Was der Mensch ist, verdankt er der Vereinigung von Mensch und Mensch.
Otto Gierke (Rechtsgeschichte I, S. 1)

Vorwort

In dem vorliegenden Text werden die Gemeinsamkeiten und Überschneidungen aus drei Arbeitsbereichen zusammengeführt und zum Gegenstand der Betrachtung erhoben. Diese drei Bereiche sind das Genossenschaftswesen, die Theorie der Sozialen Marktwirtschaft und das theoretische Werk des Soziologen und Nationalökonomen FRANZ OPPENHEIMER.

Als ich mich vor sechs Jahren vorwiegend mit Fragestellungen des Genossenschaftswesens beschäftigte, fiel mir auf, daß es bei der Einschätzung des makroökonomischen Systems, in dem die Genossenschaften ihre Leistungen anbieten und sich behaupten müssen, eine Reihe von Unsicherheiten gab. Die Frage, ob die Systemumwelt der Genossenschaften als »Kapitalismus«, »Marktwirtschaft« oder »Soziale Marktwirtschaft« aufzufassen ist und welche Rückwirkung die eine oder andere Zuordnung auf das Genossenschaftswesen erwarten läßt, ist für eine Selbstverortung und Kursbestimmung der Genossenschaften von grundlegender Bedeutung. Folgerichtig eröffnete GEORG WEIPPERT das erste Heft der 1950 neu herausgegebenen »Zeitschrift für das gesamte Genossenschaftswesen« mit einem Aufsatz, der den Titel »Genossenschaftswesen und soziale Marktwirtschaft« trug.

Es war in der Neugründungsphase der Bundesrepublik Deutschland für die meisten Menschen schwer vorstellbar und vor allem ohne Beispiel, daß eine »freie« und »soziale« Marktwirtschaft den Wiederaufbau Westdeutschlands leisten und auf Dauer zu Wohlstand und sozial befriedeten Verhältnissen führen sollte. Zumindest überwogen die Fragen und Unsicherheiten bei den meisten Bürgern und Experten, so daß es auch GEORG WEIPPERT kaum vorzuhalten ist, wenn er in seinem Beitrag zum Genossenschaftswesen in der Sozialen Marktwirtschaft keinen abschließend klärenden Standpunkt beziehen konnte.

Was eine »Soziale Marktwirtschaft« sei, das dürfte vor allem jener Person klar gewesen sein, die das Fundament zu dieser »Sozialen Marktwirtschaft« in der Praxis gelegt hat: LUDWIG ERHARD. ERHARD wiederum hatte bei FRANZ OPPENHEIMER studiert und promoviert, was insofern zu wissen wichtig ist, da ERHARD als praktisch agierender Politiker nicht die im Wissenschaftsbereich übliche Zitierweise pflegte, mit der man im allgemeinen die Hintergründe seines eigenen Denkens offenlegt. Er wurde wohl nicht müde, die von ihm für wahr erachteten Zusammenhänge zu erläutern und damit Andersdenkende zu überzeugen, aber er vermied [S. 14] es lange, den aus der wissenschaftlichen Literatur verbannten und zur Emigration gezwungenen OPPENHEIMER als Bezugspunkt in den Vordergrund zu stellen. Erst später sagte er in aller Deutlichkeit, daß der liberale Sozialist FRANZ OPPENHEIMER sein Lehrmeister war und hinter vielem stand, was als »Soziale Marktwirtschaft« seine erste Gestalt erhielt (↑ 123)[1]. Damit grenzte er sich offen gegenüber dem Neoliberalismus ab, der in Deutschland den Anspruch erhebt, die gültige und durch die Praxis des Wiederaufbaus bestätigte theoretische Grundlage zu sein.

OPPENHEIMER hatte sich früh als Genossenschaftstheoretiker einen Namen gemacht. In der Form des sogenannten »OPPENHEIMERschen Transformationsgesetzes« ist er bis heute noch in der Genossenschaftsliteratur vertreten, wenngleich auch nur in seltenen Fällen authentisch. Notwendige Recherchen im Zusammenhang mit dieser Gesetzesbehauptung zwangen mich, das Werk OPPENHEIMERs einer näheren Betrachtung zu unterziehen. Zu meiner Überraschung bestach dieses nicht nur durch eine Reihe bemerkenswerter Analysen und praktisch nützlicher Schlußfolgerungen; darüber hinaus war OPPENHEIMER zu Lebzeiten ein in Deutschland durchaus bekannter Soziologe und Nationalökonom, der mit Hunderten sozialpolitischer Stellungnahmen provokante Positionen bezog oder sich um politische Aufklärung bemühte. Sein überaus umfangreiches und alle Disziplinen der Gesellschaftswissenschaften umfassendes Werk ist allein von seiner Grundsätzlichkeit her betrachtet berechtigt, zu den Klassikern der Gesellschaftswissenschaften gezählt zu werden. Dennoch: hätte es nicht dieses Transformationsgesetz gegeben, wäre mir der Name OPPENHEIMER vermutlich bis heute unbekannt.

Aus diesen »Entdeckungen« erwuchsen mir zunächst zwei und später gar drei Aufgaben. Einmal war durch die geleistete Klärung des »Transformationsgesetzes« ein sozialpolitischer Diskurs eröffnet. OPPENHEIMER hatte sich mit dem Wesen des Kapitalismus wie kein zweiter zu seiner Zeit auseinandergesetzt[2] und die soziale Funktion der Genossenschaft dabei weit umfangreicher beleuchtet, als man es heute in der Sekundärliteratur dargestellt findet. Zweitens aber war die Verdrängung des OPPENHEIMERschen Werkes aus dem akademischen Diskussionszusammenhang nicht akzeptabel. Das hinterlassene Gedankengut OPPENHEIMERs mag man etwa vom Standpunkt der Soziologie aus betrachtet geringer schätzen als das Werk MAX WEBERs, aber die speziell auf dem Sektor der Wirtschaftssoziologie erbrachten Leistungen OPPENHEIMERs sind, gemessen an der Beachtung, die sie bislang fanden, mindestens um den Faktor 100 unterbewertet. Gleich um den Faktor 1000 unterbewertet sehe ich OPPENHEIMER gar auf dem Fachgebiet der Ökonomie, wo er praktisch überhaupt nicht mehr wahrgenommen wird (außer bedingt durch das »Transformationsgesetz« in den Betriebswirtschaften). Der vollkommene Wissensverlust um einen der führenden Nationalökonomen Deutschlands

[S.15] (wie man ihn in einem Nachruf der New York Times bezeichnete[3]) und um den »Großvater des deutschen Wirtschaftswunders[4]« ist ein wissenschaftsinternes Politikum. Es gibt heute keinen an einer Hochschule lehrenden Ökonomen in Deutschland, der je mit dem Werk OPPENHEIMERs in Klausur gegangen wäre und dies durch entsprechende Veröffentlichungen angezeigt hätte. Wohl gibt es zahlreiche, die über Zusammenhänge der Sozialen Marktwirtschaft forschen und lehren, aber die Mythenbildung um den Neoliberalismus ist zwischenzeitig derart hermetisch dogmatisiert, daß die dem Dogma entgegenstehende Tatsache »OPPENHEIMER« einfach nicht existiert. Selbst wenn man nach einer Prüfung zu dem Ergebnis käme, daß OPPENHEIMER der Lehre von der Sozialen Marktwirtschaft keine Erkenntnisse zu bieten hätte und doch nicht zu den wichtigen Ahnen des Modells gehört, so wäre der Aufwand einer ernsthaften Prüfung doch ein geringerer Verlust als umgekehrt eine unterlassene Zurkenntnisnahme, die sich als substantiell gehaltvoll erweisen würde. Wenn man nicht weiß, woher man kommt, dann weiß man auch nicht, wohin man geht. So kam als dritte Aufgabe für mich hinzu, die Theorie OPPENHEIMERs so darzulegen, daß ihre sozialökonomische Relevanz erkennbar wird.

DIE DREI THEMENSCHWERPUNKTE DIESER ARBEIT

Da die behandelten Sachthemen des Genossenschaftswesens und der Sozialen Marktwirtschaft ureigen OPPENHEIMERsche sind, konnte die dreifache Zielsetzung der vorliegenden Arbeit m. E. schadlos verfolgt werden. OPPENHEIMER hat 1896 in seinem akademischen Erstlingswerk mit dem Titel »Die Siedlungsgenossenschaft. Versuch einer positiven Überwindung des Kommunismus durch Lösung des Genos-

[S. 16] senschaftsproblems und der Agrarfrage« bereits alle Fragen gestellt, deren grundsätzliche Beantwortung bis heute wichtig ist. Und die darauf folgenden 40 Jahre unermüdlicher Auseinandersetzung mit diesem Thema sind auch nicht ohne Frucht geblieben.

So kommt man von der Genossenschaftsfrage unversehens zur Frage nach dem ökonomischen Gesamtzusammenhang und von dort aus auch wieder zur Genossenschaftsfrage zurück. Denn die Genossenschaften sind einst angetreten mit dem Anspruch, den kapitalistischen Verhältnissen ihrer Zeit eine soziale Kraft entgegenzusetzen. Je nach Überzeugung und Engagement trauten sich manche gar einen Umbau der ganzen Gesellschaftswirtschaft durch Ausdehnung genossenschaftlicher Organisationsformen zu. Von diesen hochgesteckten Zielen hört man heute praktisch nichts mehr, was angesichts der Rückentwicklung des einstigen Genossenschaftswesens auf die heute bescheidenen Maße und der damit einhergehenden Krisenwahrnehmung des Genossenschaftswesens in eigener Sache verständlich ist (↑ 346). Die Vergewaltigung des Gemeinschaftsgedankens während der NS-Diktatur hat die Bevölkerung zumindest in Westdeutschland stark individualistischen Idealen zuneigen lassen, die in der Aufbruchstimmung der »Neuzeit« auch reichlich ausgelebt werden konnten. Die Zerschlagung der alten liberal-sozialistischen Genossenschaftsstrukturen hat ferner die organisatorische Kontinuität in den Genossenschaften gebrochen und, was wohl noch tragischer ist, auch die Weitergabe der genossenschaftlichen Werthaltungen und Methoden im Kampf für die durch Gruppenselbsthilfe erreichbare Freiheit des Individuums. Und schließlich hat die unter LUDWIG ERHARD ständig zu mehr Wohlstand führende Soziale Marktwirtschaft den Druck wegfallen lassen, der die alten Genossenschaftsgründer früher von außen zur Erfindung ihrer Selbsthilfeeinrichtungen gedrängt hat.

