die antiken Stadtstaaten vernichtet, und wirkt auch in unseren heutigen Staatsgesellschaften noch in etwas abgeschwächter Form als sogenannter Kapitalismus in der Krisis, die heute unsere gesamte Zivilisation mit dem Untergange bedroht.

Die bürgerliche Revolution hat nur die eine jener zugleich mit dem Staate entstandenen Institutionen, die politische Ständescheidung, beseitigt, hat aber unglücklicherweise die zweite bestehen lassen, die Bodensperrung durch massenhaftes Großgrundeigentum, und hat somit die Klassenscheidung und die Ausbeutung, jene Erbsünde, in sich aufgenommen. Es ist die Aufgabe unserer Zeit, auch jenen letzten Rest der urtümlichen Gewalt aus unserem Sozialkörper auszuroden, der dann erst zu seiner vollen Kraft und Glorie kommen wird.

So stimmen den in dieser gesamten Auffassung, um mit Proudhon zu reden, science et conscience, Wissen und Gewissen, kausale Erklärung und ethische Selbstbesinnung vollkommen überein, und es wird mir gestattet sein, hierin den letzten und stärksten Beweis für ihre Wahrheit zu erblicken.

Diese Auffassung brachte mich in enge wissenschaftliche und dann auch freundschaftliche Beziehung zu dem großen Philosophen der Ethik, dessen allzu frühen Tod wir beklagen, zu Leonard Nelson. Er übernahm meine theoretische Auffassung ebenso vollkommen wie ich seine philosophische. Seine Schüler wurden auch die meinen und umgekehrt.

In jedem Falle steht jetzt über allen Zweifel fest, daß keine Soziologie und insbesondere keine theoretische Ökonomik noch eine Existenzberechtigung besitzt, die das Goltzsche Gesetz nicht in sich aufgenommen und organisch verarbeitet hat. Zu dem Zwecke darf es nicht etwa nur als eine Tatsache hingenommen, sondern muß aus den allgemeinen Prämissen der Theorie deduziert werden, [S. 104] wie ich es in meinem »Gesetz des einseitig sinkenden Druckes« durchgeführt habe, und müssen ferner die Konsequenzen, die sich gebieterisch daraus für das Problem der Verteilung und für die anderen, soeben angedeuteten weiteren soziologischen Probleme ergeben, gezogen werden. Wer mein System angreifen will, kann es nur von dieser grundsätzlichen Voraussetzung aus tun, indem er das Gesetz anders deduziert und die Tatsachen in anderem Zusammenhang ordnet, als ich es versucht habe. Jeder Angriff aber, der vom Boden der bisherigen Auffassung aus geschieht, die das Goltzsche Gesetz nicht kannte, ist a limine verfehlt und jeder Widerlegung unwert. Geradeso könnte heute noch eine theoretische Chemie erscheinen wollen, die nichts von der strahlenden Materie weiß.

Man spricht heute von nichts als von der »Krisis der Nationalökonomie« und bemüht sich, sie durch Besinnung auf die methodologischen Grundlagen der Wissenschaft zu heilen. Aber der Weg zur Einigung liegt in einer ganz anderen Richtung. Die Aufgabe ist klar gestellt und ist unabweisbar gestellt, das bisher in geradezu sträflicher Weise vernachlässigte Goltzsche Gesetz in den Dogmenbestand der Wissenschaft aufzunehmen und den dadurch erforderlich gewordenen Umbau entschlossen durchzuführen, wenn es auch ein vollkommener Neubau werden, wenn dadurch auch die mächtigsten »Interessen« des Tages verletzt, ja, wenn dadurch sogar die mächtigsten Schulen der Wissenschaft zum Umlernen gezwungen werden. Wir können wahrhaftig nicht in alle Ewigkeit dazu verurteilt sein, an dem Knochen zu nagen, den Ricardo uns hinterlassen hat.

