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ELTERNHAUS

Es war lange vor dem Kriege, da hatte ich einmal das große Glück, den alten Wilhelm Raabe in seinem Braunschweiger Horst aufsuchen zu dürfen. Es gab ein heiliges Plauderstündchen; ich konnte dem wunderbaren alten Herrn berichten, daß ich an seinen Büchern fast das Lesen gelernt hatte, weil meine Eltern zu seiner ersten, ach, noch so kleinen Gemeinde gehört hatten. "Was haben Sie denn damals gelesen?" fragte er interessiert; ich nannte die "Chronik der Sperlingsgasse" und den "Hungerpastor", worauf er mit verächtlichem Achselzucken: "Ach, die Kinderbücher." Und ich lächelte: "Ja, damals war ich ja noch ein Kind; den "Schüdderump" und den "Abu Telfan" haben mir meine Eltern damals wirklich noch nicht geben können!" Und ich fuhr fort: "Denken Sie, mein alter Herr hat immer behauptet, der Wald, den Sie in den "Akten des Vogelsangs" und anderen Ihrer Bücher darstellen, sei sein Heimatswald." Und als ich auf seine Frage: "Wo ist denn Ihr alter Herr zu Hause?" antwortete: "Aus Uslar, am Solling", da patschte er aufgeregt mit den beiden alten Händen auf den Tisch: "Da hat er ja Recht; ich bin ja von der anderen Seite des Solling." Wir hatten beide eine Mordsfreude; und als ich Abschied nahm, trug er mir die schönsten Größe an seinen Heimatgenossen auf, und davon hatte wieder mein guter alter Papa eine Mordsfreude. In der Tür drückte mir Wilhelm Raabe noch einmal die Hand und sagte: "Doktorchen, liebes Doktorchen, werden Sie nur nicht alt." Ich erwiderte mit dem schönen Optimismus der Jugend, ich hoffte jung zu bleiben; heute verstehe ich ihn besser, wo ich mir zwar nicht, wie jener Leutnant, "die Haare schneiden lassen kann, ohne die Mütze abzunehmen", wohl aber nächsten werde die Zähne putzen können, ohne den Mund aufzumachen, und wo ich täglich erfahren muß, daß die Liebe der schönen jungen Frauen zu Unsereinem wächst umgekehrt wie das Quadrat, vielleicht sogar wie der Kubus der Gefährlichkeit. Aber ich hoffe, das Herz ist einigermaßen jung geblieben, und wenn ich auch nicht gerade wie Marcus Tullius Cicero und mein geliebter Friedrich Vischer, der bockbeinige, querköpfige Schwabe, wie er im Buche steht, das "Lob des Alters" singen will, so will ich es doch auch [S.34] nicht verlästern; es hat auch seine guten Seiten. Die Freuden er scheinen einem in hellerem Licht, und von den Leiden sage ich mit einem anderen meiner großen Lieblinge, mit einem anderen Wilhelm und anderen Niedersachsen, mit Wilhelm Busch: "Gehabte Schmerzen, die hab' ich gern." Und ist es nicht nett, daß man einem allen Herrn gern erlaubt, zu plaudern und vom Hundertsten ins Tausendste zu kommen!

Ein Niedersachse war auch mein Vater, nicht nur der geographischen Herkunft nach, sondern ganz auch dem Wesen nach, wenn er auch äußerlich der orientalischen Fraktion seiner zahlreichen Geschwisterschar angehörte: fünf hochgewachsene, blonde, blauäugige, und fünf kleine, schwarze, magere Figuren. Dennoch war er ein Kind des Weserlandes, ein unermüdlicher Waldläufer mit dem ganzen Naturgefühl des Deutschen, den ein Sonnenblick durch das Frühlingslaub, eine dämmernde Lichtung, ein breitschattender Eichbaum oder eine im Abendgolde rotkupfern erglühende eigenwüchsige Kiefer am Waldrande bis zu Tränen rühren konnte; ein sinnierender Träumer, der als reiner Tor durch die Welt spazierenging, von aller Sünde unberührt, die er nicht einmal bemerkte; frei nicht nur von jeder Streberei, sondern sogar von jeder Erwerbssucht, völlig zufrieden, wenn seine Arbeit seine Familie bescheiden ernährte; nie habe ich jemanden gesehen, der den Niederdeutschen Raabe, den Niederdeutschen Busch und den Deutschen Bach inniger erfühlte als er; er konnte vor einer einzigen Zeichnung aus der "Frommen Helene" oder dem "Heiligen Antonius" ganze Viertelstunden lachend sitzen, bis ihm die hellen Tränen den Blick verschleierten. Ganz so heiter ist mein Leben nicht, wenn ich - es ist leider ein Teil meines wissenschaftlichen Geschäfts - in den Schriften der Rassenfanatiker von der "semitischen Psyche" lese und dabei an meinen geliebten alten Herrn denken darf, der der deutscheste aller Deutschen war, wenn Fichtes Wort noch gilt, daß ein Deutscher ist, wer ausschließlich seiner Sache dient.

Er war aber auch in seinem Bewußtsein ganz und gar ein Deutscher. Das erste, was er mich lehrte, war der schöne Spruch: "Ich bin ein deutscher Mann, treu und wahr und ohne Lüge." Er hing treu an seiner Religion, die ihm in ihrer Urform, ihrer Prophetenform, als die reinste Verkörperung der Humanität galt, während er die Schutzkruste, die das Jahrtausende währende Leben der Diaspora angesetzt hatte, als geschichtliche Erscheinung, die zu ihrer Zeit notwendig [S.35] gewesen war, achtete, aber für seine Gegenwart verwarf; er bekannte sich zu der einzigen Gemeinde der damaligen Welt, die diesen Bruch ernsthaft vollzog, der Berliner Reformgemeinde; ihr Gottesdienst fand bei Orgelmusik und Chorgesang Sonntag vormittags statt; Gebet und Predigt waren deutsch, nur das Wochenstück aus der Thora und die uralten Glaubensformeln wurden hebräisch vorgetragen, aber alsbald ins Deutsche übersetzt. Ehrliche deutsche Patrioten hatten die Gemeinde begründet, um die trennende Kluft soviel wie möglich zu verschmälern; und ein ehrlicher deutscher Patriot war mein Vater bis zu seinem Tode, kein Hannoveraner (als solcher war er geboren) und kein Preuße im engen Sinne, aber ein Deutscher aus Herzensgrund. Darf ich die schlichten Verse hersetzen, die ich schrieb, als Fünfzehnjähriger, in der schlimmen Zeit, wo wir erkennen mußten, daß uns all unser ehrliches Deutschsein, all unsere deutsche Bildung nicht gegen den Schmutz schützten, der gegen uns aufstieg?

"Meines Vaters Großvater wohnte am Rhein,
und vor ihm wohl zehn Geschlechter,
und da sollt' ich kein Deutscher sein,
kein eingeborener, echter?
Meines Oheims Blut gab rote Spur
bei Alsen an der Fähre,
mein Vetter fiel bei Mars la Tour
im Kampf für Deutschlands Ehre.
Ich sah, wie im Aug' die Tröne schwoll,
als von Sedan die Kunde scholl,
dem Vater, er weinte selten:
und Ihr wollt uns Fremde schelten?"

Er war, ich wage das Wort, eine franziskanische Seele. Als alter Mann, der fast keine Amtspflichten mehr hatte, ging er bei schönem Wetter zumeist zweimal täglich in den seiner damaligen Wohnung nahegelegenen Zoo, nachmittags, um Musik zu hören und mit seinen Freunden zu plaudern, vormittags aber, um "seine Tiere" zu besuchen. Sie kannten und begrüßten ihn alle; sogar der Uhu, der sonst mürrisch auf seiner Stange hockte und kaum ein Lebenszeichen von sich gab, hüpfte herunter und schmiegte sich an das Gitter und die kraulende Hand des Freundes, wenn dieser ihn bei seinem Namen [S.36] rief: "Hugo!" Und wie die Tiere liebten ihn die Kinder und alles, was für selbstlose Güte den Instinkt noch nicht verloren hatte.

Ja, seit Jahrhunderten wohnten seine Vorfahren am Rhein, wenn die Familientradition nicht täuscht; ein Stamm soll von Spanien über Holland hereingekommen sein, vornehme Possessoren aus dem Stamme Juda, wie der Name einer der Linien bezeugt; Ben Ari, Sohn des Löwen; denn der Löwe war das Wappen Judas. Agathon, ursprünglich Aaron, und Ferdinand Benary, der berühmte Kirchenrechtslehrer der Berliner Universität, waren nahe Verwandte meines Vaters und sich der Verwandtschaft noch bewußt; ohne jenen hätte mein alter Herr, dem alle Mathematik und alle Rechenkunst zeitlebens ein Buch mit sieben Siegeln blieben (oh, wie jüdisch!) das Abiturientenexamen am Kölnischen Gymnasium, wo der Vetter damals noch Lehrer war, vielleicht nicht bestanden; er durfte die klaffende Lücke durch verdoppelte Leistungen in den alten Sprachen ausfüllen.

Der eine Strang der väterlichen Familie also waren Sephardim, die, vor der Inquisition geflüchtet, über Holland nach Deutschland einwanderten; sie rühmten sich sogar der direkten Abstammung vom Hause David, und das ist höchstwahrscheinlich wahr, muß wahr sein. Als vor einigen Jahren in Frankfurt am Main eine ganze Anzahl von Nachkommen Karls des Großen festgestellt wurden, herrschte allgemeine Verwunderung, bis ein Fachmann erklärte, ungefähr so viele Karlsenkel müßten sich, prozentual zur Bevölkerung, in jeder deutschen Stadt auffinden lassen, sintemalen es weit mehr als tausend Jahre her sei, seit Karl (768-814), der auch als leiblicher "Vater des Volkes" groß war, sich in voller Manneskraft auslebte. Und König David lebte fast zweitausend Jahre vor Karl! Und lebte ebensowenig wie dieser in der damals noch gar nicht vorgeschriebenen Monogamie. Ergo! Dennoch ist es, ich leugne es nicht, ein nicht unangenehmes Bewußtsein, seines Stammbaums Wurzeln so tief in den Gründen geschichtlicher Heroenzeit zu wissen und sich als Abkömmling des Goliathtöters zu fühlen. Wer kann sich so alten Adels noch rühmen? " Uns kann keener", sagte der urkomische Bendix, den auch jeder alte Berliner kennt.