Daraus könnte man folgern, daß da, wo Soziale Marktwirtschaft herrscht, keine Genossenschaft mehr vonnöten ist. Denn wo die vollkommene Freiheit aller Wirtschaftspersonen auf den Märkten gegeben ist und jeder nach seinem subjektiven Maßstab ein hohes Maß an Gerechtigkeit verwirklicht sieht, da braucht man schließlich um keine Verbesserung mehr zu kämpfen. Wozu also Genossenschaften gründen? Andererseits ließe sich fragen, wenn wirklich in einer Marktwirtschaft alles so zum Besten geordnet wäre, wäre diese Formation einer Gesellschaftswirtschaft nicht geradezu die Verwirklichung der Genossenschaftsidee?

Man sieht vielleicht schon, daß die gestellten Fragen nicht beantwortet werden können, ohne das Wirtschaftssystem und dessen soziale Implikationen zu untersuchen. Und obwohl die Bundesrepublik nun schon über vier Jahrzehnte »Soziale Marktwirtschaft« hinter sich hat, ist man sich unter den Gelehrten doch noch nicht einig, was denn diese »Soziale Marktwirtschaft« auszeichnet und ob wir eine solche Bezeichnung rechtens bis in die Gegenwart hinein beanspruchen können, um damit eine Form der Marktwirtschaft abzugrenzen, die nicht »Kapitalismus« ist.

Für den Leser, der von einer Arbeit eine Fragestellung und eine Antwort erwartet, wird die breite Anlage der behandelten Thematik möglicherweise eine Umstellung erfordern. Man kann solche Detailarbeiten mit einer Fragestellung leichter schrei-ben, wenn bei dem Verfasser und der Leserschaft eine übereinstimmende Kenntnis und Ansicht bezüglich des Rahmens vorliegt, innerhalb dem diese eine Fragestellung erwogen wird. Wenn man hingegen den Betrachtungsrahmen wechselt und sich an eine Detailarbeit begeben würde, ohne der Allgemeinheit erst einmal eine Chance zu geben, den eingenommenen Standpunkt zu beziehen, dann müßte der Versuch einer Erörterung wohl völlig fehlschlagen, weil beim Leser mehr Fragen zurückblieben als Antworten angeboten wurden. Diesen Effekt habe ich mich redlich zu vermeiden bemüht und meine doch zusichern zu können, daß,

a) wer den vorliegenden Haupttext in Gänze zur Kenntnis nimmt, mit dem System FRANZ OPPENHEIMERs hinreichend vertraut gemacht wird, um evtl. offengebliebene Fragen selber vom OPPENHEIMERschen Standpunkt aus weiterbearbeiten zu können,

b) die Thematik »Kapitalismus, Kommunismus, Sozialstaat und Soziale Marktwirtschaft« in allen wesentlichen Punkten erörtert und geklärt wurde und

c) dem Genossenschaftler aus den erörterten Zusammenhängen heraus deutlich wird, worin die Problematik in den einzelnen ökonomischen Teilbereichen besteht, inwiefern der Staatsapparat nicht nur »Recht setzt«, sondern von den Bürgern auch durch Eigeninitiativen »erobert« werden muß und welcher historische Auftrag einer (genossenschaftlichen) Selbsthilfebewegung zukommt, um einer modernen Bürgergesellschaft (↑ 362) oder ideal gedachten Sozialen Marktwirtschaft den Weg zu bereiten und bereits erreichte Schritte der Demokratisierung und Verrechtlichung unserer Gesellschaft (im Sinne zunehmender Gerechtigkeit) durch eine Ausgestaltung vorhandener Möglichkeiten und erworbener Freiheiten von unten auf abzusichern.

Um diese Thematik darzustellen, wurde die Arbeit in drei Hauptkapitel unterteilt. Der erste Teil dient einem historischen Rückblick und einer vertieften Auseinandersetzung mit dem, was auf dem Höhepunkt sozialen Elends als »Kapitalismus« bezeichnet und auch beschimpft wurde (↑ 36). Die in diesem Teil enthaltene Auseinandersetzung mit ADAM SMITH und dessen »unsichtbarer Hand«, die das Wirtschaftsgeschehen ohne Eingriffe des Staates zum Besten lenke, wird zum Ergebnis haben, daß der durch manche Sozialisten verschriene Liberalismus sehr zu Unrecht für Dinge angeprangert wird, die die auf Macht und Herrschaft versessenen Gegner einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung zu verantworten haben (↑ 68). Das soziale Gewissen und Verständnis des Altmeisters der Volkswirtschaftslehre war offensichtlich größer als jener Anhänger eines Laissez-faire-Kapitalismus, die sich anschließend durch SMITH bei der Durchsetzung ihrer eigenen Interessen legitimiert sahen. Gewisse Grabenkämpfe zwischen Liberalen und freiheitlichen Sozialisten erweisen sich im Zuge dieser Betrachtung als fehlgeleitet, was zu erkennen nicht ganz unwichtig ist, will man den im folgenden Hauptkapitel dargestellten »liberalen Sozialismus« FRANZ OPPENHEIMERs erst einmal offen zur Kenntnis nehmen (↑ 117).

Im zweiten Hauptkapitel erfolgt eine Einführung in die Theorie OPPENHEIMERs, die in der zweiten Hälfte des zweiten Hauptkapitels am Gegenstand der »Sozialen Marktwirtschaft« vertieft wird (↑ 183). Im dritten Hauptteil wechselt dann der Blick-winkel von der übergeordneten Betrachtung der Gesellschaftswirtschaft zu den verschiedenen Segmenten der Genossenschaftsunternehmen und ihrer Teilmärkte (↑ 227). Wenngleich es auch hier bei einer Selbstverortung der Genossenschaften im übergeordneten Zusammenhang verbleibt und im eigentlichen Sinne keine Betriebswirtschaftslehre der Genossenschaft angeboten wird, meine ich dennoch, daß an den betreffenden Stellen eine Reihe nützlicher Hinweise für den Praktiker vor Ort eingeflochten werden konnten, die sich unmittelbar aus dem makroökonomischen Erkenntniszusammenhang ergeben. Aussagen etwa zur Theorie des Wohnungsmarktes oder Arbeitsmarktes findet man also nicht nur in den ersten beiden Hauptkapiteln, sondern ebenso in den Abschnitten zu den entsprechenden Genossenschaftstypen. Man beachte von daher die mit dem Symbol ↑ gekennzeichneten Querverweise auf andere Stellen des vorliegenden Gesamttextes, die gegebenenfalls zur Vertiefung konsultiert werden sollten.

VEREINFACHTE GLIEDERUNGSÜBERSICHT

I. Historischer Rückblick

→ Was bedeutet »Kapitalismus«? Fakten, Ansichten, Interpretationen.

II. Die Theorie Franz Oppenheimers

a) Das Werk und seine Grundgedanken.

b) Anwendung und Übertragung auf das Konstrukt der Sozialen Marktwirtschaft.

→ Gründe, weswegen die Verwirklichung einer Sozialen Marktwirtschaft nicht dem Staat, politischen Vertretungen oder interessierten Einzelpersonen überlassen werden darf, sondern von einer breit verankerten demokratischen Bürgerbewegung getragen werden muß, um dauerhaft möglich und wirksam zu sein.

III. Das Genossenschaftswesen

→ Methoden und Wirkungen dezentral ansetzender Gestaltung von Wirtschafts-und Lebensbedingungen.

IV. Die Zukunftschance einer sozial geordneten Gesellschaftswirtschaft

→ Erkenntnisprobleme, Hindernisse, Visionen

Kapitalismus, Kommunismus, Soziale Marktwirtschaft

Eine erweiterte Einführung in das Thema

Die Umstellung von der planwirtschaftlichen Kriegswirtschaft auf ein marktwirtschaftliches System war für die Menschen in der Bundesrepublik von einschneidender Bedeutung. Im Hintergrund stand bei allen Diskussionen die deutliche Erinnerung an das so empfundene »Versagen« früherer Marktwirtschaften. Bereits schon 1918 einmal und ähnlich wieder nach 1945 wurde von weiten Teilen der Bevölkerung »zur Bekämpfung des Kapitalismus« die Verstaatlichung der Großunternehmen und privaten Monopole gefordert oder gar gleich die vollständige Aufhebung der Marktwirtschaft und Installation eines Systems staatlicher Lenkung[5]. Die Weltwirtschaftskrise von 1929 mit nachfolgend 6 Millionen Arbeitslosen im Jahre 1933, wie auch die Aufhebung des demokratischen Systems im Anschluß, waren in der Erinnerung noch frisch. Die Quintessenz, die die gebeutelte Arbeiterschaft während der großen Krise der Marktwirtschaft gezogen hatte, faßt SCHREIBER mit den Worten zusammen: „In den Betrieben waren Lohnkürzungen und Abbau von betrieblichen Leistungen an der Tagesordnung. Die Unruhe unter der Arbeiterklasse wuchs daher von Tag zu Tag, die berechtigte Angst vor Entlassung wich dem Haß auf das kapitalistische System, das die Arbeitenden und Arbeitswilligen nicht einmal zu ernähren imstande war.“[6]

Es wäre nicht fair und würde die damalige Auseinandersetzung am Scheidepunkt zur Sozialen Marktwirtschaft erheblich verkürzen, würde man gegenüber den nunmehr endgültig aufgegebenen Versuchen in den (ehemals) kommunistisch regierten Ländern den »Haß auf das kapitalistische System« im eigenen Land oder beispielsweise auch unter der damaligen Arbeiterschaft Englands und Frankreichs leugnen. Auch in Westdeutschland gab es parteiübergreifend Stimmen, die vor einer Rückkehr zur freien Marktwirtschaft warnten und an den Methoden staatlicher Wirtschaftslenkung, wie sie im Krieg praktiziert worden waren und in Ostdeutschland anschließend weiterentwickelt wurden, festhalten wollten[7]. Hauptsächlich die Westbindung Westdeutschlands, und nicht etwa eine geläuterte Überzeugung, dürfte den Ausschlag dafür gegeben haben, daß die Marktwirtschaft unter ERHARDs Führung eine weitere Chance erhielt.

Unumstritten waren ERHARDs Bestrebungen damals keineswegs, wovon die hitzigen Debatten im Bundestag ebenso zeugen wie die Kommentare in der Presse. Gewiß, die Deutschen waren während des Faschismus antikommunistisch und blieben es mehrheitlich im Westen auch danach. Aber der sogenannte »National-Sozialismus« hatte die Unordnung der Wirtschaftskrise nach 1933 spürbar durch politische Eingriffe verändert, die, von der angewandten Methodik her betrachtet, den Staat (oder eine politische Führung) ganz ähnlich über die Wirtschaft setzte, wie dies auch von den Kommunisten befürwortet wurde. In ihrer kritischen Distanz zur freien Marktwirtschaft waren die Überzeugungen der Faschisten und Kommunisten frappierend ähnlich, worauf OPPENHEIMER frühzeitig hinwies[8].