* * *

Um zu meinem äußeren Leben zurückzukehren, so erwuchsen mir aus meiner ersten Ehe 3 Kinder, die ich im Geiste meines Elternhauses erzogen habe. Die Älteste, meine liebe Tochter Eva, ein blühendes und begabtes Kind, wurde mir im Alter von 18 Jahren durch eine unheilbare Krankheit entrissen. Meine beiden Söhne haben den Krieg mitgemacht; ich habe sie unversehrt heimkehren sehen. Mein ältester Sohn Ludwig hat Nationalökonomie und Philosophie studiert und mit einer Arbeit über Proudhons System in Berlin seinen Doktorgrad erworben. Er hat heute schon den Namen eines guten Kenners der Proudhonschen Philosophie und Ökonomik und ist einer der Führer der internationalen Friedensbewegung. Mein jüngerer Sohn, Heinz, hat Botanik studiert und [S. 105] in Wien bei Molisch promoviert; er hat außerdem die Gärtnerei erlernt und das Gehilfenexamen bestanden. Nach längerer praktischer Tätigkeit hat er sich der Pflanzenpathologie zugewandt und wissenschaftlich und praktisch schöne Erfolge erzielt. Er wurde als Gartenmeister und Botaniker nach Palästina berufen, hat dort weitergearbeitet, hat sich eine kleine Orangenpflanzung angelegt und denkt dem Lande seiner Väter als Pflanzenpathologe und Botaniker sein Leben zu widmen. Ich habe an beiden nur Freude erlebt, wenn mir auch die Trennung von dem Jüngeren nicht leichtgefallen ist. Ich habe während der Zeit zwischen der Aufgabe meiner Praxis und meiner akademischen Tätigkeit, von der sofort zu sprechen sein wird, von Schriftstellerei gelebt. Die Eigentümer der damals noch jungen »Welt am Montag«, deren erste Herausgeber, Dr. Karl Ploetz und Felix Holländer, sich von der Leitung des Blattes zurückgezogen hatten, stellten mich als Chefredakteur an. Ich schrieb (1897/98) meine wöchentlichen Leitartikel unter dem Pseudonym »Janus«; es gelang mir, diesen Namen zu breitester Bekanntschaft und das Blatt zu schöner Entwicklung zu bringen. Aber ich hatte bald die peinliche Empfindung, nicht an der richtigen Stelle zu stehen. Ich glaubte nicht mehr daran, daß noch so ehrliche und überzeugte Tagesschriftstellerei die Macht habe, die Richtung der politischen Bewegung irgendwie entscheidend zu beeinflussen. Das wäre nur möglich gewesen, wenn es hätte gelingen können, eine der großen Linksparteien zur Annahme meines Programmes zu bewegen - und ich hatte sehr bald erkannt, daß diese Hoffnung zu dieser Zeit eine bare Utopie sei; die einzige Utopie, deren ich mich, wie ich glaube, jemals schuldig gemacht habe. Ich habe damals Friedrich Naumann, dessen Redaktionsstube bei der »Hilfe« im gleichen Hause der Zimmerstraße war, mit voller Sicherheit den notwendigen Mißerfolg seines Bestrebens vorausgesagt, eine Partei von einigem Einfluß um seine Gedanken zu scharen. Ich möchte bei der Gelegenheit dem prächtigen Manne, der mir bis zu seinem Tode ein guter Freund und getreuer Mitstreiter geblieben ist, ein herzliches Wort des Gedenkens nachrufen.

Ich erkannte damals bereits mit voller Klarheit, daß es nur einen einzigen Weg geben könne, um das Ziel zu erreichen. Mein Wahrspruch war und ist: »Nichts ist so praktisch wie die Theorie«. Der erste Akt mußte sein die Vollendung und polemische [S. 106] Durchsetzung meiner theoretischen Auffassung. Die erhoffte Anerkennung würde mir den zweiten Akt ermöglichen: den praktischen Aufbau meiner auf Grund der Theorie konstruierten Genossenschaften. Dann würde, dritter Akt, die Bildung einer mächtigen Partei zur Ausführung im Großen nicht ausbleiben. Man mußte nur geduld haben. Freilich habe ich damals nicht gewußt, wieviel Geduld man haben müsse.

