1.2. Die selbstregulierte Gesellschaftswirtschaft bei Adam Smith

Unter dem Titel „Die »soziale Kälte« des Liberalismus -Versuch einer Klärung“ befaßte sich GERHARD SCHWARZ jüngst aus der Mitte jener heraus, die sich heute als Vertreter des Liberalismus verstehen, mit dem Thema dieses Kapitels[124]. In seiner Arbeit stellt SCHWARZ einerseits dar, daß eine Flut staatsinterventionistischer Regelungsbegehren unter dem Deckmantel »sozialer Fürsorge« entmündigend und kontraproduktiv auf die Organisation des Gemeinwesens und seiner Mitglieder wirken. Als innovativ an seiner Argumentation kann etwa der Vorschlag gelten, Steuerpflichtigen die Möglichkeit der Direktabgabe an gemeinnützige Organisationen einzuräumen und somit den anonymen Umverteilungsmechanismus des Staates durch Elemente eines gemeinwohlorientierten Wettbewerbes zu ergänzen[125]. Auf der anderen Seite versucht er, die marktinterventionistische Legitimation der Politik (und nachfolgend des staatlichen Verwaltungsapparates) dadurch zu entlegitimieren, daß er FRIEDRICH AUGUST VON HAYEK folgend den Begriff »sozial« in Angelegenheiten des Marktes als deplaziert herausstellt. „So meinte HAYEK einmal, »Was eigentlich sozial heißt, weiß niemand. Klar ist nur, daß eine Soziale Marktwirtschaft keine Marktwirtschaft ist«[126]. Und auf S. 22 folgt dann die Feststellung, „daß Soziale Marktwirtschaft und Ordoliberalismus nicht identisch sind. Der Ordoliberalismus führt in letzter Konsequenz nur zu einer Art von staatlicher Intervention in die Wirtschaft, nämlich einer wettbewerbspolitisch motivierten. Er will die Selbstaufhebung des Wettbewerbs verhindern. Die Soziale Marktwirtschaft dagegen öffnet das Tor für alle möglichen Staatseingriffe, weil »sozial« eben ein Allerweltswort ist.“

Der Gesamtargumentation von SCHWARZ will ich hier weder folgen noch zustimmen, weil sie mehr bewußte Provokation denn Argumentation verkörpert. Andererseits legt der Text die heute herrschende Verwirrung der Begriffe »Sozialstaat« und »Soziale Marktwirtschaft« offen. Er zeigt den Orientierungsverlust bezüglich einer »Theorie der Sozialen Marktwirtschaft« deutlich auf und kontrastiert die altliberale Vision einer »Eroberung des Staates durch die Gesellschaft« mit der real eingetretenen Erstarrung der Strukturen, die die Freiheiten und Handlungschancen des Lebendigen erneut einer »Logik der Systeme« unterzuordnen droht.

Ein zeitübergreifend gültiger Punkt dieser Logik scheint wiederum zu sein, daß Verwaltungen, wenn sie erst einmal entstanden sind, auch verwalten müssen, dabei zu einem eigenständigen Machtfaktor heranwachsen und sich selber Aufgaben suchen, so daß der Staat, selbst wenn er nicht mehr Klassenstaat ist, doch weiterhin ein Gebilde mit eigener Dynamik bleibt, welches -neben aller erwünschter Tätigkeit [S. 69] - darüber hinausgehend heranwächst und herrscht, wo eigentlich geregelt werden müßte. Aus dieser Perspektive scheinen sich der »Staat« als Prinzip der politischen Herrschaft und »Markt« als Prinzip der nichtpolitischen Regelungen gegenüberzustehen.

Bei genauerer Betrachtung eröffnet sich zwischen den vorgetragenen Argumenten allerdings eine eigentümliche Problemstellung. Einerseits gilt der Staat bei ALBERT JAY NOCK und anderen geradezu als »Feind« des freien Bürgers[127]. Und auch bei OPPENHEIMER ist der moderne Verfassungsstaat Rechtsnachfolger des primitiven Eroberungsstaates, von dem er wenig schmeichelhafte Definitionen gab:

„Der Staat ist eine in Klassen gegliederte Rahmengruppe, die eine mit Machtmitteln versehene Anstalt für den Grenz-und Rechtsschutz besitzt.