Vor diesem Hintergrund beleuchtet, muß der erneute Schritt in die Marktwirtschaft als ein eher unwahrscheinliches Ereignis angesehen werden, das letztlich auch nur eine Person wie etwa LUDWIG ERHARD mit reinem Gewissen und aus vollem Herzen einfordern konnte, der ganz gleich wie OPPENHEIMER wußte (bzw. ohne Selbstzweifel davon überzeugt war), daß es im Gegensatz zur kapitalistischen Marktwirtschaft auch möglich war, eine Marktwirtschaft mit sozialen Resultaten einzurichten. Jeder andere Sprecher, der um diese Möglichkeit weniger genau Bescheid gewußt hätte, wäre entweder von seinem Gewissen zu anderen Annahmen geleitet worden oder hätte die marktwirtschaftliche Option aus einer Naivität heraus begründet, die es ihm in der Praxis unmöglich gemacht hätte, der Marktwirtschaft tatsächlich die Weichen zum Erfolg zu stellen. Erst aber die gelungene Tat und vor allem, daß Wohlstand und keine Neuauflage marktwirtschaftlichen Nichtfunktionierens eintrat, sicherte dem verfolgten Ansatz die dauerhafte politische Zustimmung auch unter der Arbeiterschaft.

Mit diesem Stück Realgeschichte hat die Bundesrepublik Deutschland, die vor und zwischen den Kriegen viele ihrer Bürger aus Armut zur Auswanderung etwa nach Amerika veranlaßte, eine Trendwende geschafft. Behauptungen dergestalt, daß die Zerstörungen des Krieges und die nachfolgenden Kräfte des Wiederaufbaus ursächlich für die Trendwende stünden, gehören in die Kategorie des Üblichen, bei dem immer wieder tatsächlich vonstatten gegangene Prozesse als »Ursache« für das gesetzt werden, was es eigentlich zu erklären gilt. Man wird erleben, daß es nach Kriegen immer wieder zu keinem Neuaufbau und »Wirtschaftswunder« kommt, ja, die Betroffenen ohne internationale Hilfe nicht die einfachsten Bedürfnisse abdecken können, geschweige denn die wertschaffende Kraft der Ar-

[S. 21] beit in einem Maße freigesetzt wird, daß sich darüber irgend jemand »wundert«. Es gibt genügend Beispiele für dauerhaftes Siechtum, wie es auch Beispiele eines gelungenen ökonomischen Wiederaufbaus gibt (besonders in Asien, z. B. Südkorea). Der springende Punkt bei einer Unterscheidung ist somit nicht der Grad der Zerstörung (des Alten), sondern die Anlage der Konstruktion zum Zeitpunkt des Neubeginns. Und da die Ursache der zerstörerischen Konflikte oft in den alten politischen Gegebenheiten wurzeln, die mit einem verlorenen Krieg ihre Machtbasis verlieren, kann nach solch einer sinnlosen materiellen Zerstörung durchaus ein neues geistiges Zeitalter anbrechen, das ein wirtschaftendes Volk plötzlich durch Arbeit reich werden läßt, wo Arbeit vorher brach lag und der Arbeitende eher arm blieb.

Wie dem auch sei, so wird man für die Bundesrepublik eine Positivleistung konstatieren dürfen, die als richtige Anlage der Konstruktion ihre Kräfte freisetzte und genausogut völlig anders hätte ausfallen können. Damit ist bis hierhin erst der Rahmen benannt, innerhalb dessen sich faktisch etwas abspielte. Die treffende Erläuterung dazu mag man irgendwo geschrieben finden oder nicht: sie schwebt gleichsam über dieser Realität und fordert von den nachfolgenden Generationen allenfalls ein Erkennen, damit das Geschaffene erhalten, weiterentwickelt oder gar weitervermittelt werden kann.

Die Diskussionen in der jungen Bundesrepublik und auch noch später wurden häufig von dem Mangel begleitet, daß die Trennlinie zwischen »Kapitalismus« und »Sozialer Marktwirtschaft« unklar blieb, bis hin zu der Behauptung, daß es keine Trennlinie gäbe und alles Wirtschaften entweder im Rahmen einer »Marktwirtschaft« oder einer »Planwirtschaft« vonstatten ginge, ohne daß man bei der Marktwirtschaft weiter differenzieren dürfe. Die idealtypische Gegenüberstellung von Markt und Plan bzw. die Behauptung, daß »Markt« und »Plan« Idealtypen seien, beinhaltete die Vorstellung, daß es so etwas wie einen gutfunktionierenden marktwirtschaftlichen Selbststeuerungsmechanismus gäbe, der durch die wirtschaftspolitischen Interventionen der politischen Gesellschaft (Parteien, Regierung, Staat) lediglich beeinträchtigt werden könne. Markt und Plan sind aber keine untereinander ersetzbare Idealtypen, sondern völlig verschiedene Regelungsprinzipien. So beherrscht der Plan alle Kalküle der einzelnen Wirtschaftspersonen und ebenso der Personenverbände (Betriebswirtschaften). Würde der Mensch in seinem privaten Bereich nicht planen, dann ermangelte es ihm in seinen Handlungen der Übersicht und Zielorientierung[9]. Es ist aber schon die Frage, bis auf welche Größenordnung man die nach Plan wirtschaftenden Personenverbände anwachsen lassen kann, also in welchen Größenordnungen komplexe Zusammenhänge überhaupt überschaubar und planbar sind. Die Idee der Planwirtschaft als Form einer Gesellschaftswirtschaft weitet quasi das betriebswirtschaftliche Rationalitätsmodell über den Großkonzern hinaus aus und betrachtet das Gesamtaggregat aller wirtschaftenden Personen eines Staatsgebietes wie ein einziges Unternehmen. Nun gehört aber zum Begriff des Wirtschaftens das Abwägen von Aufwänden und Erträgen. Das kann in

[S. 22] Be-triebswirtschaften schon zu dem Problem führen, daß die Anteile der einzelnen Wirtschaftspersonen und Abteilungen am Gesamtaufwand und Gesamtertrag unklar sind. Je größer ein Konzern ist, desto größer wird das Problem der internen Leistungszurechnung, und zwar ganz einfach deswegen, weil es überaus schwierig ist, innerhalb solcher Wirtschaftsverbände freie Preisbildungsprozesse einzurichten. »Preise« sind aber, so sie sich frei von Machteinflüssen bilden können, der exakte Maßstab für »Leistungen« in einer auf Verbraucherwünsche hin orientierten Tauschwirtschaft. Wohl tauschen auch in Planwirtschaften arbeitsteilig spezialisierte Produzenten ihre Leistungen untereinander, aber sie handeln im Rahmen eines Wirtschaftssystems, in welchem durch Ausdehnung des betriebswirtschaftlichen Regelungssystems auf das Gesamtsystem der freie Preisbildungsprozeß aufgehoben wurde. In einer Marktwirtschaft mit einem freien Wettbewerb um die Kundenakzeptanz werden die Wirtschaftspersonen und Betriebswirtschaften zumindest an der Schnittstelle zum Markt hin gezwungen, den Gesamtaufwand ihrer Wirtschaftseinheit festzustellen und diesen obendrein so gering zu halten, wie dies bei Nutzung der gesellschaftlich vorhandenen technischen Standards und unter Berücksichtigung der gesetzlichen Auflagen möglich ist. Die Probleme mit den möglichen Irrtümern in Planungsprozessen und das Problem der sachgerechten Leistungsbewertung wird bei einer Mischung aus freier Betriebs-und Marktwirtschaft auf vergleichsweise kleine Einheiten beschränkt, die zwar als einzelne irren können und dafür mit Einbußen bei ihren Erträgen »bestraft« werden, die aber in der Masse aller Akteure versuchen, mit ihren Angeboten erfolgreich zu sein, was in nicht monopol-oder kartellartig beherrschten Marktsegmenten nur dadurch bewerkstelligt werden kann, daß man den Kundenwünschen nach Kräften entgegenkommt. Dieser Zwang zur Rationalität bei Preis und Qualität, wie überhaupt die Möglichkeit zur objektivierten Leistungsbeurteilung, ist ein Resultat des Marktprozesses, der sich durch keine planwirtschaftliche Maßnahme mit gleichem Resultat ersetzen läßt.

Wenn klar ist, in welchem Ausmaß ein Wirtschaftsverband durch Ausdehnung des betriebswirtschaftlichen Rationalitätsprinzips an Rationalität verliert, wie sehr also die freie Preisbildung und unverfälschte Leistungsbewertung zum Begriff der Rationalität im wirtschaftlichen Zusammenhang gehört, dann wird man das Plan-Prinzip und das Markt-Prinzip nicht gegeneinanderstellen, als sei das eine des anderen Feind oder als sei das eine durch das andere ersetzbar, sondern ein jedes erfüllt in seinem Bereich eine Funktion. Markt-und Planprozesse gehören beide gleichermaßen zu dem Begriff einer rationalen Gesellschaftswirtschaft. Den kommunistischen Planstrategen kann man somit die Vernichtung des freien Preisbildungsprozesses und Warenverkehrs als Fehler nachweisen, ohne andererseits damit bereits erklärt zu haben, warum auch Marktwirtschaften schlecht funktionieren können. Oder, anders gesagt, geht mit der Entlarvung eines Irrtums bei den kommunistischen Strategen noch nicht zwingend die Entdeckung oder Bestätigung einer wahren Erkenntnis bei den Marktwirtschaftlern einher. Diese müssen vielmehr ganz gesondert für sich klären, unter welchen Randbedingungen Marktwirtschaften zu sozial wünschenswerten Resultaten führen. Was muß der Staat und Gesetzgeber regeln, und unter welchen Regelungen kann den einzelnen Akteuren schadlos Handlungs-und Entscheidungsfreiheit gewährt werden? Auf gar keinen Fall ist die Marktwirtschaft ein voraussetzungsloses Ideal, das aus sich heraus ohne Wissen und kulturell gewachsenes Verständnis funktioniert[10]. Gerade aber weil die westlichen Kulturnationen hinsichtlich des Wissens über ihre eigene Regelungsgrundlage sehr unvollkommen geblieben sind, haben sie den zusammenbrechenden östlichen Plan-Systemen keine wirkliche Hilfe leisten können. Was man den ehemals kommunistischen Ländern bot, war nicht ein Weg in die Soziale Marktwirtschaft. Das rasante Umschlagen der kommunistischen Länder in kapitalistische Elendsregionen, in denen nichts von funktionierendem Markt, aber sehr viel von entfesselter Ausbeutung und Kriminalität seitens der Stärkeren zu beobachten ist, wird hier zu einem noch lange anhaltenden Machtkampf zwischen den Fraktionen führen, die gemeinsam eines nicht wissen: wie man ein Land zu Wohlstand und sozialem Frieden führen kann[11].