Mit diesem südlichen Strange muß sich uralter rheinischer Stamm gemischt haben. Lebten doch Juden am Oberrheine, noch ehe die ersten Germanen den Strom erblickten, als Söldner in den Legionen, als Händler in den Canabae, den Lagerstädten, die sich überall um [S.37] die Kastelle bildeten, und als Veteranen hinter dem Limes. Von Metz her, so berichtet die Überlieferung, die sich aber beim Fehlen von Familiennamen nicht nachprüfen läßt, kamen meine Ahnen ins Weserland, wo sie in Witzenhausen Fuß faßten. Nach einer anderen Sage sollen wir auch mit dem Hofbankier des Kaisers Leopold und seinen berühmten und berüchtigten Vetter Jud Süß Oppenheimer verwandt sein. Nahe Verwandte, nach meines Vaters Erzählung die Abkömmlinge leiblicher Brüder, der Söhne des hochberühmten Rabbi Leib Witzhausen, wahrscheinlich aber nur die Abkömmlinge von Schwägern, waren die Benary, von denen ich soeben erzählte, die Benfey, große Bankiers in Hannover und berühmte Professoren in Göttingen, die Benlöw, die in Frankreich zu gleich hohen akademischen Ehren aufstiegen, die Löwenstein, deren einer als Oberpfarrer in Frankfurt an der Oder wirkte; auch mit dem berühmten Rabbi Josaphat in Kassel war mein Vater verwandt; ein Josaphat schuf die erste Telegraphenagentur und starb als englischer Baron Reuter. Andere sehr bekannte Verwandte waren die Halberstädter Hirsch, die "Kupferhirsch", in deren Hause mein Vater eine Zeit hindurch als Talmudschüler lebte, und vielleicht die Kölner Freiherren Oppenheim; so haben auch wir ursprünglich geheißen. Erst mein Urgroßvater nahm die letzte Silbe an; man war damals polizeilich noch nicht so korrekt wie später.

Mein Großvater, Gabriel Oppenheimer, der zur Zeit der Napoleonischen Kriege jung war, lebte zuerst in Göttingen, wurde aber nach der Wiederherstellung des Königreichs Hannover als "Schutzjude" in Uslar angesetzt, wo er ein heute noch blühendes Geschäft begründete und in Ehren führte; seine Urenkel sind die jetzigen Inhaber. Er hat ein gesegnetes Andenken hinterlassen: ein streng rechtlicher und wohltätiger Mann, der gewissenhaft den Zehnten seines Verdienstes in den Armenbeutel tat, und ein streng religiöser Mann; er war der einzige Jude des Städtchens und mußte daher jeden Samstag zum Gottesdienst nach Bodenfelde wandern. Da der Ort weiter von seinem Wohnort entfernt war, als nach den strengen Vorschriften zulässig, hatte er mittwegs einen Grundbesitz von ein paar Quadratmetern erworben, wo er einen kleinen Aufenthalt und Imbiß nahm; so konnte er vom eigenen Heim ohne Verletzung der Religion zur Synagoge gelangen. Der Fromme hat sich noch immer zu helfen gewußt! Daß er in sein Gebet tagtäglich Napoleon aufnahm, [S.38] den Bringer der leider so kurzlebigen Freiheit und bürgerlichen Gleichberechtigung, werden ihm nur wenige verdenken; gab es doch damals noch kein Deutschland, sondern nur dynastische "Vaterländer"!

In diesem Milieu wuchs mein Vater auf, in voller Gleichberechtigung als Sohn eines angesehenen Bürgers, unverbogen durch Haß und Feindschaft. Er tobte mit den Kameraden durch die unvergleichlichen Wälder seiner Heimat und war, so erzählt die Saga, nicht ganz unschuldig an dem schnellen Tode mancher Forelle, ohne den Fischerschein gelöst zu haben. Und ein freier, froher Waldbursch ist er sein Leben lang geblieben, ein wundervoller Träumer und Erzähler von Märchen, ein trotziges Herz, wo es um das Recht ging, ein Mann, der sich keiner Willkür beugte. Er folgte dem Drange seiner Überzeugung, wandte der Orthodoxie den Rücken und hungerte sich als Gymnasiast und Student redlich und doch fröhlich durch, bis er in Leipzig den Doktorgrad in orientalischen Sprachen errang und schließlich nach manchen Wechselfällen und Wanderungen als Prediger der kleinen und nicht reichen jüdischen Reformgemeinde die sehr bescheidene Lebensstellung fand, die damals der nicht orthodoxe Geistliche finden konnte. Aber er hat es nie bereut; er hatte dem Gott in seiner Brust gehorcht, und das war besser als Einkommen und Reichtum.

Und so verbrannte er wohlgemut alle Brücken hinter sich, freute sich der fünfhundert Taler, die er als Gehalt erhielt, und heiratete meine Mutter. Und damit beginnt für ihn und für mich ein neues Kapitel.

Meine Mutter stammt, wie ich erzählte, von der Seite ihrer Mutter her aus der angesehenen, seit Ende des siebzehnten Jahrhunderts in Berlin ansässigen Familie Benda. Einer der Träger dieses Namens hat einen Stammbaum angefertigt, der gerade bis zu meiner Mutter und ihren Geschwistern reicht. Der Stammvater, David Benda, war mit einer Tochter aus der sehr bekannten Familie Itzig verheiratet; einer von ihnen war meines Wissens Münzmeister eines preußischen Königs; ein Nachkomme legte sich den "Spiritus asper" zu und verwandelte sich in einen deutschen Hitzig, von dem noch heute die Hitzigstraße im Berliner Westen Zeugnis ablegt; er war, wenn ich recht berichtet bin, ein bedeutender Baumeister. Das Ehepaar zog nicht weniger als zehn Kinder groß, die ihrerseits wieder durchschnittlich eine zahlreiche Nachkommenschaft hatten; war es doch die [S.39] Zeit vor der Domestikation des Klapperstorchs! Selbstverständlich trugen diese Nachkommen des alten David durch Vermittlung der Töchter die verschiedensten Namen. Ihre Träger gehörten den mannigfachsten Berufen an; es finden sich nicht nur bedeutende Kaufleute, sondern zahlreich auch Anwälte, Ärzte, Professoren und - evangelische Geistliche in nicht geringer Zahl, z. B. Kanitz, Taube usw. Eine flüchtige Durchmusterung zeigt, daß schon damals, als dieser Stammbaum angefertigt wurde, also vor mehr als einem halben Jahrhundert, weitaus die Mehrzahl dieser Verwandten dem jüdischen Glauben nicht mehr angehörte. Das war damals kein Zeichen von Schwäche, Charakterlosigkeit oder Streberei, sondern, wie die Familiengeschichte der Mendelssohn beweist, nichts als die unvermeidbare Folge der damaligen Situation. Der gebildete Israelit wurde in aller guten Gesellschaft als gleichberechtigt betrachtet; noch beherrschte der Kapitalismus mit seiner Psychologie der Konkurrenz die Seelen nicht; und noch gab es keinen Antikapitalismus, der seine Angriffe gegen die schwächste Stelle der gegnerischen Klasse richtete. Damit war das innere Ghetto geradeso gesprengt wie das äußere; die strengen Vorschriften der Religion erschienen mehr und mehr als Reste einer überwundenen Zeit, zumal damals auch die christliche, vor allem aber die in Norddeutschland maßgebende protestantische Religion unter dem Einfluß des Humanismus sozusagen erweicht, zu einem nicht mehr eigentlich konfessionell gefärbten Bekenntnis zur Menschheit und Menschlichkeit entfärbt und erhöht worden war. Damals war Schleiermacher der Lehrer und Prediger der Gebildeten, der Mann, zu dem noch mein Vater schwor, und so war es damals kein feiges Zurückweichen vor ungerechter Willkür, sondern ein fast unwiderstehlicher innerer Zwang, der die in deutscher Bildung aufgewachsenen Juden zur Taufe veranlaßte. War doch das alte Testament auch den Christen ein heiliges Buch, und lockte doch mächtig gerade die im Sinne jener Zeit religiösen Gemüter der ewig unverlierbare Gehalt des Urchristentums an menschlicher Güte und Liebe! Heute, und schon für die Generation, der ich angehöre, liegt und lag das ganz anders. Heute soll man einem Drucke weichen, den der Edle als unmoralisch empfinden muß; soll man eine Gemeinschaft verlassen, während sie im Kampfe steht, soll von der Schanze desertieren, auf die geschossen wird; das ist auch für solche, die, wie z. B. ich selbst, konfessionell völlig neutral sind, eine unmögliche Zumutung. Ich konnte den trefflichen [S.40] alten Adolf Wagner, der mich in seinen letzten Jahren einer wahren Freundschaft würdigte, wohl verstehen, wenn er, der überzeugte Christ, immer wieder den Wunsch aussprach, ich solle doch über diese letzte Grenze fortschreiten, die mich noch von seiner Gemeinschaft trennte, aber auch er verstand, daß gerade die gehobenen Elemente die Pflicht haben, ihrer Gemeinschaft die Treue zu halten.

Die Familie des Vaters meiner Mutter, des praktischen Arztes Dr. Johann Davidson, entstammte dem Osten Deutschlands, aus Pommern. Der berühmteste Heldenspieler seiner Zeit neben Devrient, Bogumil Dawison, war ein leiblicher Vetter meines Großvaters. Sein Vater war als Hauslehrer nach Polen berufen worden und hatte eine Haustochter geehelicht. Sein Sohn ist italienischer Senator geworden. So mischte sich in uns sephardisches, d. h. spanisch-jüdisches, und aschkenasisches, d. h. ostjüdisches Wesen. Ich sage ausdrücklich nicht: Blut, weil die Juden, wie übrigens alle Völker, aus den allerverschiedensten Blutströmen und, wenn man durchaus will, Rassen gemischt sind. Schon in Palästina lebten, lange bevor die ersten Semiten, etwa im fünfzehnten Jahrhundert vor Chr., eindrangen, die Charri, der Grundstock des Hethitervolkes indogermanischer Sprache, aber von "mediterranem Typus", unter einer Oberschicht, die unzweifelhaft indopersischer Sprache war. Mit ihnen vermischten sich die Garnisonen der Ägypter, die das Land lange beherrschten, dann die Babylonier, Assyrer, Perser, Griechen, Römer und Parther; im Süden setzten sich die Philister und die ihnen verbündeten Zakkaro fest, die einige als Teukrer auffassen, beide unbekannter, vielleicht pelasgischer, vielleicht sogar nordischer Abkunft und Sprache; im Norden wollen andere in den Amoritern eine im Grundstock nordische, blonde Bevölkerung erblicken. Nach der Zerstreuung schmolzen unzählige Einzelne, nicht nur sehr wahrscheinlich die sprachverwandten Phöniker, sondern auch Griechen, Römer und alle anderen Elemente des "Rassenchaos" hinein, und schließlich trat der Chan des chazarischen Großreichs an der Wolga mit seinem ganzen Hofstaat und großen Teilen seines Volkes zum Judentum über: Skythogermanen mit schmaler ugrotatarischer Oberschicht. Unter diesen Umständen von einer jüdischen "Rasse" zu reden, ist wissenschaftlich ein Unding. Ich habe in dem vor einem Jahre erschienenen ersten Bande meines soziologischen Geschichtswerks, "Rom und die Germanen", der Rassentheoretik ein eigenes Kapitel gewidmet, das diesem Unfug wohl ein Ende [S.41] machen könnte, wenn politisch verwertbarer Unfug überhaupt auszurotten wäre.