Ich gab also nach etwa einundeinhalbjähriger Tätigkeit als Chefredakteur meine Stellung auf und lebte wieder von freier Schriftstellerei. Eine Zeitlang habe ich, solange das Blatt noch in Wirklichkeit seine ursprünglich beabsichtigte überparteiliche Haltung wahrte, am sogenannten »roten Tag«, einer Gründung des Scherlschen Verlages, die politischen und namentlich wirtschaftlichen Bestrebungen des entschiedenen demokratischen Sozialismus (was nicht mit der Sozialdemokratie verwechselt werden darf) vertreten. Ich war außerdem regelmäßiger Mitarbeiter einer Anzahl wissenschaftlicher und halbwissenschaftlicher Revuen; namentlich in der vornehmen »Neuen Rundschau« sind eine Anzahl meiner soziologischen Erstlinge erschienen [1], unter anderem die erste kurze Skizze meines »Staates« und meine später in Buchform erschienene kleine Schrift »Weltwirtschaft und Nationalwirtschaft«.

Von etwa dem Jahre 1910 an erlöste mich ein neuer Wandel meines äußeren Geschicks von der mir immer lästiger gewordenen schriftstellerischen Brotarbeit. Ich hatte mich 1909 in Berlin habilitiert. Nachdem mein erster Fühler, den ich Jahre zuvor vorsichtig bei Max Sering gemacht hatte, auf eine wenig freundliche Haltung gestoßen war, hatte ich meinen Wunsch, akademischer Lehrer zu werden, eigentlich bereits aufgegeben. Da trat eines Tages Professor Ernst Francke, der verdienstvolle Herausgeber der »Sozialen Praxis«, ein prächtiger Mann, meine Kollege im Vorstand der Berliner Ortsgruppe der Gesellschaft für soziale Reform, an mich mit der Frage heran, warum ich mich eigentlich nicht habilitiere. Meine Antwort war, ich sei überzeugt, daß Schmoller und Wagner mich niemals zulassen würden; ich hätte jenen in meinem »Großgrundeigentum« und diesen in meinem »Malthus« im Kern ihrer Auffassung angegriffen und könnte nicht [S. 107] erwarten, daß die Herren einem erklärten Gegner die Laufbahn eröffnen würden. Francke, der vermutlich bereits an mich herangetreten war, bestritt meine Auffassung und erklärte, er werde die Sache in die Hand nehmen. Vierundzwanzig Stunden später hatte ich die Mitteilung, daß die beiden Herren meine Habilitation in jeder Weise fördern würden. Ich hätte nur vorher der Form halber den philosophischen Doktorgrad zu meinem medizinischen von 1885 dazu zu erwerben.

Ich kann diese Gelegenheit nicht vorübergehen lassen, ohne diesen beiden Männern, die mich so vorurteilsfrei gefördert haben, ein Wort des Dankes in ihr Grab nachzurufen. Ich war nur Schmoller persönlich bekannt. Zwischen dem Erscheinen meiner »Siedlungsgenossenschaft« und meines »Großgrundeigentum« hatte ich je ein Semester am Seminar zuerst Max Serings und dann Gustav Schmollers teilgenommen; ich war, wie Spielhagen einmal schrieb: "ins Lager der Feinde gegangen, um mir um so sicherer ihre Skalpe holen zu können." Ich danke diesen Stunden auf der einen Seite die reichste Anregung und auf der anderen Seite den entschiedensten Widerwillen gegen die damals in Übung befindliche Art des Seminarbetriebes. Sie bestand darin, daß, wie einmal ein geistreicher Teilnehmer des Schmoller-Seminars (soweit ich mich erinnere, war es der hochbegabte und witzige, leider früh verstorbene spätere Professor L. v. Halle) sagte, "einer seine Doktorarbeit vorlas und die anderen schliefen." Wer bereits eine breite Umschau über theoretische und praktische Ökonomik hatte, konnte viele Anregungen gewinnen; das war aber bei den jüngeren Semestern nicht der Fall. Ich habe denn auch, als ich selbst als akademischer Lehrer vor dem Problem des Seminarbetriebes gestellt wurde, die Dinge wesentlich anders eingerichtet, und meine Schüler haben es mir gedankt.