Es fällt den Denkern bis heute schwer, die Freiheit des Marktes und die Zielgerichtetheit des betriebswirtschaftlichen Plan-Prinzips so in einer gesellschaftswirtschaftlichen Anschauung miteinander zu verbinden, daß beide ausschließlich ihre Nutzenanteile entfalten. Ein Problem bei der Diskussion dieser Dinge dürfte aus jenem Interessenkonflikt herrühren, dem jeder Mensch in seiner Doppelfunktion als Nachfrager und Anbieter von Leistungen ausgesetzt ist. Während der Mensch in seiner Eigenschaft als Konsument daran interessiert sein muß, daß die durch seine Nachfrage gesetzten Preissignale das Produktions-bzw. Marktgeschehen steuern, ist umgekehrt der Markt für den Menschen in seiner Eigenschaft als Produzent eine unangenehme Hürde, die es zu bewältigen gilt. Wo nun aber die Produzenten genügend Macht auf sich vereinigen können, da legt sich ihnen seit altersher der Gedanke nahe, die Hürden des Marktes nicht mit überzeugenden Angeboten zu bewältigen, sondern die als Hindernis oder gar Gefahr (des Scheiterns) aufgefaßten Marktmechanismen zu überwältigen.

Im marktwirtschaftlichen System gibt es aus der Psychologie der Akteure heraus eine Tendenz, den privaten Erfolg im Produktionszusammenhang auch gegen das anonyme Konsuminteresse der Allgemeinheit mit weniger feinen Mitteln durch-

[S. 24] zusetzen. Darüber hinaus bleibt die Macht von Wirtschaftspersonen nur selten auf rein ökonomische Sachverhalte beschränkt (Marktmacht), sondern hat die stete Neigung, sich mit der Macht politischer Personen zu verbünden[12]. Der Staat (bzw. die einem Allgemeininteresse verpflichteten politischen Personen und Beamten), der eigentlich die Wettbewerbsordnung gegen das stets angreifende Privatinteresse der Produzenten schützen müßte und der einzig der Allgemeinheit der Bürger in ihrer Funktion als bedürfende Nachfrager verpflichtet sein sollte, ist als Machtinstrument, zumindest was seinen Ursprung und seine Traditionen angeht, keine eindeutig am Allgemeininteresse orientierte Einrichtung, sondern vielfach eine Privatveranstaltung herrschender Personenkreise und »Eliten«, die durch enge Bündnisse wechselseitig ihre Macht, ihren Einfluß und wiederum privaten Nutzen in Staat und Wirtschaft maximieren. Im Zuge der Formation dieses privilegierten Privatinteresses wird dann häufig die Freiheit der Allgemeinheit durch eine Reihe »allgemeingültiger Regelungen« zu einer Freiheit von Minderheiten und Clubs verkehrt, die als einzige aus diesen Regelungen handfeste Vorteile für sich ableiten können. Jede Zollschranke nach außen hat beispielsweise keine andere Wirkung, als der Gesamtheit aller inländischen Konsumenten höhere Preise für bestimmte Produkte aufzunötigen und gleichzeitig die inländischen Kapitale zu schonen, die in diesem Gewerbezweig eingesetzt sind[13]. In Geld und Ertrag ausgedrückt macht es für den Produzenten keinen Unterschied, ob er die Leistungsanforderung des Marktes mit guten Angeboten »bewältigt« oder den wirkenden Marktmechanismus mit außerökonomischen, politischen Mitteln »überwältigt«. Faktor bei letzterem ist lediglich die zur Verfügung stehende Macht, die, wenn sie erst einmal in hinreichendem Maße akkumuliert ist, mit schöner Regelmäßigkeit auch mißbraucht wird. Deswegen, weil sich ökonomische und politische Macht in einem Staat mit schwächlicher Demokratie und Wirtschaftsordnung stets in klingender Münze auszahlt, muß das »Verdienen durch Machteinsatz« auch Teil einer politisch-ökonomischen Theorie sein.

Wohlgemerkt wurde bis hierhin der freie Preisbildungsmechanismus als Erfolgshürde für die Produzenten diskutiert. Wenn man das Argument der freien Preisbildung nun gleichermaßen anwenden will, um damit etwa den Wohnungsmangel oder die Arbeitslosigkeit zu »bekämpfen«, dann beruht diese Umkehrung wieder auf einem Trugschluß. Die Produzenten sind gegenüber den Konsumenten nämlich in

[S. 25] der Situation absoluter Entscheidungsfreiheit hinsichtlich des Zustandekommens eines tatsächlichen Leistungsangebotes. Sie entscheiden über die eingesetzten Mittel und angebotenen Produkte. Hätte der Konsument über seine freie Kaufentscheidung keine Möglichkeit der Rückwirkung auf den Produzenten, dann ginge die Entscheidungsfreiheit der Produzenten einher mit einer völligen Ohnmacht der Konsumenten. Daß also das Zusammenspiel von Produktion und Konsum funktioniert, hat seine Ursache in dem Machtausgleich, über den der unorganisierte Konsument als Masse per Preisbildung Einfluß auf die organisierte Produktion erhält.

Diese Ausgeglichenheit ist nun aber auf dem Teilmarkt der abhängig Beschäftigten und auf dem Wohnungsmarkt gegenwärtig nicht gegeben. Die Märkte wären vergleichbar, wenn die überwiegende Zahl aller Menschen beispielsweise Wohnraum besäße, nur eben nicht unbedingt im eigenen Wohnraum wohnen würde, also auf der einen Seite mit einem Angebot als Vermieter aufträte und auf der anderen Seite mit einer Nachfrage als Mieter (und im Notfall immer den eigenen Wohnraum bewohnen könnte, der sich dann vielleicht nur nicht dort befindet, wo die Person ihren Lebensmittelpunkt haben möchte). Bei einer solch grundsätzlichen Vollversorgung mit und Gleichverteilung von Wohnraumeigentum gäbe es keinen Machtspielraum der Vermieter. Ähnlich könnte es sich mit den Arbeitsplätzen verhalten. Tatsächlich befindet sich aber nicht jeder Arbeitswillige gleichzeitig in der Rolle eines Arbeitsplatzbesitzenden und nicht jeder Wohnungssuchende gleichzeitig in der Rolle eines Wohnungsanbieters. Die Gesellschaft ist gespalten in Menschen, die über etwas verfügen, und Menschen, die dessen einseitig bedürfen, ohne fähig zu sein, ihr Bedürfnis auf eine andere Weise abzudecken, als ihrerseits die von den Verfügungsberechtigten gesetzte Hürde zu nehmen, die sie anderenfalls von einem Beschaffungserfolg am Markt ausschließt. Muß sich in der Beziehung Produzent-Konsument der Produzent den Markterfolg erkämpfen und ist diese Angelegenheit aus Sicht eines Kräftegleichgewichtes wohl geordnet, weil sich in dieser Beziehung der über die Mittel zur Tätigkeit verfügende Produzent dem bedürfenden Konsumenten nicht verweigern kann, wenn er denn Erfolg haben will, so gibt es dieses Kräftegleichgewicht bei einer Unterversorgung mit Wohnungen und Arbeitsplätzen nicht. Für die Besitzer dieser knappen Güter ist eine Mangelsituation völlig unbedrohlich und führt lediglich bei den Wohnungs-und Arbeitslosen zu einer Existenzbedrohung. Wenn diese aber eine höhere Miete bezahlen, um eine Wohnung oder einen Arbeitsplatz einnehmen zu dürfen, dann erhöht das den Ertrag der Wohnungsund Arbeitsplatzbesitzer, ohne daß sie dafür eine zusätzliche Leistung erbringen müssen. Die wirtschaftswissenschaftliche Theorie behauptet nun, daß erhöhte Profite in einem Bereich zu verstärkter Investition in demselben führen und damit der Wohnungsbestand wieder erhöht werde. Im Falle der Arbeitsplätze ist dies offensichtlich nicht der Fall, da ein Unternehmen kein Interesse daran hat, möglichst vielen Personen Beschäftigung zu bieten, sondern einen möglichst hohen Gewinn mit möglichst wenigen Personen zu teilen. Und auch ein Wohnungsbesitzer hat kein Interesse daran, eine Vollversorgung des Marktes herzustellen. Wie hoch aber muß der Profit in einem Investitionsbereich stehen, damit eine selbsttätige Minderung des profitmehrenden Mangels einsetzt? Ist diese Fragestellung nicht eine völlig andere als die des selbsttätigen Interessenausgleiches zwischen Produzenten und Konsu-menten? Wohin soll ein Wohnungssuchender ausweichen, wenn er mit einem Unterangebot an Wohnungen konfrontiert wird? Ein Unterangebot an Konsumartikeln gibt es schließlich aus der Konstellation Produzent-Konsument heraus nicht, so daß er immer eine Wahl und Substitutionsmöglichkeiten hat, selbst wenn einzelne Produzenten den Markt mit ihrer Macht zu ihren Gunsten beeinflussen. Aber der Wohnungs-und Arbeitsuchende könnte lediglich in die eigene Bautätigkeit und Selbständigkeit flüchten. So er dazu aber aus seiner Situation heraus nicht fähig ist, hat er auf die Angebotssituation und Leistungsbereitschaft der Wohnungs-und Arbeitsplatzbesitzer (Unternehmer) keinen weiteren Einfluß. Die Logik, daß er sich unterwerfen solle, bis er als Ausbeutungsobjekt eines in jeder Hinsicht stärkeren und unabhängigeren Verhandlungspartners tauge, ist nicht identisch mit dem Selbststeuerungsgedanken der Produktions-und Konsumsituation einer Marktwirtschaft, in der über den freien Preisbildungsprozeß ein Interessenausgleich eingerichtet ist. Eine harmlose Differenzierung zwischen Besitz und Nichtbesitz gibt es deswegen nur dort, wo sich der Besitz auf unrentierliche Wertgegenstände beschränkt. Ist er hingegen die Grundlage einer einseitigen Abhängigkeit, aus der der Nichtbesitzer durch äußere Umstände nicht entfliehen kann, dann ist er eben auch die Grundlage einer möglichen Ausbeutung, die jederzeit stattfinden kann, wenn der Besitzende dies wünscht. Hier auf die Freiheit der stärkeren Partei zur Abschaffung eines sozialen Mißstandes zu setzten, hieße der treibenden Kraft des Mißstandes zu einem absoluten Recht zu verhelfen.