Aber das ist gewiß, daß das Milieu die Gruppen beeinflußt, und das Milieu, in dem die Ostjuden erwuchsen, war ein ganz anderes als das der Sephardim und bildete andere Eigenschaften aus oder entwickelte doch andere Anlagen. Die aus dem Spanien der Inquisition entronnenen Juden waren zum Teil sehr große Herren gewesen und brachten in ihre Zufluchtsstätte in Holland ihre Lebensansprüche, ihren Stolz und ihre hohe Bildung neben ihrem oft bedeutenden Vermögen ein. Ein Ghetto wie in Polen haben sie nie gekannt; sie bildeten, wo sie auch hingerieten, immer nur eine geringe Minderheit von überragendem Wohlstande und hoher Bildung, während die Juden Polens auch in den größeren Städten oft die Majorität bildeten und noch heute bilden, viele kleinere fast ganz allein bevölkerten. Hier war von Beginn an viel Kleinbürgertum dabei, das unter dem Druck der Andersgläubigen oft zu jämmerlichem Proletariat herabsank; hier konnte sich und mußte sich als einziger Schutz vor dem Untergang jener aufs höchste gesteigerte Intellektualismus ausgestalten, den wir kennen.

Von diesem Wesen scheint mein Großvater mütterlicher Seite gewesen zu sein. Er war zuerst Arzt in Pyritz in Pommern, holte sich aber in jungen Jahren bei seinen - darüber sind jetzt fast genau hundert Jahre hingegangen - damals bei den schlechten Wegen und der geringen Zahl der Ärzte außerordentlich weiten, und namentlich im Winter anstrengenden, Landfahrten eine schwere Krankheit, die ihn lähmte und für viele Jahre bis zu seinem Tode auf den Krankenstuhl fesselte. Inzwischen waren aus seiner Ehe vier Kinder hervorgegangen, von denen meine Mutter, Antonie, die älteste, willenskräftigste und begabteste war. Ihre Kindheit war keine leichte; die Familie war ärger daran, als wenn mein Großvater gestorben wäre; sie war nicht nur des Ernährers beraubt, sondern mußte den früheren Ernährer selbst mit ernähren. Es ist fast ein Wunder zu nennen, daß meine Großmutter die beiden Enden zusammenbrachte; die drei Töchter erhielten die beste Erziehung, die damals Töchter aus guten Häusern erhalten konnten: sie bildeten sich zu höheren Lehrerinnen aus; der Sohn wurde bis zum Einjährigen gebracht, mußte dann aber Kaufmann werden. Er wurde ein wohlhabender Mann, aber dieser Verlust seiner Klasse hat ihm das Leben verbittert.

[S.42] So war denn im Dr. Davidsonschen Hause in seiner Heimatstadt Prenzlau seit der Katastrophe Schmalhans Küchenmeister. Keine Not, aber die härteste spartanische Zucht, die man erdenken kann. Kein Wunder, daß die Großmutter eine sehr strenge Frau wurde, die wir Kinder mehr fürchteten als liebten. Kaum waren ihre Kinder flügge, so mußten sie aus dem Nest, um sich selbst zu ernähren. Meine Mutter ging als blutjunges Ding nach Ungarn, wo sie in reichen Bürgerhäusern das nicht immer süße Brot der Erzieherin zu essen hatte; sie wußte sich freilich immer ihrer Haut zu wehren und sich in Respekt zu setzen. Als sie einmal auf der Heimreise in Wien weilte, lernte sie dort meinen Vater kennen. Und so floß sephardisches mit aschkenasischem Wesen in eins.

Mein Großvater war ein geistig hochstehender Mann, der während seiner Krankheit rastlos arbeitete, sich in die ihm vom Gymnasium her einigermaßen vertrauten lateinischen und griechischen Schriftsteller vertiefte und sich mehrerer neuerer Sprachen bemächtigte. Adolf Stahr, der Biograph Lessings, sein Mitschüler, hat ihm in seinen Lebenserinnerungen das ehrenvollste Denkmal errichtet. Er erzählt reizend von dem armen, engen Hause meines Urgroßvaters, der als Kantor und Schächter der Gemeinde Prenzlau wirkte. Aber: so eng das Haus, so weit war doch der Sinn; meine Urgroßmutter Perle war eine glühende Verehrerin Schillers, den sie immer wieder las. Von ihrem Vater hat meine Mutter den gewaltigen Intellekt geerbt, der sie auszeichnete. Sie war eine Frau von fast unheimlichem Scharfsinn und unfehlbarer Logik und einem Gedächtnis, das niemals versagte. Noch als Siebzigerin hat sie ihrer Enkelin, meiner leider früh verstorbenen Tochter Eva, die damals die Obersekunda eines Realgymnasiums besuchte, die englischen und französischen Arbeiten korrigiert, ohne jemals zu irren. Mich selbst hat sie schon als kleinen Buben in die beiden Sprachen so weit eingeführt, daß ich sie ohne Wörterbuch las. Eine nicht nur gebildete, sondern geborene Pädagogin, hat sie uns Kinder unmerklich geführt; ich habe ihr meine Aufsätze noch als Primaner vorgelegt, und noch bis tief in meine wissenschaftliche Arbeit hinein war und blieb sie mir der maßgebende Kritiker. Als ich einmal in meiner Flegelzeit mit den unregelmäßigen griechischen Verben in Schwierigkeiten kam, hat sie, die Griechisch nicht lesen konnte, sich den ganzen Wust in ihrer wundervollen feinen Handschrift mit lateinischen Buchstaben aufgeschrieben, um mich "abhören" zu können. Daneben führte sie mit [S.43] einem Dienstmädchen den großen Haushalt, vier Kinder und eine Anzahl von Pensionären, kochte selbst und fand noch Zeit, für meine Schwestern und anfänglich auch für mich Wäsche und Kleidung anzufertigen. Unermüdlich und unverdrossen wirkte sie in ihrem Kreise; eine Hausfrau und Mutter des alten Schlages, der heute wohl auszusterben bestimmt ist. So erzog sie ihre Kinder weit mehr durch ihr gutes Beispiel als durch Ermahnungen. Sie lebte uns vor, was Dienst und selbstgewollte Pflicht bedeutet.

Sie "dressierte uns in Freiheit", das war ihr Wort. Vertrauen war die Grundlage unseres Verhältnisses; eine Lüge ihr ins Antlitz wäre unmöglich gewesen und würde als das schwerste aller Verbrechen angesehen worden sein. Sie ließ uns scheinbar gehen, wie wir wollten, im Innersten sicher, uns dennoch fest am Bande zu haben; ein flehender Blick von ihr brach meinen Trotz, den Strenge oder Strafe nur gestärkt hätten. Nur Wahrheit forderte sie und lohnte unser Vertrauen durch die vollkommenste Gerechtigkeit. Ich habe in meiner "Soziologie" die Vermutung ausgesprochen, daß alle Gerechtigkeit, und das heißt alle Sittlichkeit, aus der tierischen "Kinderstube" stammt, weil die natürliche Mutter alle ihre Jungen mit gleicher Liebe behandelt; diese Weisheit danke ich ihr, und danke es ihr vor allem, wenn die Gerechtigkeit der Leitstern meines Lebens geworden ist. Das ganze Haus stand durchaus im Zeichen Kants: Selbstvertrauen der Vernunft auf der einen, Glauben an den kategorischen Imperativ auf der anderen Seite; vor diesem inneren Reichtum galt der äußere nichts; aller Mammonismus war nicht etwa nur verpönt, sondern lag geradezu unter der Schwelle des Bewußtseins. Es ist diese Einstellung gewesen, die mich viel später zu dem festen Bunde mit meinem unvergeßlichen Freunde Leonard Nelson geführt hat, der mir, wie ich ihm, regelmäßig seine besten Schüler überwies. Wir wußten beide, daß wir in den vor aller Erfahrung gewissen Aprioris unseres Geistes, in der Logik und der Ethik, das unverrückbare Koordinatenkreuz besaßen, um die Erscheinungen zu ordnen und zu bewerten, und damit Ziel und Kompaß allen Lebens und Strebens. Es war unser Ideal als akademische Lehrer, unseren Schülern die gleiche beglückende Sicherheit zu geben und sie dadurch vor dem gräßlichen Relativismus dieser kranken Zeit zu retten, der fast alle steuerlos im uferlosen Ozean treiben läßt. Wir Menschen besitzen die eingeborene Fähigkeit, die Wahrheit und das Recht zu erkennen, und haben die Pflicht, sie auszubilden und gegen alle Versuchung [S.44] zu kräftigen. Und wir dürfen glauben, daß beide, recht gerichtet, uns zum gleichen und darum letzten Ziele führen, wo, um Proudhons schönstes und tiefstes Wort anzuwenden, "science et conscience", Wissen und Gewissen, übereinstimmen, an unser Handeln die gleiche Forderung stellen. Es gibt keine andere Rettung für diese todkranke Welt, die davon bedroht ist, zwischen Kapitalismus und Bolschewismus wie zwischen zwei Mühlsteinen zerrieben zu werden, als die Besinnung auf diese einfachsten aller Wahrheiten, auf den "Gott in unserer Brust".

Was mir das akademische Kleinbürgerhaus meiner Eltern als "Vor-Urteil" mit ins Leben gegeben hat, was in unserem kleinen Kreise aufs schönste verwirklicht war: die Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, das in die große Welt einzuführen, ist das Streben, und dieses Streben ist das Glück meines Lebens gewesen. Im Elternhause floß mir die Quelle aller meiner späteren Erkenntnisse, er wuchs mir der Keim alles meines späteren Strebens.