So war ich also Schmoller persönlich bekannt und wußte, daß er, wie allen theoretischen Bemühungen, so ganz besonders den meinigen - denn ich war ja dezidierter Sozialist - mit äußerster Skepsis gegenüberstand. Ich fühlte durch alle Urbanität seines Wesens hindurch bei jedem persönlichen Zusammentreffen doch immer sehr deutlich die ironische Überlegenheit, die er mir gegenüber empfand, so vornehm und wohlwollend seine Haltung auch jederzeit gewesen ist.

Adolf Wagner hatte mich nie vorher gesehen. Er lernte mich erst kennen, als ich ihm meinen Besuch machte, um mich für den [S. 108] Brief zu bedanken, in dem er mir sein Urteil über meine Habilitationsschrift mitteilte. Er trat mir, obgleich er mir seinen Antisemitismus nicht verschwieg, von vornherein mit großer Freundlichkeit, fast Herzlichkeit entgegen, wie er denn überhaupt eingestehen mußte, mit seinen jüdischen Schülern die besten menschlichen Erfahrungen gemacht zu haben. Sie seien die treuesten von allen, sagte er mir, und wies vor allem auf den jetzigen Professor, Verlagsdirektor Georg Bernhard hin, meinen einstigen Kollegen bei der »Welt am Montag«. Wir sind uns dann immer näher gerückt, und wenn zwischen zwei Männern von so großer Altersverschiedenheit und so großer Verschiedenheit der äußeren Stellung von Freundschaft die Rede sein darf, so ist mir Adolf Wagner zuletzt ein wahrer Freund geworden. Er hat mich überallhin empfohlen und, wie er mir selbst gesagt hat, mich auch neben zwei anderen Fachkollegen als seinen Nachfolger für das Berliner Ordinariat vorgeschlagen. Ich habe ihm zum Scheiden aus seinem Lehramte mein Buch von 1916 »Wert und Kapitalprofit« widmen dürfen, habe im dichtgedrängten Auditorium nach seinem Abschiedskolleg ihm die Scheiderede halten dürfen, und habe endlich als Redner in der staatswissenschaftlichen Vereinigung ihm herzliche Worte des Dankes, der Ehrfurcht und Bewunderung ins Grab nachrufen dürfen.[2] Er war ein Ritter ohne Furcht und Tadel, ein glühender Wahrheitssucher, der rastlos im Weinberg des Herrn schuf, ein Mann, aus dessen Munde nie ein bewußt unwahres Wort gekommen ist, ein geborener Kämpfer, der seines etwas rauflustigen Temperaments froh und stolz war. Wenn er mich zuweilen freundschaftlich ausschalt, weil ich mit allzu viel Feinde gemacht hätte, so schloß er doch jedesmal damit, daß er mir mit verschmitztem Lächeln auf die Schultern klopfte und sagte: "Ich bin ja selber solch ein alter Raufbold". Ich habe ihm einmal erwidert, und er hat es auch gebilligt, daß es auch in der Wissenschaft Front und Etappe gäbe. Wer eine Untersuchung über die Entwicklung des Schneidergewerbes in Kaiserslautern veröffentliche, werde sich keine Gegner machen; wer aber, wie ich, gezwungen sei, an den großen entscheidenden Zentralproblemen der Wissenschaft zu arbeiten, der müsse natürlich überall vorhandene »Interessen« verletzen.