Ökonomische Zusammenhänge können so geordnet sein, daß sie von sich aus selbsttätig ein optimales Ergebnis herbeiführen, sie sind dies aber nicht in jedem Fall und schon gar nicht »von Natur aus«. Was ein »optimales Ergebnis« des Wirtschaftsprozesses sei, wird ein Milliardär sicherlich anders auffassen als ein Obdachloser. Ersterer strebt nach Chancen der Vermögensmehrung und gegebenenfalls Ausbeutung anderer, während der Obdachlose vielleicht froh wäre, wenn er überhaupt einen Weg zurück in die Gesellschaft fände. Was wünschenswert, erträglich oder optimal ist, kann deswegen nicht über den Maßstab einzelner Individuen definiert werden, sondern definiert sich auf dem Weg über die Gesellschaftsauffassung demokratischer Mehrheiten. Die so zustandegekommene Auffassung einer Zeit wird variieren und bleibt in ihrer normativen Gestalt ohne wissenschaftlichen Wahrheitsanspruch. Man kann die als »öffentliche Meinung« geäußerten Sollvorstellungen aber ernst nehmen und durch wissenschaftliche Darlegung der wirkenden Zusammenhänge das Wissen bereitstellen, mittels dem dann die handelnden Akteure zielgerichtet Einfluß nehmen können und erreichbar wird, was das Gewissen oder die Not dem einzelnen und den demokratischen Gemeinwesen zu erreichen gebietet. Das heißt, es wird durch eine Systembetrachtung untersucht, zu welchen Resultaten die innere Logik eines systemischen Zusammenhanges führt, welche Variablen sich mit welchem Resultat systemimmanent beeinflussen lassen, aber auch welche alternativen Regelungszusammenhänge denkbar wären.

Während viele Volkswirte »die Ökonomie« so auffassen, als basiere sie auf einer eigenen, inneren Gesetzmäßigkeit, die unabhängig von menschlichem Handeln Gültigkeit habe, geht die Sichtweise des Soziologen eher von einer menschlichen Ge-machtheit aller gültigen Regelungszusammenhänge aus, die einem wie »ewig gültige« erscheinen können, weil der einzelne Mensch in der Regel nur diese tradierten »Normalitäten« kennt und keine Neigung hat, durch theoretische Abstraktion das nicht vorhandene, aber ebenso mögliche »andere« zu sehen bzw. die Bedingtheit des Zustandekommens der für ewig erachteten »Normalitäten« aufzuschlüsseln. Was die Volkswirte als Glauben an den Anfang ihrer Modellkonstruktion stellen und fortan unhinterfragt als Tatsache ihres Modellzusammenhangs behandeln[14], das wird der Soziologe erst einmal gründlich auf seinen Wahrheitswert hin befragen. Das heißt, er geht einen Schritt zurück vor den Punkt, ab dem die Volkswirtschaftslehre einsetzt und ihre Annahmen trifft, und untersucht zunächst das Handeln der Wirtschaftspersonen und ihrer Aggregationen auf ihre treibenden Handlungsmotive, angewandte Methoden und Regelmäßigkeiten des Geschehens hin. Was diese Grundlagenforschung -die einer eigentlichen Volkswirtschaftslehre vorausgehen sollte dann allerdings zeitigt, läßt starke Zweifel an dem aufkommen, was die Volkswirte selber zwischenzeitig als »wahr« institutionalisiert haben. Die tradierten Modelle erscheinen im erweiterten soziologischen Zusammenhang betrachtet als unvollständig und deswegen partiell unrichtig, was dann dazu führen kann, daß mit volkswirtschaftlichem Instrumentarium betrachtete ökonomische Zusammenhänge falsch gedeutet werden und Problemstellungen, wie etwa die gesellschaftlich unerwünscht hohe Dauerarbeitslosigkeit, unauflösbar bleiben.

Diese »andere« soziologische Sichtweise des Ökonomischen findet man stark vertreten bei ADAM SMITH, der zwar den Begriff der Soziologie noch nicht kannte, aber doch aus einer sehr komplex verstandenen gesellschaftswissenschaftlichen Theorie heraus die wesentlichsten Punkte isoliert hat, die den Teilbereich der Gesellschaftswirtschaft bzw. Volkswirtschaft ausmachen. In der später erschienenen Literatur deutschen Ursprungs haben Autoren wie JOHANN HEINRICH VON THÜNEN, KARL MARX, FRIEDRICH ENGELS, EUGEN DÜHRING, FRIEDRICH LIST und andere von einem ähnlich umfassenden gesellschaftstheoretischen Standpunkt aus versucht, Aussagen über den ökonomischen Teilbereich zu machen. Und zu den großen Namen der letzten Generation zählen vor allem MAX WEBER, der Soziologe und Nationalökonom war, JOSEPH SCHUMPETER, der als bedeutender Ökonom stark soziologisch dachte, sowie FRANZ OPPENHEIMER, der als Soziologe und Nationalökonom die Wirtschaftssoziologie bzw. Sozialökonomie zum Zentrum seiner wissenschaftlichen Arbeiten gewählt hat.

FRANZ OPPENHEIMER selber hat in die Theorie vor allem jene begriffliche Unterscheidung eingeführt, die von mir oben bereits verwendet wurde: die Unterscheidung des Handelns von Wirtschaftspersonen nach ihren ökonomischen und/ oder politischen (außerökonomischen) Mitteln. Wenn man diese Trennung in aller Konsequenz durchdenkt, dann wird bezüglich des Zusammenspiels von Staat und

Wirtschaft eine andere Perspektive eröffnet, bei der die Allgemeinheit der Bürger als eigentlich übervorteilte und zu befreiende Gruppierung in den Mittelpunkt des Interesses rückt. Das Staats-und Wirtschaftsgeschehen wird bei OPPENHEIMER nicht a priori vergöttert oder verdammt, sondern ist eine instrumentelle Form, die von Menschen mit persönlichen Interessen mal unter Beachtung und mal unter Mißachtung höherer Gerechtigkeitsmaßstäbe ausgefüllt wird, je nachdem, ob die soziale Bezugsgruppe der Akteure in Wirtschaft und Staat mit der von ihr behandelten Allgemeinheit identisch oder von ihr klassenmäßig verschieden ist.

Obgleich MAX WEBER gerade diese analytische Unterscheidung des »politischen« und »ökonomischen« Mittels der Einkommenserzielung von OPPENHEIMER anerkannt hat[15], konnte sie sich bislang doch nicht gegen das Verlangen der Volkswirte nach einer »rein ökonomischen« Modellehre durchsetzen, in der der Anteil der »politischen Ökonomie« der Gesellschaftswirtschaft meist per Theorieansatz ausgeklammert wird. Von der heutigen Volkswirtschaftslehre aus gesehen kann die Lehre OPPENHEIMERs nicht angenommen werden, weil die von OPPENHEIMER vertretene Sichtweise, die Volkswirtschaftslehre (die Lehre von der Gesellschaftswirtschaft) als Teilbereich der Soziologie zu begreifen, nicht angenommen werden kann. Aber auch umgekehrt wagen sich im Zuge der Spezialisierung der gesellschaftswissenschaftlichen Einzeldisziplinen immer weniger Soziologen auf das hochkomplexe Feld der Wirtschaftsgesellschaft und ihrer Gesellschaftswirtschaft. Auch von dieser Seite aus beugt man sich in aller Regel dem Anspruch der Volkswirtschaftstheoretiker, Statistiker und Mathematiker, die ihre Vorstellung von einer »reinen« Modellökonomie mit rein ökonomischer Eigengesetzlichkeit gegen jede Gesellschafts-oder Sozialwissenschaft verteidigen.

Der tiefe Graben der Nichtverständigung zwischen Soziologen und Volkswirten hat ein eigenes, ideologisches und klassenkämpferisches Moment. Einst waren es nämlich die Marxisten, die die Volkswirtschaftslehre der Herrschenden mit der größten Wucht historischer und soziologischer Argumente angriffen. Weil aber die den Kapitalismus verherrlichende und zur herrschenden »Theorie« gewordene Ideologie in sich zu widersprüchlich und fadenscheinig war, um den marxistischen Angreifern standhalten zu können, verlegte man die Verteidigung der eigenen Anschauung in die zugrundegelegten Definitionen, über die man sich jegliche Diskussion verbat (↑ 106). Bis heute beginnt jedes ökonometrisch orientierte Lehrbuch der Volkswirtschaft mit Ausführungen über die notwendigen Vereinfachungen bei der modellhaften Übertragung der Wirklichkeit in die Theorie. Dann erläutert man manchmal, daß im Grunde jede Modellkonstruktion zulässig wäre und der Wissenschaftler über sein Vorgehen frei entscheiden könne, solange er sich nur redlich

dazu bekennt. Und dann erfolgt eine ganz bestimmte Festlegung von Zins, Kapital, Profit, Arbeit, Produktivität und anderer Definitionen, die genau dem entsprechen, was man denken und glauben muß, um die herrschenden Vorstellungen anschließend im Modell nachentwickeln zu können[16]. Fast alle diese Begriffe sind aber einseitig und vor langer Zeit mit klassenkämpferisch-ideologischem Wunschdenken der damals Herrschenden aufgeladen und verkürzt worden. Logisch im Sinne wissenschaftlich brauchbarer Begrifflichkeiten ist an den so sehr auf mathematisch exaktem Weiterrechnen bedachten Modellkonstruktionen im Moment ihres Zustandekommens nur wenig, wie sich anhand der Aufarbeitungen FRANZ OPPENHEIMERs zeigen lassen wird. Auf mit falschem Ansatz gestellte Aufgaben läßt sich aber mit der entwickeltsten mathematischen Kunstfertigkeit kein richtiges Ergebnis finden[17].

FRANZ OPPENHEIMER hat die Anklage der Marxisten wider die Mißstände in der kapitalistischen Marktwirtschaft stets ernst genommen. Allerdings fand er, daß die Ursache, gegen die sich die Anklage richtete, nämlich die Marktwirtschaft als solche, von den marxistischen Sozialisten, die sich dann als stärkste politische Bewegung im linken Lager durchgesetzt haben, nicht richtig erkannt wurde. OPPENHEI-MERs Werk ringt in jedem Zug mit dieser Schicksalsfrage gesellschaftlicher Organisation, deren offene Behandlung in der Soziologie durch einen ähnlichen Abwehrmechanismus blockiert wird wie in der Volkswirtschaftslehre: dem Wertur-

[S. 30] teilsfreiheitspostulat[18]. Viele Soziologen beschränken ihre Neutralität nicht darauf, alle erdenklichen gesellschaftlichen Zusammenhänge offenzulegen und es dann der Gesellschaft zu überlassen, wie sie die normative Entscheidung zugunsten von Armut oder Wohlstand bei der Anwendung trifft. Die Werturteilsfreiheit vieler Soziologen setzt vielmehr im Vorfeld des Erkenntnisinteresses an. Man meint auch hier zuweilen, daß bestimmte gesellschaftliche Zustände »wahr« seien, weil es sie wirklich gibt und steht dem, was ist, analytisch reichlich fantasie-und interesselos gegenüber. Wer an dem rüttelt »was ist«, um die Bedingungen seines Zustandekommens zu erkennen, der muß sich nach konservativem Selbstverständnis besonders legitimieren, während umgekehrt jeder unkreative Empirismus und Konservatismus a priori als »wertneutral« aufgefaßt wird. Um aber überhaupt gesellschaftstheoretisch denken zu können, muß man den Prozeß des Zustandekommens konkreter Zustände erkennen. Und diese analytische Auflösung scheinbarer »Wirklichkeiten« erfolgt nun einmal im ersten Schritt durch eine Erkenntnis der Vielfalt möglicher Zustände, von denen durch einwirkende soziale Selektionsmechanismen nur ein bestimmter Zustand »real« wird.