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SCHULE

Wann und wie ich lesen gelernt habe, ist nicht festzustellen gewesen. Meinem Gefühl nach habe ich es "immer" gekonnt. Vielleicht habe ich einiges bei Gelegenheit des Unterrichts aufgeschnappt, den meine, wenig mehr als ein Jahr ältere Schwester Paula zu Hause erhielt; sie war überhaupt mein "Mütterchen", meine große Autorität, und wird mich wahrscheinlich mit ihrer soeben erst gewonnenen Schulweisheit versorgt haben; außerdem habe ich wie alle lebhaften Kinder - ich habe das an meinen eigenen immer wieder erlebt - an den Schildern der Läden studiert, wobei mich besonders mein "Namensvetter" Franz Billard interessiert hat. Jedenfalls las ich mit fünf Jahren fließend; das Buch meiner ersten Jahre war "der Echtermeyer", eine gute Sammlung von Gedichten, von denen ich viele auswendig wußte und noch weiß, wie z. B. Uhlands "Roland Schildträger". Man kennt "Helenes Kinderchen": vermutlich habe ich, wie der wackere Teddy, die schöne Ballade so sehr geliebt, weil sie "fubbe doll balutig" ist.

Zum Michaelistermin 1870 kam ich in die Vorschule des nahe gelegenen Friedrichgymnasiums, die sich aber damals noch in der etwas weiter entfernten Albrechtstraße befand, und zwar wurde ich sogleich, unter Überspringung der untersten, dritten Klasse in die zweite aufgenommen.

Ich hatte keine Ahnung von Schuldisziplin und saß zwischen meinen neuen Mitschülern, die schon anderthalb Jahre die Bänke drückten, wie ein Wilder zwischen Zivilisierten. In der ersten Stunde hob ich den Finger, wie ich es von den anderen gesehen hatte, und als der Lehrer mich fragte, was ich wolle, fragte ich arglos: "Wieviel Uhr ist es?" Er schaute mich durchdringend an, mußte wohl aber die vollkommene Unschuld in dem Gesichtchen erkennen, denn er sagte nur: "Setz' dich einen 'runter". Stolz wie ein König kam ich heim: ich hielt diesen Platzwechsel für eine Auszeichnung!

Ich absolvierte die zweite Klasse in einem halben Jahre; und so geschah es, da ich weiterhin keinen unvorhergesehenen Aufenthalt zu beklagen hatte, daß ich um ein volles Jahr jünger war und blieb als selbst die seltenen unter meinen Mitschülern, die nicht ein oder [S.46] einige Male "sitzenblieben". Ich war, anstatt mindestens achtzehn, noch nicht einmal ganz siebzehn Jahre alt, als ich zu Ostern 1881 das Abiturientenexamen machte. Damals waren meine Eltern und natürlich auch ich recht stolz auf diesen Vorsprung: aber ich habe später oft gemeint, daß es mir besser gewesen wäre, wäre ich später zur Universität gelangt; mir fehlte doch wohl noch der rechte Ernst und das volle Verständnis, zwar nicht für den Lernstoff, den ich leicht bewältigte, wohl aber für die Lebensaufgabe an sich.

Mein erster Lehrer trug den schönen Namen Seele; er war auch eine Seele von Mensch, der es namentlich mit mir gut meinte, zumal er mich in einigen Fächern privatim auf seine Klasse vorbereitet hatte; aber er war noch einer der Volksschullehrer des alten Schlages im wortwörtlichsten Sinne: er "haute". Das führte später einmal zu einer Szene, die sich mir unvergeßlich eingeprägt hat. Es war in Quinta, das Durchschnittsalter der Schüler also etwa elf Jahre, da erschien bei uns als "Neuer" von außerhalb ein wesentlich älterer Junge, der Sohn eines Grundbesitzers in der Mark. Seele unterrichtete hier in den Elementarfächern; er wollte den Neuen hauen, aber dieser - haute wieder! Es war ein großer, starker Junge, und es kam zu einer regelrechten "Keilerei", in der schließlich doch der Lehrer die Oberhand behielt. Der Neue verschwand ebenso plötzlich aus unserem Leben, wie er darin erschienen war: aber ich hatte das erste Beispiel einer Revolution erlebt! Irgendwie hatte doch die bis dahin unerschütterlich scheinende Autorität gewankt.

Bis zum Ausgang aus der Quinta war ich, was man so einen "Musterschüler" nennt. Es wurde mir leicht; sollten etwa irgendwo Schwierigkeiten aufgetaucht sein - ich kann mich solcher nicht entsinnen, denn außer dem Schönschreiben und Zeichnen war ich immer unter den Besten -, so wurden sie gewiß von den beiden pädagogisch geschulten Eltern sofort aus dem Wege geräumt, und der Begriff und Imperativ der Pflicht waren mir allzu tief in das Herz gebrannt, als daß ich damals schon hätte "bummeln" können. In dieser Beziehung waren die Eltern unerbittlich, wie der folgende Vorfall beweist: ich hatte zu Weihnachten 1870 an den Masern gelegen und war noch recht schwach, als die Schule wieder begann. Es tobte an dem Tage ein schwerer Schneesturm, aber ich wurde wie selbstverständlich losgeschickt; bis zur Ecke der Karl- und Albrechtstraße kam ich mit Mühe; aber um die Ecke konnte ich gegen den starken Sturm nicht gelangen, wurde immer wieder zurückgeworfen, [S.47] bis sich ein vorübergehender Mann des armen Bübchens erbarmte. Ja, "Affenliebe" kannten meine Eltern, kannte vor allem meine Mutter nicht; sie wußte mit unfehlbarem Blick echtes Unwohlsein von Drückebergerei zu unterscheiden und verstand, hart zu sein, wo es not tat. Als ich einmal heulend ankam: "Der große Junge hat mich gehauen", war ihre Antwort, indem sie mich aus der Tür schob: "Hau' ihn wieder", was ich, im Besitz der Ermächtigung durch meine höchste irdische Autorität, denn auch mit dem Erfolge tat, daß wahrscheinlich mein Feind zu seiner Mutter klagen ging. Ein anderes Mal brachte eine Lehrerin der Luisenschule meine Schwester heim: das Kind hatte sich beim Spielen einen Schuhknopf in die Nase gesteckt, der freiwillig nicht heraus wollte. Meine Mutter "tät nur spöttisch um sich blicken", hielt dem heulenden Kinde das nicht betroffene Naslöchlein zu, sagte: "Nun schnaube mal"; und siehe, der Knopf fand sich im Taschentuch. "So, mein Fräulein", sagte Mutter zu der höchst erstaunten und wohl etwas beschämten Kollegin, "nun nehmen Sie die Paula gleich wieder mit."

Beim Ausgang aus der Quinta, also mit eben zehn Jahren, hörte mein Musterschülerdasein plötzlich auf, infolge einer ersten Erfahrung über die Ungerechtigkeit dieser argen Welt. Ich hatte bisher immer die Osterprämie erhalten, irgendein gutes Buch, und rechnete mit Sicherheit auch dieses Mal darauf. Aber es erhielt sie ein gewisser Ziller, ein von sich aus sehr schwacher Schüler, dem ich aus Kameradschaftlichkeit seit Monaten tagtäglich bei seinen Arbeiten geholfen hatte. Als mein Ordinarius, der schon genannte Trendelenburg, mein enttäuschtes Gesicht sah, sagte er zu mir mit einer Schroffheit, die vielleicht ein nicht ganz unbelastetes Gewissen enthüllte: "Du hast die Prämie nicht bekommen, weil du viel zu begabt bist." Ich zog sofort die Konsequenzen und verließ mich auf diese mir amtlich bescheinigte Begabung. Durch Quarta und Untertertia langte die gute Grundlage noch einigermaßen, aber in der Obertertia, als Zwölf- und Dreizehnjähriger, entwickelte ich mich zu einem Faulpelz und Lausbuben von Format; die damals eintretende Pubertät hat offenbar dazu mitgewirkt. Ich gab z. B. die mathematischen "Extemporalia" regelmäßig in Gestalt eines unbeschriebenen Bogens ab: ich interessierte mich nicht für das Fach und beruhigte mein Gewissen mit der Einbildung, ich hätte meines Vaters vollkommene Unfähigkeit auf diesem Gebiete geerbt. Und so geschah es, daß ich zu Michaelis 1876 zum ersten Male nicht in die "erste [S.48] Abteilung" versetzt wurde. Das war noch kein Unglück; diese Beförderung bedeutete nicht mehr als eine gute Note; man konnte zwar nur aus der ersten Abteilung in die höhere Klasse aufsteigen, aber man konnte auch noch zu Weihnachten und sogar noch sechs Wochen vor Ostern diese imaginäre Stufe erreichen, sozusagen den Gefreitenknopf erhalten: man konnte nicht Unteroffizier werden, ohne Gefreiter geworden zu sein. Es war also keine Katastrophe; aber Mutter machte ein unglückliches Gesicht, und schon das war sehr schlimm; schlimmer aber war, daß die Dame meines Herzens gerade zu Besuch war, als ich mit der miserablen "Zensur" und dem häßlichen Manko heimkam. Es war eine gleichaltrige Jugendfreundin, eine Tochter des berühmten Bildhauers Gustav Bläser, Clara, die später den hochangesehenen Anwalt Martersteig in Weimar heiratete; ich habe sie vor einigen Jahren in ihrem ganz von Goetheschem Geiste durchwehten Hause in Weimar als sehr feine reizvolle Matrone wiedergesehen. Ihre dunkelblauen Augen schauten mit so viel Enttäuschung und Kummer auf das Zeugnis meiner Schmach und in die meinen, daß "mein Herz zu Wasser wurde". Stracks setzte ich mich auf die Hosen und arbeitete die vierzehn Tage der Oktoberferien durch, wie ich von da an mit Ausnahme einiger Studentenjahre immer gearbeitet habe. Es gab eine Sensation unter Lehrern und Mitschülern, als ich in allen Klassenarbeiten nach den Ferien den Vogel abschoß; ich sehe noch das sardonische Vollmondgesicht unseres Mathematikers, des rundlichen Professors Fischer, genannt "Mählech" (so sprach er in seinem harten Westfälisch den Namen unseres Lehrbuchs, des "kleinen Mehler", aus), als er mir bei der Rückgabe der ersten Klassenarbeit sagte: "Ja, Oppenheimer, wenn Sie nicht die beste Arbeit hätten, müßte ich untersuchen, von wem Sie abgeschrieben haben."

Fischer war einer der Lehrer, von denen ich fürs Leben viel mit genommen habe, kein "Pauker" und Sadist, wie so mancher andere, den ich nicht nenne, wenn ich ihn auch nicht vergessen habe, sondern ein wirklicher Führer, dessen Unterricht namentlich in der Physik ich viele grundlegende Vorstellungen verdanke, die mir in meiner wissenschaftlichen Arbeit weitergeholfen haben. Man durfte fragen und erhielt Antwort. So sagte ich einmal, ich könnte nicht verstehen, wie man die Erde als Kugel bezeichnen könnte, da doch die höchsten Gebirgserhebungen und die größten Meerestiefen mehr als acht Kilometer betrügen. Seine Antwort klärte mich im Augenblick [S.49] auf und gab mir ein für alle Male den kosmischen Maßstab: "Stellen Sie sich einen Globus vor, im Verhältnis von einem Millimeter zu einer Meile. (Wir rechneten damals noch vielfach mit deutschen Meilen.) Dieser Globus hat ungefähr Ihre Höhe. Nun lassen Sie ihn mit einem zwei Millimeter dicken Firnis bedeckt sein, und lassen Sie diesen Firnis an einer Stelle abgeplatzt sein: dann haben Sie den Gaurisankar unmittelbar neben dem pazifischen Tief."