[S. 109] Meine schon vorliegenden Arbeiten hätten für die Habilitation voll genügt: aber ich hielt es für angemessen, der Universität ein neues Buch als Morgengabe zu bringen und schrieb meinen »Ricardo«. Das von Adolf Wagner erstattete Gutachten an die Fakultät ist, wie Schmoller mir sagte, überaus günstig ausgefallen; ich fand denn auch, nachdem ich bei Ludwig Bernhard, damals in Kiel, mit einem Kapitel aus dem »Ricardo« promoviert hatte, überall das größte Entgegenkommen und erhielt die Venia legendi ohne Schwierigkeiten im Alter von 45 Jahren. Ebensowenig Schwierigkeiten hat man mir jemals in der Ankündigung meiner Vorlesungen gemacht. Ich habe von vornherein die »großen« Vorlesungen gehalten: allgemeine und theoretische Nationalökonomie abwechselnd mit praktischer Nationalökonomie, Geschichte des Sozialismus, Geschichte der Nationalökonomie und schließlich eine Vorlesung über die Hauptprobleme der Soziologie. Meine Lehrerfolge waren bedeutend: ich hatte im Jahre 1912 in einer vierstündigen Privatvorlesung bereits über 250 eingeschriebene Hörer, und wenig später las ich in dem ungeheuer überfüllten Auditorium maximum vor mehr als 1000 Hörern über Karl Marx´ ökonomische Lehre.

Aus meinen ersten Vorlesungen ging meine »Theorie der reinen und politischen Ökonomie« hervor, die zuerst 1910 herauskam und dann bis 1924 in insgesamt 5 Auflagen und mehr als 8000 Exemplaren erschienen ist. Hier zuerst habe ich meine Ideen im vollen System geordnet und die alte Erfahrung wieder gemacht, daß eine Theorie sich nur im System völlig selbst finden kann. Die fünfte Auflage ist, wie es immer geplant war, als dritter Teil des »Systems der Soziologie« erschienen, von dem sofort zu sprechen sein wird.

Inzwischen war mir ein neuer Kampf aufgezwungen worden. Die historische Schule, die vollkommen abgewirtschaftet hatte, stürzte nach Gustav Schmollers Tod plötzlich in sich zusammen, und ihre Stelle nahm die Wiener subjektivistische »Grenznutzenschule« ein, die seitdem mit fast gleicher monopolistischer Ausschließlichkeit die Lehrstühle der Theorie besetzt hat. Ich versuchte, die führenden Theoretiker dieser schule zur Diskussion zu bringen: 1916 erschien meine Studie »Wert und Kapitalprofit, Neubegründung der objektiven Wertlehre«. Ich hatte die Genugtuung, daß sich kein geringerer als Schumpeter auf die Mensur stellte: er griff meine Lehre vom Bodenmonopol an. Die Debatte ist in dem »Archiv für Sozialwissenschaft« geführt worden; Schumpeter [S. 110] hatte mich angegriffen, ich replizierte, er duplizierte, ich kam noch einmal zum Wort, und dann hat Schumpeter geschwiegen. Ganz neuerdings ist Alfred Amonn, gleichfalls einer der bedeutenderen Köpfe der Schule, mit mir in eine Diskussion eingetreten, die er in der österreichischen Zeitschrift für Volkswirtschaft und Sozialpolitik eröffnete. Meine Replik und seine Duplik sind im 5. Bande (neue Folge, Heft 1 - 3) erschienen. Die im Geiste der höchsten gegenseitigen Achtung geführte Diskussion hat bereits zu einer erfreulichen Klärung geführt; sie wird hoffentlich fortgesetzt werden. Vorläufig ist ihr Ertrag in der dritten Auflage von »Wert und Kapitalprofit« (1926) aufgenommen worden.