Diese wissenssoziologische Position, die unter den Vertretern des Konstruktivismus heute geläufig ist, hat es OPPENHEIMER schon um die letzte Jahrhundertwende möglich gemacht, viele Dinge ganz anders zu sehen. Er glaubte nicht an das Offensichtliche und damit scheinbar »Wahre« konkreter gesellschaftlicher Zustände, sondern verstand sie als Phänomene mit dahinterliegender soziologischer Ge-

[S. 31] setzmäßigkeit, die es zu entdecken galt. Dabei unterschied er sich von anderen Soziologen nicht unbedingt hinsichtlich dem grundsätzlichen Interesse an der Entdeckung soziologischer Gesetzmäßigkeiten als vielmehr durch die Zielstrebigkeit, mit der er sich den schwierigsten, politisch heikelsten und für die Menschheit bedeutendsten Fragestellungen zuwandte, an deren Veränderbarkeit andere Kollegen gar nicht mitwirken wollten. Damit kommen wir kurz auf eine persönliche Komponente, die als treibende Kraft hinter dem Lebenswerk OPPENHEIMERs auszumachen ist.

OPPENHEIMER war von seiner ersten akademischen Ausbildung her Arzt, der an der Seite bedeutender Forscher wie PAUL EHRLICH und CARL OPPENHEIMER nach Mitteln zur Bekämpfung von Volksseuchen wie etwa der Syphilis und Tuberkulose suchte sowie dann später als selbständiger und begabter Facharzt für Hals-, Nasen-und Ohrenkrankheiten in einem Armenviertel Berlins seine Praxis eröffnete. In seinem Alltag als Arzt erlebte er die Verhältnisse der Gesellschaft von ganz unten und buchstäblich hautnah. So entstand bei dem Gelehrten und selber in materiell bescheidenen Verhältnissen aufgewachsenen Mann auf der einen Seite eine Anschauung darüber, was er an Elend und menschlichem Leid nicht einfach hinnehmen wollte. Hier mag man von einem einfachen Mitgefühl sprechen, das es ihm unmöglich machte, über die Probleme der untersten gesellschaftlichen Schichten mit dem Gleichmut hinwegzugehen, der für andere Gelehrte völlig normal war, weil sie sich im Zuge ihrer Sozialisation und dem Erwerb ihres Status klar von diesen Schichten abgrenzten und von ihnen unberührt blieben. Ferner wurde OPPENHEIMER in seiner Praxis rasch klar, daß dem gesehenen Elend mit den Mitteln der Medizin nicht beizukommen war. Beispielsweise zeigte sich zu seiner Zeit, daß man die an Tuberkulose erkrankten Menschen einfach dadurch retten konnte, daß man sie mit guter Luft und Nahrung versorgte. Weil der Arme zu beidem keinen Zugang hatte, starben OPPENHEIMER die Patienten unter den Händen weg und wuchs die Unzufriedenheit mit den Möglichkeiten zur Hilfeleistung in dem erlernten Beruf.

Mit dem selbstgesteckten Ziel, die Not auf dem Wege der gesellschaftstheoretischen Erkenntnis zu lindern, nahm OPPENHEIMER daraufhin ein Selbststudium der Gesellschaftswissenschaft auf. Kein anderer Grund als die Erkenntnis von Staat, Ökonomie und Gesellschaft zum Zwecke der allgemeinen Hebung des Wohlstandes und des allgemeinen Funktionierens dieser Aggregate bildet den Kern des OPPEN-HEIMERschen Interesses und Lebenswerkes. Und er näherte sich diesem Gebiet mit den Instrumenten eines in der Logik und den Naturwissenschaften erprobten Forschers, der den an Methoden bis dahin armen, sich gerade erst gründenden Gesellschaftswissenschaften vieles an Strenge des Forschergeistes voraus hatte.

Die Polarisierung und Klischeebildung nach der NS-Zeit in Ost und West, die den MARXschen Sozialismus im Osten und den Nichtsozialismus für den Westen festschrieben, haben das OPPENHEIMERsche Gedankengut vom freiheitlichen und liberalen Sozialismus ein weiteres Mal abseits gestellt, zumal er im direkten Wettbewerb der beiden liberalen Utopien[19], nämlich der des in Freiburg ansässigen WALTER EUCKEN und seiner eigenen, mangels Anwesenheit unterlag. LUDWIG ERHARD schritt fort, nach seiner Überzeugung die neuen Verhältnisse in Westdeutschland zu gestalten, und die Freiburger wurden nicht müde, dies als Ausfluß ihres ähnlich gelagerten theoretischen Standpunktes zu kommentieren. Eine Übereinstimmung beider Ansichten ist auch insofern gegeben, wie EUCKEN und OPPENHEIMER beide stark auf die Vorarbeiten ADAM SMITHs rekurrierten, der seinerseits mit einem Werk über den »Wohlstand der Nationen« die Entstehung der nationalökonomischen Wissenschaft eingeleitet hatte. Andererseits aber war OPPENHEIMER gerade bei dem Begriff der »außerökonomischen Gewalt« gegenüber SMITH und EUCKEN weiter vorangeschritten. Nach EUCKENs frühem Tod und mit dem Auftreten FRIEDRICH AUGUST VON HAYEKs änderte die Freiburger Schule ihre Ausrichtung wieder stärker in Richtung jener idealtypischen Ökonomievorstellungen, die OPPENHEIMER für direkt falsch hielt und denen EUCKEN zumindest mit kritischer Diskussionsbereitschaft gegenüberstand. Der sich in der Theorie durchsetzende »Neoliberalismus«, der im Prinzip das Erbe der gültigen Vorkriegslehren antrat und diesmal lediglich von günstigeren realwirtschaftlichen Ereignissen begleitet wurde, war keine Schutzlehre der wirtschaftlich Schwachen mehr, die ihren Freiheits-Begriff an der Freiheit der Allgemeinheit orientierte. VON HAYEKs mit Nobelpreis honorierte Freiheitsvorstellung und Ablehnung des Begriffs »sozial« im Zusammenhang mit »Marktwirtschaft« kennzeichnet die offensive Kehrtwende zur Befürwortung einer kapitalistischen Marktwirtschaft alten Stils bei den Freiburgern (↑ 68 ). Das konnte man schadlos vertreten, weil ERHARD in der Praxis einen anderen Kurs steuerte. Was dabei an Gutem herauskam, das schrieb man seinen eigenen theoretischen Anschauungen zu, und was noch an Problematischem blieb, das warf man ERHARD als Inkonsequenz vor[20]. Doch wozu diese Lehre wirklich treibt, das kann man an der Entwicklung sehen, die die Bundesrepublik seit dem Ausscheiden ERHARDs genommen hat. Heute allseitig beklagte Verhältnisse muß sich der Neoliberalismus ebenso zurechnen lassen wie das Chaos im Zuge der deutsch-deutschen Vereinigung[21]. Hätten die neoliberalen Ökonomen den Wiederaufbau im westlichen Nachkriegsdeutschland tatsächlich zu bewerkstelligen gehabt, dann wäre Deutschland heute vermutlich das Armenhaus Europas. Denn die Art und Weise, wie man in diesen Kreisen daran glaubt, daß einzig investierende Kapitalisten Wohlstand über die Völker bringen, wie man also den Eigennutz ohne Abgrenzung gegenüber den räuberischen und ausbeuterischen Praktiken der tatsächlich agierenden Wirtschaftspersonen hochstilisiert zum Motor allen Erfolges und umgekehrt die aus den Machtasymmetrien resultierenden Unterversorgungen mit erwünschten Gütern autoritär aus dem Zuständigkeitsbereich der vertretenen ökonomischen Theorie herausdefiniert, das hat schon seine eigene kapitalismus-und ausbeutungskonforme Qualität. Was heute an den Hochschulen an ideologisch fixierter Systematik in der Auseinandersetzung mit dem Funktionieren der Gesellschaftswirtschaft vertreten wird, das trägt nicht unerheblich zur ökonomi

schen und sozialen Destabilisierung der Bundesrepublik bei. Gegenwärtig 937 Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft allein im Bereich der Treuhand-Aktivitäten stehen hier auch symptomatisch für eine wirtschaftssoziologische Naivität, die die herrschenden Ökonomisten der Republik mit allerorts gleich beklagenswertem Ergebnis verordnet haben.

In dem jüngst von MARION DÖNHOFF, MEINHARD MIEGEL, WILHELM NÖLLING, EDZARD REUTER, HELMUT SCHMIDT, RICHARD SCHRÖDER, WOLFGANG THIERSE und ERNST ULRICH VON WEIZSÄCKER veröffentlichten Manifest heißt es denn auch:

„Nein und abermals nein: So haben wir uns weder die Bundesrepublik nach vier Jahrzehnten noch das befreite, endlich wiedervereinigte Deutschland vorgestellt. (...) Die Bürger sind frustriert, Regierungen wie Opposition ohne Elan und ohne Vision. Das meiste wird dem Zufall überlassen. Es ist, als rase die Geschichte wie ein ungesteuerter, reißender Fluß an uns vorüber, während wir, die am Ufer stehen, die bange Frage stellen, wohin er wohl führen wird. Jeder hat den Wunsch, daß darüber nachgedacht wird, wie es vermutlich in zehn Jahren in der Welt aussehen wird, vielmehr aussehen sollte, und was wir tun müssen, um dorthin zu gelangen. Aber niemand hat ein Konzept. Alle sind gleichermaßen ratlos, keiner scheint sich über die obwaltenden Tatsachen Rechenschaft zu geben, weder in der Welt noch bei uns zu Haus. (...) Der erste Satz des Ahlener Programms der damals neugegründeten CDU lautete: »Kapitalistisches Macht-und Gewinnstreben kann nicht Inhalt und Ziel der staatlichen Neuordnung in Deutschland sein.« (...) Es ist ein Skandal, daß Gewalt, Korruption und ein egozentrischer Bereicherungstrieb als normal angesehen werden, während ein unter Umständen sich regendes Unrechtbewußtsein kurzerhand mit dem Hinweis auf die »Selbstregelung des Marktes« beschwichtigt wird. Wir haben es satt, in einer Raffgesellschaft zu leben, in der Korruption nicht mehr die Ausnahme ist und in der sich allzu vieles nur ums Geldverdienen dreht. Es gibt Wichtigeres im Leben des einzelnen wie auch im Leben der Nation.“[22]