Nun, ich kam zu Weihnachten in die erste Abteilung und zu Ostern in die Sekunda. Und da geriet ich unter den Einfluß des genialsten Pädagogen nicht nur unserer Anstalt, sondern vielleicht Berlins und Deutschlands: Ernst Voigt. Er war ein bedeutender Germanist, der die "Ekbasis Captivi", den lateinischen "Reineke Fuchs", meisterhaft herausgegeben hatte und daraufhin mehrfach Berufungen an Universitäten erhielt: aber er mochte sich von seinen Jungen nicht trennen. Die Schulbehörde wußte diese Treue wohl zu würdigen: nach dem Rücktritt unseres alten Direktors Kempf, eines wohlrenommierten Horaz-Forschers, der uns mit der klassischen Prosodie ("Versus logaeodicus dactylicus dexter usw.") weidlich ödete und uns den Horaz gründlich verekelte, aber sonst ein wohlwollender und gütiger Herr war, wurde Voigt Direktor unseres Gymnasiums und bald darauf Stadtschulrat; leider starb er früh.

Wie dieser Mann Funken aus allen Jungen zu schlagen verstand, deren Seele nicht aus Lehm bestand, war ein Wunder. Mich behandelte er die ersten Wochen hindurch mit betonter Ungerechtigkeit, obgleich ich in sofortiger schwerer Verliebtheit in diesen Mann für ihn schaffte wie nie zuvor. Er trieb das so lange, bis er mich zu heller Empörung gebracht hatte, und ich ihm vor versammelter Mannschaft zornbleich und flammenden Auges sein Unrecht ins Gesicht schleuderte. Das hatte er offenbar herbeiführen, hatte sehen wollen, ob in diesem leidlich begabten Bengel auch ein Charakter stecke. Er reagierte auf meine Rebellion wie ein Vater: "Sie sind ja ein ganz gefährlicher Mensch, ein ganz gefährlicher Mensch!"; von Stund an war ich sein erklärter Liebling. Ich habe bei ihm nicht nur wissenschaftlich arbeiten gelernt: er korrigierte unverdrossen auch fünfzig Seiten lange Aufsätze, wenn Verstand drin war; und wie produktiv war seine Kritik! Wie wußte er uns zu Logik und Stilgefühl anzuleiten! Noch heute denke ich bei der Niederschrift meiner Bücher: "Hier würde Voigt genau diesen Übergang von einem Gegenstande zum anderen wählen." Wie man sich eines [S.50] Stoffes bemächtigt, wie man die Notizen sammelt und ordnet, wie daraus das lebendige Ganze erwächst, gleich einem Naturwesen: das hat mich Ernst Voigt gelehrt, der Mann, dem ich nächst meinen Eltern das meiste danke. Und er lehrte uns nicht nur unsere Schulweisheit: ich habe z. B. bei ihm gelernt, wie man sich zu verbeugen hat. Er hatte mir die Aufgabe gestellt, bei ihm um seine Tochter anzuhalten! (Er hatte keine Kinder.) Ich sollte einem etwas stoffeligen Mitschüler die Szene vorspielen. Ich erstieg das Katheder, ergriff seinen Zylinderhut - er wand sich vor Lachen - und ich verschwand aus der Klasse, um nach mehrmaligem Anklopfen als sehr schüchterner Liebhaber wiederzuerscheinen. Aber dem Regisseur gefiel mein Kompliment nicht, und so machte er es mir vor, bis ich es tadellos nachahmte; noch heute denke ich bei jeder Verbeugung an jene fröhliche Begebenheit. Ein anderes Mal ließ er in Sekunda die berühmte Szene aus Vergils Äneis aufführen, wo Neptun, heimkehrend, den von Juno gegen den Sohn des Anchises heimtückisch erregten Sturm beschwichtigt, indem er die wütenden Winde andonnert: "Quos ego". Er übersetzte das mit: "Euch soll doch gleich der Teufel holen!" Kein Darsteller des Neptun konnte es ihm recht machen; einen nach dem anderen drückte er mit nerviger Faust unter die Wogen des veilchenfarbenen Ozeans, dargestellt durch das Schulpult, während die übrige Klasse ihre Rolle glanzvoll durchführte, mir Heulen, Fauchen, Brüllen die gegeneinander tobenden Notus, Eurus und Boreas (von Zephyr keine Rede, wenigstens von keinem sanften) darzustellen und dabei einen Lärm zu machen, der das alte Schulhaus, unseren "Stall", erschütterte. In den anderen Klassen werden die Schüler neidvoll, die Pauker kopfschüttelnd gedacht haben: da ist wieder mal Voigt mit seiner Bande los. Der Hüllenspektakel dauerte lange, da ein Neptun nach dem anderen als untauglich verworfen wurde. Endlich fand sich der rechte, ein älterer, wenig beachteter Mensch, der sich immer hochmütig zurückgehalten hatte, ein gewisser Sonnemann. Er hatte, so ging das Gerücht später, die Absicht, Schauspieler zu werden, und soll dramatischen Unterricht genossen haben. Als die Reihe an ihn kam, schmetterte er zu allgemeiner Überraschung mit einer wahren Löwenstimme und fabelhaftem Ausdruck die Götterworte heraus. (Ihm fiel dann auch bei der Primaneraufführung des "Ajas" in griechischer Sprache selbstverständlich die Hauptrolle zu; das Auditorium war starr, als das prachtvolle Organ zuerst erklang: "Cairetn, ¢AJana, catre, [S.51] diogeneV tecnon" Ich sang - wenn man so sagen will - im Chore mit: "ActiV aeliou". Ich bin nicht sonderlich musikalisch, aber die Melodie sitzt noch heute fest.)

Mit diesem Auftritt war der "Auftritt" beendet. Voigt hob nur den Finger, und wir mehr als dreißig ausgesuchten Lausbuben oben saßen wie die Spatzen auf der Stange, muckstille, und der Unterricht nahm seinen Fortgang. Voigt konnte alles mit uns machen; er erzählte von seinen Mensuren als Berliner "Germane", von seinen Räuschen und Streichen: all das vermehrte nur unsere Liebe und Verehrung. Ich bin ihm zuletzt hinter das Geheimnis gekommen und habe es in meiner Praxis als Vater zweier Söhne und als akademischer Lehrer gut angewendet; er sprach zu uns in der "Männersprache", die wir Jungen unter uns ja auch sprachen, und von der wir genau wußten, daß auch die Älteren sie untereinander gebrauchten, aber uns gegenüber wie ein sakrales Geheimnis verschwiegen: die Sprache, die das Natürliche mit unbekümmerter Derbheit bei Namen nennt; die "Pauker" wären tief entsetzt gewesen, wenn sie ihn hätten hören können! Freilich: um das zu wagen, mußte man selbst ein Mann von vollkommener Natürlichkeit und Freiheit von allen Vorurteilen, durfte man kein "Bonze" sein. Und das war Ernst Voigt wahrlich nicht, sondern jung bis in das Mark seiner Knochen.

Noch zweier anderer meiner Lehrer will ich dankbar hier gedenken, denen ich wissenschaftlich und menschlich viel schulde. Der eine war Paul Goldschmidt, unser Historiker, der uns Primanern zweimal wöchentlich richtige akademische Vorlesungen über neuere Geschichte hielt, an die ich noch heute mit Entzücken denke. Mit geringerem Entzücken denke ich freilich der einmal wöchentlich abgehaltenen Repetition, einer Qual für den wackeren Mann, der nicht das geringste Zeug zu einem Pädagogen hatte und durch falsche Anwendung der sokratischen Methode sich und uns zur Verzweiflung brachte, uns um so mehr, weil wir ihn wirklich liebten, und er uns ehrlich leid tat. Ich habe niemals vom Examen geträumt, aber noch heute träume ich zuweilen von diesen Stunden der unfruchtbaren Not.

Der andere meiner Lehrer war Professor Püschel, ein verdienter griechischer Archäologe, den in jungen Jahren in seinem geliebten Hellas eine Seuche hinraffte, als er Ausgrabungen anstellte. Er war aus gutem, reichem Hause, immer soigniert, und so ein starker [S.52] Gegensatz gegen die meisten seiner Kollegen, denen man die kleine Kinderstube ansah. Ein Mann von Haltung, von Welt, ja, ein vornehmer Mann. Er gab uns fakultativen Unterricht in Englisch, morgens von sieben bis acht. Einmal hatte ich verschlafen und traf ihn auf der Treppe, als er um acht Uhr die Klasse verließ. Er blitzte mich durch die goldene Brille an, und sein tadelloser Zylinder mit den acht Reflexen blitzte ebenso drohend: "Warum sind Sie nicht zur Stunde erschienen?" Ich, sehr höflich, den Hut in der Hand: "Ich bitte sehr um Entschuldigung, ich habe verschlafen." Da nahm Professor Püschel in weitem Schwung den Hut ab, machte mir eine tiefe Verbeugung und schritt ohne ein weiteres Wort die Treppe hinunter. Wie gut verstand ich ihn! Seine Geste sagte mir: "Du brauchst keine Ausrede, du bist ein Gentleman, ich achte dich." Mir war, als hätte ich die Waffenweihe erhalten!

Im Februar 1881 bestand ich das Abiturientenexamen. Wir waren achtzehn, von denen nur zwölf bestanden; mir wurde die mündliche Prüfung erlassen. Das erste große Ziel war erreicht; zum ersten Male in meinem Leben empfand ich das peinliche, fast wehe Gefühl, daß eine Türe hinter mir zuschlug; das neue Ziel war noch nicht klar erkannt, und ohne Ziel konnte und kann ich mir das Leben nicht vorstellen. Aber die Trübsal wehrte nicht lange; vor mir lag das Paradies des Studentenlebens und "zu neuen Ufern lockt ein neuer Tag".