Inzwischen habe ich in der fünften Auflage meiner Theorie den Subjektivisten in allerschärfster Weise den Krieg angesagt. Ein großer Verehrer Gossens, erkenne ich die Lehre vom Grenznutzen als vollkommen richtig und unentbehrlich für die psychologische Grundlegung der Ökonomik an, bestreite aber mit aller Entschiedenheit, daß sie im inneren Betrieb der Ökonomik irgend etwas zu tun habe; ich behaupte, daß der Begriff, wie ihn namentlich Böhm-Bawerk ausgearbeitet hat, ein Unbegriff ist, und daß die Ableitung des Preises aus dem subjektiven Wert nur durch eine Kette der allergröbsten, von mir im einzelnen aufgewiesenen Trugschlüsse möglich gewesen ist. Demgegenüber habe ich selbst eine überaus einfache und, wie ich glaube, keinem ernsthaften Einwand mehr ausgesetzte Theorie des objektiven Wertes, oder besser des statischen Preises, entwickelt und zwar, indem ich zum ersten Male von der nie bestrittenen Tendenz der Konkurrenz ausging, die Einkommen sämtlicher Produzenten soweit auszugleichen, wie das gegen die beiden einzig bestehenden Hemmnisse: die Qualifikation und das Monopol, erreichbar ist.

Um das Bild meiner Lebensarbeit zu vollenden, muß ich jetzt der anderen Studien gedenken, die mich seit dem Werk von 1898 in immer zunehmendem Maße beschäftigten: der soziologischen. Ich las und exzerpierte unzählige Werke über Völkerpsychologie, Geschichte usw. Die erste Frucht dieser Studien war meine kleine Skizze »Der Staat«, zuerst 1908 in der Sammlung sozialpsychologischer Monographien erschienen, die mein alter Freund Martin Buber in dem Verlag von Rütten & Löning, Frankfurt a. M. herausgab. Das Büchlein hat seinen Weg sehr erfreulich gemacht, es hat viele Neuauflagen erlebt und ist in viele Kultursprachen übertragen worden.

[S. 111] Schon seit Ende des vorigen Jahrhunderts plante ich ein großes System der Soziologie. Die rein ökonomischen Arbeiten, die zuerst erledigt sein mußten, dann meine Lehrtätigkeit, die mich jahrelang außerordentlich in Anspruch nahm, zumal ich die großen Vorlesungen erst auszuarbeiten hatte, verhinderten lange die Ausführung des Planes. Alle meine Bücher nach 1898 sind nichts als selbständig gewordene Kapitel des großen Werkes. 1917 schloß dann die Firma Veit & Co. einen Vertrag mit mir, der mir die finanzielle Möglichkeit gab, als damals unbesoldeter Mann die große Aufgabe in Angriff zu nehmen. Ich begann im Juni 1917 mit den ersten Entwürfen und Niederschriften; von Weihnachten des gleichen Jahres an mußte ich eine schmerzlich lange Pause eintreten lassen. Zuerst warf mich eine Kritik des Irving Fisherschen Buches: »Die Kaufkraft des Geldes«, die ich dem »Weltwirtschaftlichen Archiv« versprochen hatte, für mehrere Wochen aus der Arbeit, die ich mit meiner gewöhnlichen Leidenschaftlichkeit gefördert hatte. Dann kam die schmerzliche Wendung des Krieges; es mußte in dieser Zeit dem Patrioten die Sammlung zu rein wissenschaftlicher Arbeit fehlen; im Gegenteil nahmen die Vorwehen der großen Umwälzung jeden von uns, der zu den schweren Entscheidungen etwas zu sagen hatte, voll in Anspruch.[3] Dann kam meine Berufung als ordentlicher Professor für Soziologie und ökonomische Theorie nach Frankfurt a. M. zum Sommersemester 1919. Schon die Verhandlungen, die Wohnungssuche und der Umzug raubten mir viel Zeit; dann hatte ich, der ich niemals krank gewesen war, viel mit schweren Krankheiten zu kämpfen. Ich bin, seitdem ich in Frankfurt bin, viermal bettlägerig gewesen, davon einmal 10 Wochen an den Folgen einer Blutvergiftung nach einer unglücklich verlaufenen kleineren Operation und einmal fast 6 Monate infolge eines schweren Oberschenkelbruchs. Die beiden anderen Fälle betrafen Influenza mit sehr argen Nachkrankheiten; die eine bescherte mir eine Herzschwäche, die nur sehr langsam wich, die andere eine böse Entzündung des Siebbeins, an der ich noch heute [S. 112] laboriere und wahrscheinlich mein Leben lang zu laborieren haben werde.