Der Staat ist eine Rechtsinstitution, einer besiegten Gruppe durch eine siegreiche Gruppe einseitig auferlegt mit dem ursprünglich einzigen Zwecke, die Besiegten zugunsten der Sieger so hoch und so dauernd wie möglich zu besteuern.“[128]

„Man kann den Staat auffassen als eine ökonomische Kollektivperson der herrschenden Klasse, die sich die Arbeitskraft der Untertanen als »Wertding« beschafft hat.“[129]

„Die »Ursprungsnorm« dieser Verfassung lautet: »Ihr sollt uns unentgolten steuern; zu dem Zwecke habt ihr zu gehorchen, wenn wir befehlen, sonst trifft euch die Sanktion, die uns beliebt.“[130]

„»Die Herrschenden und ihr Anhang heißen lo stato, und dieser Name durfte dann die Bedeutung des gesamten Daseins eines Territoriums usurpieren«, sagt BURCKHARDT.“[131]

Mit anderen Worten soll eine Einrichtung, deren historischer Inhalt die Beherrschung eines unterworfenen Gebietes durch eine herrschende Klasse war, die in diesem Stadium ihrer Klasse das nationale Vermögen an Grund und Boden zugeschanzt hat (↑ 138, 322), Gesetze und Methoden zum Zwecke der Beherrschung der Untertanen entwickelte (↑ 229), jene rationale Instanz abgeben, die die Marktwirtschaft absichert? Und ausgerechnet jene Marktwirtschaft, die, wenn man sie läßt, zur zügigen Monopolbildung neigt, um den Härten des freien Wettbewerbes zu entweichen, soll an die Stelle des staatlichen Reglements treten? Sieht man sich hier nicht unweigerlich an MÜNCHHAUSEN erinnert, wie dieser sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zieht?

Das Problem besteht meines Erachtens darin, daß die Rechnung in beiden Fällen ohne einen Begriff der Gesellschaft aufgemacht wird, die sich als erstrangiges, [S. 70] ewiges und einzig berechtigtes Aggregat einen Staat zu ihrer Selbstregelung und eine Wirtschaft zu ihrer Selbstversorgung leisten und einrichten sollte. Indem die Gesellschaft als ein willentlicher, demokratisch konstituierter Körper bis heute keine fungible Ordnung gefunden hat, überläßt sie sich der Selbstregelung ihrer Unteraggregate und übergibt damit das Problem ihrer Komplexität einmal einer Einrichtung, die aus der Verwaltung der Probleme ihre Existenzberechtigung zieht, und zum anderen einem Marktmechanismus, der durch Beseitigung des zu Lösungen führenden Wettbewerbdruckes leichter an das Geld der Endverbraucher herankommt als durch lästige, weil anstrengende Entwicklung von Problemlösungen.

Wenn man zwei von vier gemeinsamen Standpunkten »dreier hervorragender Neoliberaler« wie folgt wiedergeben darf: „Erstens, alles Nachdenken über die Probleme des gesellschaftlichen Zusammenlebens hat nicht auszugehen von dem Begriff der Gesellschaft als einem abstrakten Über-Ich, sondern von dem einzelnen Menschen, dem Individuum, das sich selbst verwirklichen möchte. Zweitens, um ein Zusammenleben der Menschen in Vielfalt zu ermöglichen, bedarf es allseitig anerkannter Regeln und damit der Existenz des Staates. Aufgabe des Staates ist es, die Durchsetzung der Regeln gegenüber jedermann zu garantieren, um Anarchie und Knechtschaft auszuschließen. Das Gewaltmonopol des Staates ist unabdingbar. (...)“[132], dann hat man damit die normativen Ausgangsbedingungen fixiert, unter denen keine andere Entwicklung möglich ist als eben Anarchie und Knechtschaft. Denn der Markt selber kennt keine andere Regel als die des »kleinsten Mittels«; die Summe der Singularinteressen bildet kein Gesamtinteresse und kann dem Staat folglich keine Regeln setzen. Und gleiches gilt für den Staatsapparat selber, der nur dann Erfüllungsgehilfe und nicht Diktator wird, wenn er Instrument ist, auf dem »Gesellschaft« spielt, statt Pfeife, nach der die Bürger tanzen. Da Verwaltungen als selbstinteressierte Organisationen eigendynamisch aktiv sind, der atomistischprivat lebende Bürger dagegen in hinnehmende Passivität fällt, muß das Gruppen-Ich als Träger von Willen und sozialer Ordnung erst gebildet werden, bevor außerhalb des Staatsapparates sinnhaft strukturierte und legitimierte Zielvorgaben aufkommen können, die das Staatshandeln ausrichten.