[S.53]

EXTRAWÜRSTE

Der Berliner meiner Jugendzeit hatte es noch nicht so nötig, sich außer dem Hause zu amüsieren, wie der Berliner von heute. Denn sein Leben war noch nicht so nervenzerrüttend; man arbeitete wohl schon damals schneller und hingegebener als sonst irgendwo in Deutschland; das ist nichts anderes als die Wirkung des unvergleichlichen Klimas, dieses stählernen und stählenden Seeklimas, das der Stadt beschieden ist. Ich sage das nicht aus Lokalpatriotismus, sondern aus eigener und fremder Erfahrung. Erst seit ich viele Jahre lang im schönen Frankfurt am Main zu leben hatte, weiß ich, warum die Römer Deutschland als das "neblichte Germanien" bezeichneten; man lebt dort und am ganzen Rheine unter fast ewig bedecktem Himmel; die Frankfurter sagen: "Wie in der Waschküche" und geben bereitwillig zu, daß man in ihrer Stadt bedeutend mehr Schlaf und Ruhe braucht als in Berlin. Aber seit meiner Jugend hat sich das Tempo und die Verantwortung der Arbeit in ganz Deutschland außerordentlich gesteigert, und Berlin hat die Spitze gehalten. Darum braucht sein Einwohner mehr Zerstreuung außer Hause als sein Vater und Großvater. Die Gebildeten hatten ihre Freuden zu Hause; sie hatten die Klassiker nicht nur schön gebunden im Schranke stehen, sondern lasen sie auch; sie vereinigten sich, um "mit verteilten Rollen" ernste Dramen zu lesen; in solcher Vereinigung im Hause des berühmten Kreisphysikus Dr. Falk in der "Gott- soll-schützen-Straße", wie der witzige, oft allzu witzige Gastgeber sagte, war ich durch zwei Winter hindurch der erste Held und Liebhaber; in musikalischen Häusern wurde auch noch viel Kammermusik getrieben, und Alexander Moszkowski sagte davon: "Es gibt zweierlei Gattungen musikalischer Menschen; die eine macht gern Musik, und die andere hört es nicht gern." Es gab nur wenige Theater, es gab nur den einen Zirkus von Renz, der nur kurze Zeit im Jahre in Berlin Vorstellungen gab, nur einen besseren Chor, in der Singakademie, und nur wenige künstlerische Orchester neben dem Bilseschen im Konzerthause in der Leipziger Straße, wo es noch bei Kaffee und Kuchen sehr kleinbürgerlich zuging; hierher führten sorgliche Mütter mit Vorliebe ihre mannbaren Töchter. Und es gab natürlich noch kein Kino. Kein einziges Kino!

[S.54] Das Angebot folgt immer der kaufkräftigen Nachfrage. Es gab noch nicht soviel Geld in Berlin für Außerhaus-Vergnügungen. Die Fremden, die kamen, waren unendlich viel weniger zahlreich und ebensoviel weniger kaufkräftig als heute. Und das gleiche gilt für die Eingeborenen. Ein Taler hatte sehr viel höheren "objektiven" und noch viel höheren "subjektiven" Kaufwert. Objektiv: es war alles viel billiger zu kaufen, und subjektiv: man hatte durchschnittlich viel weniger Taler auszugeben als heute; das "freie Einkommen" war viel geringer. Fünfzig Taler nahm mein Vater auf seine alljährige Badereise nach Karlsbad mit, mit fünf Talern habe ich die erste, mit Unterrichtsstunden selbstverdiente Hose (nach Maß) bezahlt. Noch heute bedeutet mir der Ausdruck "Fünfzig Taler" viel, viel mehr als der offiziell gleiche "Hundertundfünfzig Mark"; wenn ich nach Anweisung der Grenznutzentheoretiker schätzen sollte, so würde die subjektive Gleichheit erst bei ungefähr fünf- bis sechshundert Mark gegeben sein.

Dennoch wurden uns Kindern nach Möglichkeit Extrawürste gebraten. Dazu gehörte nicht das wenige an Sport, das damals schon in Übung war; Schlittschuhlaufen im Winter, Schwimmen im Sommer verstand sich von selbst: ich habe in Fürstenwalde bei den Ulanen das Schwimmen gelernt, als Zehnjähriger, bei Gelegenheit einer Sommerfrische, die meiner Mutter nach der Geburt meines jüngsten Bruders, des jetzigen Professors Carl Oppenheimer, dringend not tat. Beides gehörte so selbstverständlich zur Erziehung wie das Stenographieren, das ich im alten Abgeordnetenhause am Dönhoffsplatz mit zehn Jahren erlernte. Aber die Eltern gönnten uns auch sonst gern alles, was die schmalen Mittel erlaubten.

Das erste Theater, das ich sah, war das "mechanische", das uns in einer Schülervorstellung in der "Tonhalle" vorgeführt wurde. Es gab unter anderem die "Eroberung von Sewastopol" mit sehr viel Geknalle von kleinem und großem Gewehr. Ein paarmal waren wir in Brockmanns Affentheater im südlichen Teile der Friedrichstraße: Wilhelm Raabe hat es in seiner "Chronik der Sperlingsgasse" schöner geschildert, als ich es vermöchte; mir ist vor allem die kunstreiche Ziege im Gedächtnis geblieben, die mit den vier schlanken Füßchen auf einem Flaschenhalse stand. Dann gab es öfter im Opernhause die Keimform des heutigen Kinos, nämlich Vorstellungen mit der "Laterna Magica"; es roch dort so wunderbar nach Weihrauch! Den Einzug der siegreichen Truppen 1871 durften wir [S.55] mit den Eltern von teuren Plätzen aus einem Konditor-Schaufenster der damaligen Königgrätzer Straße mit ansehen; und zum Weihnachtsmarkt auf dem Schloßplatz wurden wir als Jüngere regelmäßig geführt; als Ältere zogen wir allein los, jeder mit dem phantastischen Vermögen von zwei guten Groschen in der Tasche. Ach, wie schwer wurde die Wahl; auf der einen Seite lockten die niederen Genüsse der "Waffeln", die dort gebacken wurden (nie vergesse ich den Schmalzgeruch) und der Pfefferkuchen; auf der anderen Seite gab es höhere Genüsse. Grausames Geschick! Ich erwarb für mein ganzes Vermögen ein "kartesianisches Teufelchen", und es war "kaputt", ehe ich nach Hause gelangte! Einmal nahmen die Eltern auch Karten für sich und uns zu einer großen Wohltätigkeitsvorstellung im Opernhause; ich hörte, das einzige Mal, die Lucca und sah, was wenige gesehen haben werden, die beiden beliebtesten Komiker Berlins, den feinen Döhring vom Königlichen Schauspielhaus und den drastischen Helmerding vom Wallner-Theater in einem Lustspiel: "Papa hat's erlaubt".

Kennt man noch die reizende Geschichte dieser beiden Konkurrenten um die Gunst der Berliner? Döhring fragte einmal an der Bude unter den Linden nach dem Preise einer Ananas; sie sollte zweiundeinenhalben Taler kosten. "Hui, ist das teuer", sagte Döhring. Und die Verkäuferin, schwärmerisch: "Für einen so großen Künstler ist nichts zu teuer, Herr Hofschauspieler." Sehr geschmeichelt erstand der famose Alte die Frucht; als er gleich darauf Helmerding traf, erzählte er ihm mit Stolz, wie populär er sei. "Hm", sagte Helmerding und rief den ersten Schusterjungen an, der ihnen in die Quere kam: "Junge, kennste mir?" Der schwärzliche Knabe verzog den Mund bis zu den Ohren: "Ick soll Nauk'n nicht kennen?" "Jut, mein Sohn, hast 'n Sechser." Und zu Döhring: "Sehnse, Kollege, Ihnen kost't Ihre Popularität zweeuneenhalben Dahler, un mir een'n Sechser." Die Ananas schmeckte weniger gut als erhofft.

Mein Vater, der Helmerding noch aus seiner Junggesellenzeit in Berlin kannte, wußte unzählige Geschichtchen von ihm zu erzählen. So kam er einmal ins Viktoria-Café beim alten Viktoria-Theater und berichtete schluchzend, Reusche, sein fast ebenso volkstümlicher Kollege, sei plötzlich gestorben. Da trat Reusche selbst in eigener Person zwischen die ehrlich Trauernden, und Helmerding flüsterte: "Pscht! Seid stille! Er weeß et noch selber nich!"

[S.56] Ja, und da war noch Bellachini, der große Zauberkünstler, zu dem, wie er selbst erzählte, Kaiser Wilhelm einst gesagt hatte: "Nu, Bellachini, wie is es denn doch mit de Ringe?" Seine Wiege hatte nicht in Italien, sondern irgendwo in einem ostjüdischen Ghetto gestanden. Und da war selten der Zirkus Renz und ab und zu eine Landpartie nach Gesundbrunnen oder gar nach dem fernen Französisch-Buchholz oder Niederschönhausen. Und in den Weihnachtsferien war die große Ausstellung bei Kroll: ausgestopfte Löwen und anderes Raubzeug in schön gestellten Gruppen, Grotten aus Papiermaché und Himmel aus Gaze mit Engeln und dem Weihnachtsmann: damit begann, soviel ich denken kann, die Invasion des gräßlichen Kitsches, der dann in den Dichtungen von Julius Wolff und den altdeutschen Bierstuben nach Art des "Kyffhäuser" in den Stadtbahnbögen seinen Gipfel erstieg. Uns aber, seien wir ehrlich, gefiel es damals "baß", um im Stil zu bleiben.

Man sieht: wenn wir auch nicht, wie die heutige Jugend wöchentlich ein oder mehrere Male ins Kino gingen, wir hatten doch Extrawürste genug; die Eltern wußten die Weisheit des Wortes zu würdigen: "Chose superflue, chose tant nécessaire"; und die Zwischenräume waren groß genug, daß wir immer wieder den vollen Genuß des Erlebnisses und vor allem der Erwartung hatten, die, gestehen wir es uns ein, doch das beste an den Dingen ist. Hat es schon einmal in der Küche eines Luftschlosses geraucht oder durch ein Dach geregnet?

Als ich größer wurde und über eigene Einnahmen aus "Stundengeld" verfügte, ging ich natürlich viel ins Theater, unter dem Motto: "Vom hoh'n Olymp herab kam uns die Freude". Was lag daran, vor einer großen Klassikervorstellung zwei Stunden lang Schlange zu stehen und dann, mit der erbeuteten Karte in der Hand, keuchend im Wettlauf die vier oder fünf steilen Steintreppen emporzusausen, um einen der wenigen Sitzplätze zu ergattern, oder schlimmstenfalls, wenn andere früher aufgestanden waren, drei bis vier Stunden zu stehen? Niemann im "Tannhäuser" oder Döhring und die köstliche Frieb-Blumauer, die beste komische Alte ihrer Zeit, in den "Zärtlichen Verwandten" waren jedes Opfer wert.