Das Wenige an Zeit, war mir bei allem blieb, widmete ich der Beschäftigung mit den großen Problemen des Tages. Ich warf 1919 mein schon erwähntes Werkchen »Kapitalismus, Kommunismus, wissenschaftlicher Sozialismus« hinaus, in der eitlen Hoffnung, noch im letzten Augenblick auf die von mir genau vorausgesehene verhängnisvolle Entwicklung Einfluß zu gewinnen, die die große Partei der Arbeiter zur Ohnmacht und fast zum Zusammenbruch führen mußte; im gleichen Jahre erschien »Die soziale Forderung der Stunde« im »Neuen Geist-Verlag«, Leipzig, und »Der Ausweg«.[4] So konnte ich das »System der Soziologie« recht eigentlich erst 1920 wieder aufnehmen. Anfang 1922 erschien bei Gustav Fischer, Jena, der erste Halbband des ersten Teils der allgemeinen Soziologie (Die Grundlegung), 1923 der zweite Halbband (Der soziale Prozeß), im gleichen Jahre der erste Halbband des dritten Teiles als erster Band der fünften völlig umgearbeiteten Auflage der »Theorie der reinen und politischen Ökonomie« (Die Grundlegung), 1924 der zweite Halbband (Die Gesellschaftswirtschaft) und im Januar 1926 der zweite Teil der Soziologie, der »Staat«. Somit liegt jetzt das System im Gesamtumfang von etwa 3400 Seiten vor.

Ich hätte diese Arbeit nicht so schnell vollenden können, wenn mir nicht meine liebe zweite Frau durch Exzerpte ein gewaltiges Material vorbereitet hätte. Sie wurde mir und unserem Töchterchen Renate vor 7 Jahren nach kurzer glücklicher Ehe entrissen; ich habe ihr den ersten Band des Systems der Soziologie gewidmet; es ist mir ein tiefes Bedürfnis, ihr auch hier noch einmal für all das [S. 113] zu danken, was sie mir als Freundin, Kameradin und Mitarbeiterin gewesen ist.

Meine nächsten Jahre werden der historischen Nachprüfung und hoffentlich Bestätigung der theoretischen Anschauung gewidmet sein. Bei dem vierten Bande des »Systems der Soziologie«, der »Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Europas von der Völkerwanderung bis auf die Gegenwart« werde ich mich der Mitarbeit meines verehrten Freundes und Kollegen Fedor Schneider, Frankfurt a. M., zu erfreuen haben. Er hatte Gelegenheit, sich von der großen Fruchtbarkeit der soziologischen Methode für die Auffindung und Ordnung des historischen Stoffes zu überzeugen. Sollte mir nach Vollendung dieses weit ausschauenden Werkes noch Lebenskraft und Zeit gegönnt sein, wird es an weiteren Gegenständen meiner wissenschaftlichen Arbeit nicht mangeln.

* * *

Am 30 . März 1924 habe ich meinen 60. Geburtstag gefeiert. Meine Schüler und Freunde überraschten mich mit einer gehaltvollen, an ausgezeichneten Beiträgen reichen Festschrift; ich selbst habe den ersten Band meiner gesammelten Reden und Aufsätze unter dem Titel »Wege zur Gemeinschaft« erscheinen lassen. Zu meiner unendlichen Freude und Genugtuung habe ich damals gesehen, daß ich doch nicht ganz so einsam stehe, wie ich glaubte. Wenn auch längst nicht alle Blütenträume gereift sind, die dem Dreißigjährigen vorschwebten, so war es ihm doch vergönnt, eine stattliche Ernte in seine Scheuer zu führen. Und als das beste Ergebnis eines Lebens, das in der Tat köstlich war, weil es Arbeit war, darf ich bezeichnen, daß ich niemals auch nur einen Augenblick an meiner Berufung irre geworden bin. Alle Studien des vollen Menschenalters, das jetzt hinter mir liegt, haben mir nur bestätigt, daß mich ein unverdientes Glück vom ersten Augenblick an auf den Weg gestellt hat, der zur Wahrheit führt: zu der Wahrheit, an der, wie ich nicht zweifle, die Menschheit genesen wird. Der weg ist gefunden, auf dem, trotz allem Pessimismus, die Freiheit und die Gleichheit gemeinsam werden errungen werden; die Synthesis zwischen Liberalismus und Sozialismus ist bis zur letzten Evidenz erreicht.