Die Krisenwahrnehmungen der Gegenwart und die Befürchtungen hinsichtlich des Fortbestands der Sozialen Marktwirtschaft beruhen keineswegs auf singulärem oder unqualifiziertem Urteil. Bundespräsident ROMAN HERZOG, der in seinem vorherigen Amt als Präsident des Bundesverfassungsgerichtes eben jene ethischen Kernbereiche unserer Gesellschaftsordnung zu bewahren hatte, äußerte sich wie folgt:

„Man kann die fortdauernde strukturelle Arbeitslosigkeit nicht einfach als Naturgesetzlichkeit abtun, auch wenn sie nach den Befunden der OECD für nahezu alle westlichen Volkswirtschaften typisch ist. Arbeitslose, die über einen längeren Zeitraum keine Arbeit finden, werden allmählich zu Hoffnungslosen, und dafür werden wir alle nicht nur wirtschaftlich, sondern auch moralisch an die Kasse zu treten haben, wenn uns die Lösung dieses Problems nicht gelingt. (...) Die absehbare Spaltung der Gesellschaft in solche, die dazu gehören, denen es gut und immer besser geht, und andere, die sich »draußen vor der Tür« fühlen, ist eine zentrale Gefahr für die Soziale Marktwirtschaft, der sich Politik, Wirtschaft und Gesellschaft stellen müssen. (...) Es geht darum, Arbeitsplätze zu schaffen, und nicht darum, Arbeitslosigkeit zu finanzieren.“[23]

Der denkwürdige Satz WALTHER RATHENAUs: »Nicht die Politik ist unser Schicksal, sondern die Wirtschaft«, bewahrheitet sich auch heute wieder. Alle nationalen und internationalen Konfliktherde haben einen handfesten ungelösten ökonomischen Hintergrund, und sei es nur der der Herrschaft, die die einen zum Zwecke der wirtschaftlichen Ausbeutung über die anderen errichten oder aufrechterhalten wollen und gegen die sich die anderen mit Notwendigkeit früher oder später auflehnen. Würden sie alle ihre Kräfte produktiv einsetzen können, um ihre Verhältnisse zu verbessern, hätten sie allemal eine größere Chance, zu Wohlstand zu gelangen als im Kampf um die Aufrechterhaltung oder Überwindung der Herrschaft, bei dem meistens erst einmal nur Menschen und bereits vorhandene Werte Schaden nehmen. Doch die Verständigung auf das kleinere Übel der wertschaffenden Arbeit im Rahmen einer freiheitlichen, von allem Machtmißbrauch und Korruption freien, fairen Wirtschaftsordnung, scheint angesichts der meist vorliegenden Interessenkonstellationen kaum möglich zu sein. Weder finden die Unterworfenen und Abhängigen Wege, um sich der Herrschaft friedlich zu entziehen, noch geben die Herrschenden von sich aus ohne weiteres die für sie bequemen Positionen an den Schalthebeln akkumulierter Macht auf und sind bereit, sich als oberste Diener ihrer Völker oder auch Unternehmen oder Gemeinden einen Ehrentitel der anerkannten Nützlichkeit zu erwerben und sich mit dem zu bescheiden, was ihnen aufgrund einer eingebrachten Leistung dann immer noch außergewöhnlich honoriert werden wird.

Der Eigennutz als Ansporn in Staat, Wirtschaft und Wissenschaft ist dann kein Problem, wenn die Befriedigung persönlicher Ziele einzig über die Nützlichkeit und Dienstleistung gegenüber der Allgemeinheit und am Kunden möglich ist. In dem Maße, wie sich die eigennützigen Akteure von ihrem Dienstherren »Volk«, »Verbraucher«, »Arbeitnehmer« und »Mieter«[24] abkoppeln können, schlägt der verwirklichte Eigennutz um in eine institutionalisierte Leistungsschwäche. Wenn aber die Autonomie-und Eigennutzbestrebungen der in den Subsystemen Staatsverwaltung, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft wirkenden Akteure die Ursache aller Krisen wäre, auf welchem Wege sollte die unorganisierte Allgemeinheit dann erneut Wettbewerbsmechanismen installieren, die diese Teilbereiche zur Nutzenorientierung am »Kunden« zwingen? Wäre es da nicht erfolgversprechender, sich durch Formen der Selbstorganisation und Selbsthilfe aus den Abhängigkeiten zu

lösen und den schlecht rückgekoppelten Systemen solche entgegenzusetzen, in denen die Leistungsersteller und Leistungsempfänger entweder identisch sind oder die Leistungsempfänger zumindest als Regent über den Leistungserstellern stehen? So versuchten zumindest die frühen Genossenschaftler mit ihren Organisationen zu bewältigen, was die herrschaftlichen Systeme aus ihrer abgekoppelten Selbsttätigkeit heraus für die ihnen Untertanen nicht leisteten.

Die weit geläufige Anschauung, daß eine Kombination aus »Kapitalismus« und »Sozialstaat« den Kern der »Sozialen Marktwirtschaft« ausmache, erwies sich im weiteren Verlauf der vorliegenden Untersuchung rasch als unhaltbar (↑ 187). Die Soziale Marktwirtschaft bezeichnete, zumindest so wie LUDWIG ERHARD sie verstand, keine Kombination aus altbekannter Schadensverursachung und neuer Schadensregulierung, sondern eine Wirtschaftsordnung, in der sich, ganz wie es bereits ADAM SMITH erwartete, die Dinge aus sich heraus zum Besten für die größtmögliche Zahl aller Teilnehmer entwickeln sollten. ERHARD vertrat in vielen öffentlichen Auftritten die Ansicht, daß der Kapitalismus alter Prägung die Dinge nicht zum Besten geordnet hat, so daß man, um der sozialen Wirkung der Marktwirtschaft zur Geltung zu verhelfen, erkennen muß, was der Markt leisten kann und welche starken gesellschaftlichen Kräfte die soziale Wirkung des Marktes tendenziell aufheben.

Damit ist der Themenkreis dieser Arbeit abgesteckt und kommen wir zum ersten Hauptteil. In ihm wird dem »Wesen« des Kapitalismus und den ursprünglichen Erwartungen eines ADAM SMITH hinsichtlich der entfesselten marktwirtschaftlichen Selbstregulierungskräfte nachgegangen.