Eine Zeitlang war Ludwig Barnay mein Liebling; ich versäumte kaum eine der Vorstellungen, die er im alten "Nationaltheater" am Weinbergsweg gab. Das Ensemble war schwach genug, daß auch cm weniger guter Schauspieler sich von dieser Folie leuchtend abgehoben [S.57] hätte. Und dabei spielte er lauter "Bombenrollen" in heute verschollenen Stücken, die schon zu ihrer Zeit den großen Stars auf den Leib geschrieben worden waren: "Montjoie, der Mann von Eisen", "Kean", den Lord in "Jane Eyre, die Waise von Lowood", "Lorbeerbaum und Bettelstab"; auch als König Lear und in anderen klassischen Rollen habe ich ihn gesehen und glühend bewundert. Erst viel später habe ich begriffen, was ein künstlerisches Ganzes auf der Bühne bedeutet, wie sich denn überhaupt mein ästhetischer Geschmack sehr spät entwickelt hat. Als ich die erste Vorstellung im Deutschen Theater gesehen hatte, "Kabale und Liebe" mit Barnay als Präsident, Friedmann als Wurm, Kainz als Ferdinand, mit fast allen anderen Rollen, außer der Luise (die Ramazetta) in gleich glorreicher Besetzung, und dieser Himmel von Sternen erster Größe zu einem leuchtenden Sternbild zusammengefaßt durch eine nur auf das Ganze strebende und schauende Regie - da rannte ich nachher stundenlang, Hut in der Hand, mit glühendem Kopfe allein immer den Schiffhauerdamm hin und her, im Tiefsten aufgewühlt von dieser ungeheuren Verkörperung der revolutionärsten Dichtung, aufgewühlt als Bürger und als Empfinder. Damals mag zuerst schüchtern in meinem Geiste der Gedanke aufgetaucht sein, auch ein Dichter zu werden und gleich dem großen Kollegen Schiller - damals war ich schon Mediziner - das Theater als "Volksbildungsanstalt" zu benutzen.

Ich habe wieder vorgegriffen. Genüsse geringerer dramatischer Würde hatten wir im alten Viktoria-Theater - es ist längst verschwunden -, wo die dramatisierten Werke von Jules Verne in unzähligen Aufführungen "verarztet" wurden. Ich entsinne mich der "Reise um die Erde in achtzig Tagen" und des "Kurier des Zaren". Kurz vor dem Verschwinden des alten Baues hat Berlin, und habe ich mit ihm, dort die erste Aufführung des "Rings der Nibelungen" durch Angelo Neumann genossen. Der Besitzer des riesigen Hauses war der Kommissionsrat Cerf, ebenso bekannt wie der ihm stammesverwandte Engel von Kroll. Ihm hatte einst nach einem heftigen Streit Reusche die Arithmetik des Kommissionsrats erklärt: "Ein Kommissionsrat ist ein Rat fünfter Klasse, hat den Kronenorden vierter Klasse (das war nächst dem "Allgemeinen Ehrenzeichen" der niederste aller Orden Preußens und schon fast eine "Realinjurie"), fährt Eisenbahn dritter, Droschke zweiter Klasse und ist ein Rindvieh erster Klasse". Der Brave war wohl schon zu seinen Vätern in [S.58] Abrahams Schoß versammelt, als ich von ihm hörte; aber seinen Kollegen Engel habe ich noch Unter den Linden gesehen und konnte den jetschwarzen Schnurrbart und die ebenso schwarzen Augenbrauen bewundern, von denen er einst zu Kaiser Wilhelm gesagt haben soll, als der Weißbart diese Jugendschönheiten des Altersgenossen bewunderte: " Im Vertrauen gesagt, Majestät, alles geforben!"

Auch Ernestine Wegener, den berühmten Star des Waliner Theaters, habe ich noch gesehen, und gar in ihrer besten Rolle, als "Jüngsten Leutnant", und Volksstücke von der Art des "Mein Leopold" und der unverwelklichen Komödien Raimunds "Der Bauer als Millionär", "Lumpazivagabundus" usw. Und im Berliner Prater an der Ecke der Pappelallee und Schönhauser Allee die saftigen Berliner Dialektstücke.

Später bin ich als Student ein paarmal als Statist am Opern- und Schauspielhaus dramatisch tätig gewesen. Der Statistenmeister nahm gern Studenten, weil diese traditionsgemäß auf die "acht Juten" verzichteten, die der Etat für die unentbehrliche Komparserie je Kopf auswarf. Da konnte ich den angebeteten Niemann aus nächster Nähe bewundern; und einmal habe ich erlebt, es war im "Lohengrin", daß Frau Voggenhuber, die Primadonna, sich mitten in einer Arie umdrehte und den Kollegen sehr vernehmlich zuflüsterte: "Ick schrei mir dodt." So kam ich früh auf die Bretter, die die Welt bedeuten. Einmal kehrte ich noch dahin zurück, als dramatischer Dichter - - mit Respekt zu vermelden. Davon ein andermal.

[S.59]

WANDERUNGEN UND REISEN

Vater war ein unermüdlicher Wanderer und nahm uns mit, wo es möglich war, das heißt, meine ältere Schwester Paula und mich; die jüngere, Elise, war mehr fürs Haus und "kochte" lieber für ihre Puppen; sie ist denn auch eine ausgezeichnete Hausfrau geworden und genießt noch heute als die Gattin des Leipziger Ägyptologen Georg Steindorff den entsprechenden Ruf, den sie durch eine umfassende Fürsorge für die öffentlichen Notstandsküchen während des Krieges noch gesteigert hat. Aber Paula und ich waren mehr fürs Poetische; wir rezitierten uns, eng aneinandergeschmiegt, abends im Bette ganz leise, daß die Eltern nebenan nichts hörten, den halben Echtermeyer und unsere Kinderbücher, vor allem die ganz reizende, noch heute lesenswerte "Reise ins Meer" des Frosches "Junker Grün", eine poetische Einführung für Kinder in das "Aquarium", das damals Unter den Linden, Ecke Schadowstraße, eine große "Attraktion" der Hauptstadt bildete. Und wir kannten nichts Schöneres, als mit Vater zu spazieren. Das geschah zumeist im Tiergarten, den er in jedem Winkelchen kannte, aber auch auf weiteren Märschen. Wenn wir müde wurden, fing er an, Märchen zu erzählen, und brachte uns immer heim, ehe wir merkten, daß die Füße wund waren. Ich habe dem lieben alten Herrn denn auch als "meinem ersten Wanderlehrer" mein erstes Prosabuch gewidmet: "Die Ferienwanderung": Aufsätze in der Vossischen Zeitung vom Jahre 1893, betitelt:,, Die Vorteile des Wanderns, die Kunst des Wanderns, Tiroler Wanderbriefe". Es war mein erster und vielleicht größter journalistischer Erfolg; noch heute werde ich von alten Berlinern daraufhin angeredet, die aus den frohen Schilderungen die Anregung zur Bergwanderung und die ersten Grundzüge der Wandertechnik gewonnen haben. Ich darf sagen, daß ich mit meinen Freunden ein Stück vom Leben und Ideal der "Wandervögel" vorweggenommen habe, wie ich auch in meinem Berliner Seminar eine der ersten "Gemeinschaftsgruppen" schaffen konnte. Im übrigen hatte das Buch genau so großen Mißerfolg wie die Aufsätze Erfolg; Fontane & Co., die es verlegten, haben schwer daran zugesetzt; fast niemand kaufte es: habent sua fata libelli! Seitdem weiß ich, [S.60] daß die scheinbar sichersten Tips im Verlagsgeschäfte sich als Nieten erweisen können.

Die erste Reise machte ich als Vierzehnjahriger mit Vater in seine Heimat; ich war stolz, meinen Anteil aus eigenen Ersparnissen und Verdiensten tragen zu können. Wir besuchten Vaters Geschwister in Karlshafen, Uslar und Heiligenstadt im Eichsfeld und weiter westlich in der Gegend von Warburg; ich lernte sehr liebe Onkels und Tanten und eine Unmasse von Vettern und Basen kennen, mit denen ich mich ausgezeichnet verstand, namentlich mit den Basen von ungefähr tausend Wochen. Das wunderschöne Bergland, die endlosen Laubwälder, die schnellen Bäche und Ströme, Werra und Fulda, Weser und Leine: all das war das Entzücken des Sohnes der armen Mark: und dennoch, so viel von Gottes schöner Welt ich seit dem gesehen habe, vom Nordkap bis Sizilien und Ägypten und Palästina, von Hellas und dem Pontus bis zum Potomac und Michigan: Heimat ist Heimat, und noch heute stelle ich einen märkischen See im Dämmerglanz eines Spätsommerabends, wenn sein Kiefernkranz rot erglüht, getrost neben die berühmtesten Landschaften der Welt. Meine Havelseen, ich grüße euch; an euch habe ich zuerst erkannt, was die Herrlichkeit der Natur ist, an euren Ufern trank ich zuerst "was die Wimper hält, von dem goldnen Überfluß der Welt". Der Süden ist schön; aber als ich zum ersten Male aus Italien heimkehrte und im Morgengrauen eines Maitages im südlichen Elsaß aus dem schweren Eisenbahnschlaf erwachte; als ich die Sonne durch das junge Buchenlaub schimmern sah und dabei an das harte glitzernde Zeug der Blätter Italiens dachte, da sang es laut in mir: "Nur in Deutschland, ja nur in Deutschland will ich ewig leben."

Nach dem schönen Thüringer Nestchen Heiligenstadt bin ich seit dem oft zurückgekehrt, das sich mit seinen beiden stolzen Pfarrkirchen so wohlig zwischen seine Berge, den Iberg und den Dün, schmiegt, und das wohl schon längst ein hochberühmter Sommerplatz wäre, wenn nicht die es völlig beherrschende katholische Geistlichkeit den schlimmen Einfluß auf die Tugend ihrer Schäfchen fürchtete; wer kann sagen: mit Unrecht? Dort wohnte ein mir besonders lieber Vetter, Gustav Oppenheimer, der bis vor kürzester Zeit als hochgeachteter Sanitätsrat in Halle wirkte; er war mein Studiengenosse durch frohe Jahre und war mir lebenlang ein treuer Freund. Seine Gutmütigkeit war sprichwörtlich; ich wettete einmal [S.61] mit enem anderen unserer Bande, daß er nur schmunzelnd sagen würde "Schweinehund", wenn wir ihn mitten in der Nacht im Bette überfielen und verdröschen: und ich gewann meine Wette glanzvoll. Mit ihm und zweien seiner Mitschüler habe ich als Primaner eine unvergessliche Harzreise gemacht, fast ohne alles Geld, in maßlosen Märschen - damals mußte man immer Rekorde brechen - und dennoch voller Jugendfreudigkeit. Als wir in Walkenried die Karten zur Rückfahrt lösten, selbstverständlich "standesgemäß" "zweimal zweiter Klasse", da stellte sich heraus, daß es für zwei von uns nur bis zum letzten Dorfe vor Heiligenstadt reichte; danach blieb der Kassenbestand von baren sechs Pfennigen, den wir im Galgenhumor in einem Kümmel anlegten; wir wären auf der Heimreise an dem glühenden Tage verdurstet, wenn nicht ein Steinmetz aus Heiligenstadt in schnellem Verstehen hinter den wahren Grund unserer Weigerung gekommen wäre, ein Glas Bier zu trinken. ,,Jungens, ihr habt kein Geld!" Und so vertranken wir den Taler gemeinsam, den ich ihm, ich muß es zu meiner Schande gestehen, einige Tage zuvor hatte auszahlen müssen, um einen Grabstein zu ersetzen, der bei einer unserer nächtlichen Streifen zu Schaden gekommen war.