Noch eines großen Wunsches Erfüllung hoffe ich zu erleben: einen Kritiker großen Stils und eine Kritik von großem Wurf. Bisher habe ich nur »Zensuren« erhalten; in Fleiß [S. 114] zumeist eine Eins, in »Leistungen« anfänglich zumeist Fünfer, später scheine ich mich etwas gebessert zu haben. Ich kann nur sagen, daß mich auch Einser nicht interessieren. Ich habe nie eine Behauptung aufgestellt, ohne sie mit Argumenten sorgfältig zu begründen. Ich kann nach dem Gesetzbuch unserer Gelehrtenrepublik fordern, daß man meine Beweise annimmt oder widerlegt. Die »Ansicht« oder »Meinung« auch des berühmtesten Mannes ist mir ebenso gleichgültig, wie die des unberühmtesten.

Nur über Einzelprobleme war es mir bislang vergönnt, mit Fachmännern von Rang zu diskutieren - nicht ganz erfolglos, wie man sagt. Jetzt ersehne ich den Mann, der mein weit verzweigtes, heute voll ausgebautes System als Ganzes versteht, als Ganzes würdigt und aus seinen tiefsten Voraussetzungen heraus, wurzelhaft, nachschöpfend, annimmt oder überwindet.

Fußnoten
[1]
Jetzt zum Teil abgedruckt im zweiten Bande meiner Reden und Aufsätze, der unter dem Titel »Soziologische Streifzüge« 1927 erschienen ist.
[2]
Abgedruckt in »Soziologische Streifzüge«.
[3]
Ich war während des größten Teils des Krieges Referent für Sozialpolitik zuerst im Kriegsministerium, dann im Kriegsamt in der Abteilung A.Z.S. unter der Leitung meines verehrten Freundes Richard Sichler. Gleich in den ersten Tagen des Krieges brachte ich die Gewerkschaften mit den Landwirtschaftskommern in Verbindung, um die Ernte zu sichern, und rief auf Grund einer Denkschrift eine bedeutungsvolle Versammlung ein, aus der die Kriegs-Rohstoff-Gesellschaft hervorging.
[4]
Außerdem ließ ich eine für den ersten deutschen Siedlertag in Leipzig (1920) bestimmte Rede über »Genossenschaftliche Ansiedlung« drucken. 1922 stellte ich in einer Broschüre: »Die Judenstatistik des preußischen Kriegsministeriums« dieses ebenso bösartige, wie schluderhafte Machwerk gebührend an den Pranger (abgedruckt in dem 2. Bande meiner Reden und Aufsätze »Soziologische Streifzüge«, München, 1927). Übersetzt habe ich das von meiner späteren Frau unter dem Pseudonym A. Lien französisch verfaßte Buch »Das Märchen von der französischen Kultur« (1915); herausgegeben das gute Buch von Gide und Rist: »Geschichte der volkswirtschaftlichen Lehrmeinungen«, das bereits in dritter deutscher Auflage vorliegt, und das von meinem Sohne Ludwig übersetzte treffliche Buch Hawtreys: »Währung und Kredit«, Jena 1926. Nach Abschluß des Systems der Soziologie erschien noch: »Der Arbeitslohn, kritische Studie«, eine Auseinandersetzung mit Heinrich Dietzel, Jena 1926, und der »Grundriß der theoretischen Ökonomik«, 1. Teil für Anfänger, Einführung in die theoretische Ökonomik, 2. Teil für Vorgeschrittene, Grundzüge der theoretischen Ökonomik, Jena 1926.

Im Original folgt ein zweiseitiges Verzeichnis der Werke und Schriften.
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