Fußnoten
[1]
Mit dem Symbol ↑ wird auf weiterführende Kapitel und Textstellen der Arbeit verwiesen.
Ausgesprochene Bedeutung hier: »Siehe weiterführend Seite 123 dieser Arbeit«.
[2]
Andere haben den Kapitalismus beschrieben oder lediglich phänomenologisch untersucht; OPPENHEIMER hat die Daten hingegen strukturiert und in ein empirisch haltbares, theoretisches System gebracht.
[3]
„DR. FRANZ OPPENHEIMER was one of the first half-dozen sociologists of pre-Hitler Germany and one of the leading German economists during the first two decades of this century.“ WILL LISSNER in The New York Times vom 1. 10.1943.
[4]
„True, were it not for Chancellor ERHARD's generous acknowledgement, few German today would know the grandfather of their Wirtschaftswunder.“ ADOLPH LOWE: In Memoriam Franz Oppenheimer. In: Year Book of the Leo Baeck Institute, Bd. 10, 1965, S. 137 -149, hier 148.
[5]
Vgl. KLAUS NOVY: Strategien der Sozialisierung. Die Diskussion der Wirtschaftsreform in der Weimarer Republik. Frankfurt a. M. 1978, S. 13 f.
[6]
PETER W. SCHREIBER: IG Farben: Die unschuldigen Kriegsplaner. Stuttgart 1978, S. 45.
[7]
Vgl. THOMAS LÖFFELHOLZ: Der Mann, der dem Land heute fehlt. Er machte die soziale Marktwirtschaft: Zum 100. Geburtstag von Ludwig Erhard. In: Die Welt vom 25.01.1997, S. G1. Ebenso RÜDIGER ALTMANN: Wirtschaftspolitik und Staatskunst. Wirkungen Ludwig Erhards. Bonn 1977, S. 13.
[8]
Siehe FRANZ OPPENHEIMER: Weder so -noch so. Der dritte Weg! Potsdam 1933. Auf dem Titelbild sind die Insignien des deutschen Faschismus (Hakenkreuz) und des Kommunismus (Hammer und Sichel) mit abgedruckt, gegen die sich OPPENHEIMER in dieser Schrift wendet. Die gleichen Argumente findet man auch schon in FRANZ OPPENHEIMER: Kapitalismus -Kommunismus -Wissenschaftlicher Sozialismus. Berlin 1919. Man kann den Faschismus mit OPPENHEIMER als eine politische Ökonomie auffassen, die die im Kapitalismus angelegten Herrschaftsverhältnisse über eine Krise hinweg fortführt, während der Kommunismus eine politische Ökonomie darstellt, die die Herrschaftsverhältnisse in ihren Vorzeichen umkehrt, ohne dabei das Prinzip der Herrschaft zu berühren. Beide Systeme beruhen -wie alle politischen Ökonomien -auf einem hohen Maß an Unfreiheit des einzelnen und auf dem Prinzip der Bewirtschaftung einer Unterklasse durch eine Oberklasse.
[9]
Vgl. LUDWIG ERHARD: Freie Wirtschaft und Planwirtschaft. In: Ludwig Erhard, Gedanken aus fünf Jahrzehnten, Reden und Schriften, Düsseldorf 1988, S. 69-72. (Erstveröffentlichung 1946)
[10]
Vgl. KARL GEORG ZINN: Soziale Marktwirtschaft. Idee, Entwicklung und Politik der bundesdeutschen Wirtschaftsordnung. Mannheim 1992, S. 47.
[11]
„Die Moscow Times schrieb neulich, daß die Steuerhinterziehung einen Grad erreicht habe, der den Staat lahmzulegen droht: Mehr als 12.000 große Unternehmen haben 1994 überhaupt keine Steuern bezahlt, und noch viel schlimmer treiben es die privaten Geschäftsleute. Der stellvertretende Chef eines Forschungsinstituts im Innenministerium sagt: »Mehr als zwanzig Prozent aller Unternehmer standen irgendwann vor Gericht, und mehr als vierzig Prozent aller Geschäftsleute haben ihr erstes Kapital in der kriminellen Sphäre erworben.« (...) Vor allem die schweren Verbrechen, einschließlich der Auftragsmorde, mit denen ein Konkurrent aus dem Wege geschafft wird, nehmen zu. Allein in Moskau sind im Februar dieses Jahres angeblich 113 Morde registriert worden -wobei es sich bei den Opfern gewöhnlich um Unternehmer oder Bankiers gehandelt habe. Auch drei Abgeordnete waren dabei.“ MARION GRÄFIN DÖNHOFF: Moskauer Gespräche: Eine raffgierige Nomenklatura, Verbrecherbanden, Krieg gegen Tschetschenien und eine hohe Inflation -ist Rußland noch zu regieren? In: Die Zeit, Nr. 15 vom 7. April 1995, S. 4.
[12]
Beispielsweise sind viele deutsche Politiker frei von jeder Regung des Gewissens, wenn es darum geht, hochdotierte Aufsichtsratsposten in der Wirtschaft zu besetzten oder neben ihrem Amt als Parlamentarier und Minister Rechts-und Wirtschaftsberatungsbüros zu unter halten (z.B. ZIMMERMANN/München, MÖLLEMANN/Düsseldorf). Dabei ist nur zu offensichtlich, daß die Unternehmen sich die Berater aus der Politik leisten, eben weil sie in Amt und Würden stehen und Einfluß auf das Geschehen in Politik und Staat haben.
[13]
Man begründet solche Maßnahmen nach außen natürlich stets anders, etwa mit dem »Schutz inländischer Arbeitsplätze«, obwohl die bei sinkenden Preisen eines Produktes freiwerdende und die über den internationalen Handel umgeschlagene Kaufkraft lediglich eine Umorientierung der Nachfrage und damit auch der Produktionskapazitäten und Arbeitsplätze erwarten ließe. Stattdessen verhindert man mit seiner Zollpolitik eine von den Preissignalen getragene Strukturanpassung und läßt die Allgemeinheit für Dinge bezahlen, von denen nur wenige »alteingesessene« Produzenten einen Nutzen haben.
[14]
Vgl. BENJAMIN WARD: Die Idealwelten der Ökonomen. Liberale, Radikale, Konservative. Frankfurt a. M. 1981, S. XIX: „Denn mein viertes und letztes Ziel ist es, dem Leser deutlich zu machen, daß die Nationalökonomie in ihrer Struktur -in der Art, wie sie Fragen stellt und beantwortet, wie auch in der Art, wie aus ihr wirtschaftspolitische Folgerungen gezogen werden -völlig von Ideologie durchdrungen ist.“
[15]
Vgl. MAX WEBER: Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl., Tübingen 1972: „Wirtschaftlich orientiert kann jede Art von Handeln, auch gewaltsames (z. B. kriegerisches) Handeln sein (Raubkriege, Handelskriege). Dagegen hat namentlich FRANZ OPPENHEIMER mit Recht das »ökonomische« Mittel dem »politischen« gegenübergestellt.“ (S. 32) „Die Art der Appropriation (insbesondere -wie, insoweit, F. OPPENHEIMER schlechthin zuzugeben ist: -der Bodenappropriation, aber freilich: nicht nur dieser) stiftet Renten-und Verdienstchancen mannigfacher Art, welche die Entwicklung zur technisch optimalen Verwertung von Produktionsmitteln dauernd obstruieren können.“ (S. 57)
[16]
Vgl. exemplarisch RÜDIGER DORNBUSCH, STANLEY FISCHER: Makroökonomik, München 1992; BERNHARD FELDERER, STEFAN HOMBURG: Makroökonomik und neue Makroökonomik, Berlin 1989; ARTHUR WOLL: Allgemeine Volkswirtschaftslehre, München 1992.
[17]
FRANZ-JOACHIM CLAUß hat hierzu eine weitergehende Kritik formuliert, die sich in jeder Hinsicht auf OPPENHEIMER berufen könnte. „Die wesentlichste allgemeinste Irrtums-Grundlage ist hier die praktische Gleichsetzung einer Volkswirtschaft mit einem Mechanismus und seinen linearen Kausalverhältnissen. Von der Empirie her näherliegend wäre der Vergleich des Kausalgeschehens in einem Sozialorganismus mit dem des biologischen Organismus: Der Sozialorganismus ist, wie der biologische, ein offenes System, das in ständigem Wirkungsaustausch mit der Außenwelt steht. Es kann dauerhaft nur existieren, wenn sein inneres Wirkungsgefüge sich einigermaßen in einem Gleichgewicht befindet, das der Mediziner »Gesundheit« nennt. Aber dieses Gleichgewicht ist selbst bei bestmöglicher Gesundheit kein stabiles Gleichgewicht zwischen konstanten Kausalbeziehungen, wie bei einem »gesunden Mechanismus«. Es ist vielmehr ein Prozeßgleichgewicht, und damit immer ein labiles Gleichgewicht. (...) In einem Sozialorganismus gibt es somit keine linearen Kausalitäten -so wenig wie im biologischen Organismus -, die im Sinne eines mechanischen Systems darstellbar wären. »Kausalität« ist im sozial-ökonomischen wie im biologischen Organismus das Ursache-Wirkungsgefüge des Kreislaufprozesses, die Interdependenzen, die gegenseitige Abhängigkeit der Kreislaufpole -so wie im biologischen Organismus jede Zelle mit jeder anderen im Wirkungszusammenhang steht.“ Und weiter: „»Ökonometrische« Modelle basieren immer auf einer »in algebraischen Gleichungen zusammengefaßten Wirtschaftstheorie«. Und diese ist im Vergleich mit dem komplizierten Wirkungsgefüge des Sozialorganismus zu simpel, als daß sich damit wesentliche Diagnose-und Prognose-Fortschritte erzielen ließen.“ FRANZ-JOACHIM CLAUß: Wissenschaftslogik und Sozialökonomie. Über die formalistische Degeneration einer Wissenschaft. Berlin 1981, S. 110 und 111.
[18]
„Staat und Gesellschaft haben den Zweck, dem allgemeinen Besten zu dienen. (...) Der Zweck der Gesellschaft steht also fest, und es ist Sache der Wissenschaft, in Erkenntnisurteilen festzustellen, inwiefern sie diesem ihrem Zweck gerecht wurde und wird. Und das Ergebnis ist ohne weiteres ein objektiv gültiges Werturteil - trotz SOMBART und den Seinen. Wenn jemand Wirtschaft, Kulturstand, Lebenshaltung, Bildung, Sterblichkeit, Lebensstimmung und Kulturleistung in Kunst, Wissenschaft usw. etwa bei dem russischen oder dem rumänischen und dem schweizerischen oder englischen Volke vergleicht, so muß er zu bestimmten Erkenntnis-und Werturteilen über ihre beiderseitige Gesellschaftsordnung gelangen, die beide ganz gleich objektiv gültig sind. (...) Und wir brauchen uns von niemandem im Namen einer angeblichen Wissenschaft verbieten zu lassen, aufgrund allgemein gültiger Erkenntnisurteile die dazu gehörigen Werturteile namens der wirklichen Wissenschaft auszusprechen, eine Katze eine Katze und z. B. zarische Barbarei oder rumänische Bodenverteilung oder amerikanischen Trustwucher das zu nennen, was sie sind. (...) Die Soziologen und Nationalökonomen, die grundsätzlich, ihrer Stellung und Abkunft entsprechend, Verteidiger der augenblicklich geltenden Ordnung sind, wenden seit einem halben Jahrhundert -ich wiederhole, daß ich an ihrer bona fides nicht einen Augenblick zweifeln will -Trick auf Trick an, um dem Zwange zu entgehen, aus gewissen wissenschaftlichen Erkenntnisurteilen die notwendig folgenden Werturteile abzuleiten. Zuerst haben sie die ökonomische Methode in Bausch und Bogen verworfen und unter dem Vorwande, Nationalökonomie zu lehren (die ohne jede Methode nicht denkbar ist), Wirtschaftsgeschichte gelehrt; das waren die »historischen Nationalökonomen«. Dann, als das nicht mehr länger ging, haben sie die Methode wieder in ihren Rang eingesetzt, aber auf ein ganz fremdes Gebiet angewendet und unter dem Vorwande, Nationalökonomie zu lehren, Psychologie gelehrt; das sind die »Grenznutzentheoretiker«. Und jetzt, wo auch das nicht länger geht, will man der Wissenschaft prinzipiell verbieten, dem Leben zu dienen, d. h. Werturteile zu begründen, indem man alle Werturteile den Vorurteilen gleichsetzt, die allerdings aus der »Weltanschauung« stammen.“ FRANZ OPPENHEIMER: Wissen und Werten. In: derselbe, Wege zur Gemeinschaft, München 1924, S. 1 -9, hier S. 6 -9. Siehe zu diesem Thema ebenso EBERHARD STÖLTING: Akademische Soziologie in der Weimarer Republik, Berlin 1986, besonders S. 54 und 62.
[19]
Vgl. HEINRICH KLEMM: Die beiden liberalen Utopien bei Franz Oppenheimer und in der Freiburger Schule. Diss. Tübingen 1950.
[20]
Vgl. HORST FRIEDRICH WÜNSCHE: Welcher Marktwirtschaft gebührt das Beiwort »sozial«? In: Grundtexte zur Sozialen Marktwirtschaft, Bd. 2, Das Soziale in der Sozialen Marktwirtschaft, Stuttgart 1988, S. 21 -31, hier S. 22 f.
[21]
Vgl. WERNER KRUCK: » Marktwirtschaftliche Selbststeuerung« und »gemeinwirtschaftliche Selbsthilfe« -Zur Politischen Ökonomie einer ostdeutschen Gesundungsstrategie. In: Arbeit. Zeitschrift für Arbeitsforschung, Arbeitsgestaltung und Arbeitspolitik, 2.Jg., Heft 3/1993, S. 242 -263.
[22]
Weil das Land sich ändern muß. Ein Manifest. Reinbek bei Hamburg 1992.
[23]
ROMAN HERZOG: Wirtschaft und Gesellschaft brauchen Pioniergeist. Rede des Bundespräsidenten auf dem DIHT-Kongreß am 18.10.1994 in Hagen, abgedruckt im Bulletin des Presse-und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 100 vom 26.10.94, S. 917-920, hier S. 919 f.
[24]
Ich habe hier »Arbeitnehmer« und »Mieter« ganz bewußt mit aufgenommen, weil der Leser darüber stolpern wird und sofort denkt, daß die Arbeitnehmer und Mieter doch niemals die Dienstherren der Arbeitgeber und Vermieter gewesen seien (außer bei entsprechenden Genossenschaften). Und in der Tat: während man im Bereich der Produktion zumindest soweit ist, das Konsumenteninteresse hervorzuheben und bei Staat und Politik das Volk als Souverän anführt, versuchen andere Bereiche nicht einmal den Schein zu erwecken, als sei die Versorgung mit Arbeitsplätzen und Wohnungen ihr Ziel. Die Normalität des Verdienens steht bei letztgenannten weit über dem Anspruch des Dienens und der allgemeinen Nützlichkeit, die in einem wohlgeordneten System dem Verdienen als zu bewältigende Hürde vorgeschaltet sein sollten. Wie und ob sich das anders ordnen ließe, ist eine andere Frage. Zunächst ist nur analog zu obigen Ausführungen festzustellen, daß neben der anderen Marktlage bei Arbeitsplätzen und Wohnungen auch das öffentliche Verständnis gänzlich anders gelagert ist.