Damals war ich schon ein erfahrener Wanderer und hatte die Weisheit des Griechenwortes erprobt, das Goethe seiner "Dichtung und Wahrheit", und das ich selbst jenen Aufsätzen in der "Vossischen" voranstellte: "Der Mensch, der nicht geschunden wird, lernt nichts". Ich hatte mit unserem unvergeßlichen Turnlehrer Robert Pape zwei Pfingstfahrten durch das Riesengebirge gemacht und dabei reichlich Erfahrungen über schlecht sitzendes Schuhzeug und andere folgenschwere Dinge gesammelt. Da wurden wir Jungen herangenommen, daß es nur so eine Art hatte, nicht nur in langen Märschen, sondern auch in anderer Beziehung. Wir frühstückten einmal in der Spindlerbaude und tranken arglos von dem jungen Ungarwein, der dort, jenseits der österreichischen Grenze, sehr billig war. Es war nicht etwa ein Saufgelage; die meisten hatten nur ein halbes Fläschchen. Solange wir saßen, war nichts zu spüren; ich entsinne mich, daß ich kurz vor dem Aufbruch einem Mitschüler eine schwierige mathematische Konstruktionsaufgabe auf den Tisch zeichnete und die Formeln der Lösung aufschrieb. Dann wurde zum Aufbruch geblasen, und in dem Augenblicke, wo wir an die scharfe Kammluft kamen, lag mehr als die Hälfte von uns hilflos [S.62] im Grase. Ich konnte mich mit Mühe aufrecht halten, war aber zum Zusammenbrechen schläfrig; es dauerte lange, bis wir die Gesellschaft einigermaßen marschfähig hatten; einen, der wohl etwas mehr des Guten getan hatte, mußten die Stärksten das "Hohe Rad" geradezu hinaufschleppen. Dann ging es stundenlang an einem klaren Bache hin; wir waren von einem vernichtenden Durst geplagt, aber Pape hatte es zu einer Ehrensache gemacht, daß niemand trinke: das Wasser sollte Arsenik enthalten. Damals habe ich die Qualen des Tantalus kennengelernt. Aber: geschunden und gelernt! Meine beiden Jungen, die dem Wandervogel schon in seiner Frühzeit angehörten, machten es sich gemütlicher als wir; das Tempo war wesentlich geringer; es fiel ihnen nicht ein, mindestens sechs Kilometer die Stunde zu gehen, und sie machten einen "Punkt", wo es ihnen gefiel. Vielleicht hatten sie recht: aber ich glaube, wir hatten auch recht; die Wahrheit liegt wohl in der Mitte. Man soll sich im allgemeinen nicht hetzen, aber es ist jungen Menschen gut, zuweilen bis an die Grenze der Leistungsfähigkeit zu kommen, und das heißt, viel mehr aus sich herauszuholen, als man selbst für möglich hält. Es gibt bei jedem Sport einen "toten Punkt", wo der Körper streiken möchte; hat man ihn überwunden, so geht es fast unbegrenzt weiter. Mir hat es als Einjährig-Freiwilligem bei den Gardefüsilieren, genannt "Maikäfer", und noch mehr bei einigen Bergbesteigungen, wo unerwartete Schwierigkeiten auftraten, sicher sehr gut getan, daß ich von dieser nahezu grenzenlosen Dehnbarkeit der menschlichen Kraft wußte. Es waren zuweilen Lagen, in denen nur das unbedingte Vertrauen in sich selbst die Katastrophe verhüten konnte, die durch Mutlosigkeit um so eher herbeigeführt worden wäre: denn Mutlosigkeit lähmt. Mut verloren, alles verloren! Wir haben zuweilen weidlich geflucht, wenn es unter ungünstigen Verhältnissen so sehr viel schwerer war und so sehr viel länger dauerte als vorausgesehen, aber wir haben niemals einen Augenblick daran gezweifelt, daß wir "es packen würden". Meine zweite Überschreitung des Piz Bernina hat volle 22 Stunden gedauert, und wir hatten nichts zu essen, weil die "Kaloritkonserven" nicht warm werden wollten; und als wir einst in Edolo ankamen, nachdem wir den Adamello überschritten und durch das Val Miller auf einem höllischen Wege abgestiegen waren, wollte der Wirt es nicht glauben, daß wir in einem Tage von der Mandronhütte dorthin gelangt waren. [S.63] Wir haben selten den Humor und niemals den Mut verloren. Es gibt eben auch ein Training der Seele!

Aber wir machten nicht nur in unseren Ferien große, sondern nach Möglichkeit auch in der Schulzeit kleinere Wanderungen. Wir waren vier Freunde mir vier Schwestern, von denen meine gute Paula die eine war. Dieses doppelte vierblättrige Kleeblatt wanderte im Sommer und tanzte und lief Schlittschuh im Winter. Wir trafen uns auf dem "Schützenplatz" in der Linienstraße oder, wenn das Eis hielt, auf der Rousseau-Insel oder dem Neuen See und gingen dann gemeinsam in eine der Familien, um ein bescheidenes Abendbrot zu nehmen und danach zu tanzen; waren wir doch ein vollständiger Contretanz und Quadrille. An einen dieser Abende knüpft sich für mich eine lustige Erinnerung. Als ich vor die Tür des Hauses in der Wallnertheaterstraße trat, wo einer der Freunde mit seinen beiden Schwestern wohnte, erblickte ich das schönste Glatteis, das jemals Berlin unpassierbar gemacht hat. Die anderen fanden eine Droschke, die sie im langsamsten Schritt des verängstigten alten Gaules beförderte (die Droschkenpferde zweiter Klasse waren berühmt; der Berliner sagte von ihnen, sie seien schneller als der Gedanke: "Du denkst, et fällt, und et liegt schon"). Ich aber hatte die Schlittschuhe bei mir, befestigte sie mit einem Federdruck - es waren die neu eingeführten riemenlosen "Halifax" - und fegte in langen Bögen über die spiegelglatte Fläche heim. Ich sauste über den verlassenen Schloßplatz, den damals noch der "Schloßbrunnen" nicht zierte, wie ihn der Kaiser getauft hatte, während ihn die Berliner nach dem Dreizack des Neptun einerseits und nach dem üblen Empfang, den der Kaiser der Deputation unter dem Oberbürgermeister Forckenbeck bereitet hatte, als sie ihm dies Geschenk der Stadt überbrachten, als das "Forkenbecken" oder wohl auch nach dem damaligen Kriegsminister v. Kaltenborn-Stachau als den "Kaltenborn" bezeichneten. Wo heute Neptun steht, stand damals ein einsamer Schutzmann. Nun war im alten Preußen bekanntlich alles verboten, was nicht ausdrücklich erlaubt war (in England war es umgekehrt, und in Österreich war alles erlaubt, was verboten war), und das Schlittschuhlaufen auf den Straßen war nicht ausdrücklich erlaubt. Der biedere "Blaue" schrie demzufolge gleich Onkel Nolte ein donnerndes "Halt", das ich, dicht an ihm vorbeifliegend, mit einem wohlwollenden Grinsen quittierte, worauf er sich in Trab setzte, um mich zu greifen. Aber ich schlug meinen kunstvollsten [S.64] Bogen und hörte, als ich frohlockend um die Ecke der Burgstraße "holländerte", hinter mir einen schweren Fall und einen noch viel schwereren Fluch. Da das Verbrechen lange verjährt ist, darf ich es erzählen. Das war mein erster Zusammenstoß mit dem Gesetz oder wenigstens mit dem Arm des Gesetzes; meinen zweiten erlebte ich als älterer Student, und der führte zu meiner gerechten Bestrafung. Ja, ich bin schwer vorbestraft, mit fünf Mark wegen öffentlichen Unfugs! Wir hatten bis tief in die Nacht zu vier Kommilitonen zusammen für das Staatsexamen gearbeitet und plauderten, nachdem wir dem Gastgeber Valet gesagt, noch kurze Zeit zu dreien zusammen in der stillen Sommernacht, in der kaum noch ein Hauch zu spüren war. Da tauchte, grimmigen Antlitzes, ein Schutzmann auf, der wohl irgendeine amtliche oder vielleicht auch mit der Frau Gemahlin private Unannehmlichkeit gehabt haben mochte, denn krasse Menschenfeindlichkeit erfüllte seine "zottige Brust", und er entschloß sich, von der ihm verliehenen Macht denjenigen Gebrauch zu machen, der nach Ausweis der Weltgeschichte ganz regelmäßig von Macht gemacht wird, nämlich, sie zu mißbrauchen. Er schnauzte: "Scheren Sie sich hier fort, Sie machen einen Auflauf." Gehorsam scherten wir uns, aber ich konnte mich doch nicht enthalten, halblaut auszurufen: "Es lebe der kleine Belagerungszustand." Worauf Verhaftung, Feststellung auf der Wache, Klage und Verurteilung, Mea culpa, mea maxima culpa! Damals gab es in Berlin noch eine weitverbreitete Geisteskrankheit, genannt der "Blaukoller".

Und so endet dieses Kapitel über Reisen und Wanderungen mit einer Wanderung auf die Polizeiwache in der Marienstraße, aber nicht ins Gefängnis. In dem war ich nie: "Unverdientes Glück", sagte mir einst ein Gewaltiger, als von meiner Tätigkeit als Chefredakteur der "Welt am Montag" die Rede war. Aber ich darf mich rühmen, im Zuchthause gewesen zu sein, und zwar als Posten vor dem Gewehr auf dem spukhaften Hofe, wo Hödel enthauptet worden war, und wo er, so ängstigten die "alten Leute" die Rekruten, all mitternächtlich spazierenging, den Kopf unter dem Arme.