Indem der »organisierte Liberalismus« unserer Zeit durchweg individualistisch orientiert ist, ist sein Lösungsrepertoire zum Gestaltungsproblem des Gesellschaftskörpers sehr beschränkt. Sicher setzt man heute an die Stelle von »Gesellschaft« die politischen Parteien und das Parlament, doch ändert dies nichts an dem Problem, daß Personen über Sachverhalte entscheiden, die die Folgen nicht zu verantworten haben. Wer sich als Produzent nicht am Kunden orientiert, wird dafür mit ungünstigen Preisen oder mangelnder Nachfrage bestraft. Wer als Parlamentarier oder Staatsdiener falsche Entscheidungen herbeiführt, der muß dies nicht unbedingt merken oder gar einsehen, geschweige denn darunter leiden. Insofern ist z.B. die Frage, ob die Deutsche Bahn per Dienstanweisung aus dem Verkehrsministerium oder als benutzereigene Verkehrsgenossenschaft besser funktionieren [S. 71] würde, durch Hinweis auf das parlamentarische Legitimationsverfahren nicht gelöst, durch die Eigenmacht der eingebundenen staatlichen Verwaltungsstäbe jedoch sehr wohl vorentschieden.

Die Auseinandersetzung mit dem Altliberalismus, exemplarisch verkörpert durch ADAM SMITH, zeigt hier einen anderen Weg. SCHULZE-DELITZSCH, OPPENHEIMER, SMITH und andere sahen »Gesellschaft« nicht bereits durch die bloße Existenz einer Vielzahl von Individuen gegeben, sondern sie verfolgten die Sicherung eines über das Einzelleben hinausreichenden gesellschaftlichen Aggregates, das in dem Ausgleich und Austausch über die Generationen hinweg einen überindividuellen Standpunkt durch Einsicht und Zustimmung ausbilden muß. Fragen wir uns, ob ein zentralistischer Parlamentarismus die geeignete Antwort auf komplexe Strukturen ist oder lediglich die historisch nächste Stufe nach einer ebenfalls zentralistischen Feudalordnung. Und wenn es so wäre, daß die Adelsherrschaft im Staate lediglich durch eine Parlamentsherrschaft ersetzt wurde, weil dies der vorstellbare nächste Schritt der Umverteilung der Gewalten war, welche grundlegende Modifizierung der gesellschaftlichen Selbststeuerung hat dann dabei das Herrschaftsinstrument »Staat« erfahren? Zugespitzt formuliert, vertragen sich Staat und Parlamentarismus ebensogut wie Staat und Feudalismus. In beiden Fällen erscheint eine zielgerichtete Entwicklung von Methoden eines selbstorganisierten Gemeinwesens obsolet, weil alle Zuständigkeiten und Mittel in den Händen der Aristokratie eines Staatsapparates verbleiben und die Notwendigkeit oder Berechtigung eines selbstorganisierten Gemeinwesens von denen, deren Beruf und Existenzgrundlage die Staatsorganisation ist, nicht gesehen oder gar unterstützt wird. Und an dieser Stelle müßte die Gegenwehr einsetzen, damit die »liberale Vision« der »Eroberung des Staates durch die Gesellschaft« vorangebracht werden könnte, damit der Staat als beherrschende politische Organisation weiter zurücktreten kann, bis sich eines Tages die OPPENHEIMERsche Vision einer »Freibürgerschaft«[133] (↑ 362) realisieren ließe. 1896 schrieb er:

„(...) Es sind dies die unanfechtbaren Sätze, auf denen der politische Liberalismus aufbaut. Sein Fehler ist nur gewesen, daß er eine Zeit für sie reif hielt, die so weit von der Stabilität entfernt ist, wie die unsere. Es hat nicht genügt, die politische Emancipation aus dem Gröbsten herauszuarbeiten; erst mit der wirtschaftlichen Emancipation wird die stabile Massenlagerung erreicht sein, welche die Vorbedingung der Demokratie ist. Erst dann wird der Liberalismus die Probe auf seine Rechnung machen können: die Halbheiten der heutigen Praxis aber sind schlimmer als irgend ein Absolutismus. Kurz gesagt: wer behauptet, daß jede Demokratie in Tyrannis oder Pöbelherrschaft umschlagen müsse, weil thatsächlich bisher jede Demokratie so geendet hat, der verschweigt erstens, daß bisher auch keiner Aristokratie oder Monarchie dies Schicksal erspart geblieben ist; und verschweigt ferner das wichtigste, daß wir nämlich zwar schon echte Aristokratien und Monarchien in Masse gesehen haben, daß die Weltgeschichte aber noch niemals einen Versuch mit der echten Demokratie gemacht hat. Bis heute war jede sogenannte »Demokratie« de facto eine Aristokratie: aufgebaut auf der [S. 72] Sklavenherrschaft die hellenische und die römische Republik, auf der Privilegienherrschaft direkt und indirekt der bäuerlichen Unfreiheit die mittelalterlichen Städterepubliken, auf der kapitalistischen Klassenherrschaft die neuzeitlichen Demokratien. Jener Versuch bleibt der Weltgeschichte noch zu machen. Sie wird damit die Menschheit mündig sprechen. Sie wird die Herrschaft sein einer Gemeinde über sich selbst, welche alle Vorzüge der Demokratie mit allen Vorzügen der Aristokratie vereinigt, ohne ihre Nachteile zu haben, einer Gemeinde, deren Mitglieder in überwiegender Zahl Aristokraten im besten Sinne des Wortes sind, d. h. Männer von reinem Willen, geläuterter Erkenntnis und freiwilliger Unterordnungskraft unter ein Ganzes.“[134]

HORST FRIEDRICH WÜNSCHE bemerkt in seinem Aufsatz über SMITH, daß die beiden Hauptwerke von SMITH, die »Theorie der ethischen Gefühle« und der »Wohlstand der Nationen«, für manchen Rezipienten verschiedene Funktionen zu erfüllen scheinen. Ersteres lege SMITH »soziale Gesinnung« dar, und zweiteres ließe SMITH als Verfechter des »Laissez-faire-Prinzips« erscheinen. WÜNSCHE formuliert daraufhin die These:

„SMITH könnte es unternommen haben, im »Wohlstand der Nationen« sozial erwünschte Ziele in den Aufgabenbereich der Wirtschaftspolitik zu integrieren. In einer solchen politischen Ökonomie kann Sozialpolitik nicht gesondert von der Wirtschaftspolitik behandelt werden, vielmehr muß die Wirtschaftspolitik so intensiv bedacht werden, als gäbe es keine sozialpolitische Gestaltungsmöglichkeit neben ihr. Bei dieser Zielsetzung hätte es SMITH fern liegen müssen, auf seine früheren sozialethischen Schriften hinzuweisen, denn damit wäre die Sozialpolitik ja als separater Politikbereich anerkannt worden. (...) Trifft diese These zu, folgt daraus ein unangenehmes Urteil über Nationalökonomen, die das ordnungspolitische Anliegen des »Begründers der Politischen Ökonomie« nicht verstehen. Wenn die aufgetretenen Schwierigkeiten bei der SMITH-Interpretation nicht durch Mängel im »Wohlstand der Nationen« verursacht werden, müssen die Verständnisprobleme beim Leser liegen. Möglicherweise ist in der modernen Nationalökonomie das ordnungspolitische Anliegen insgesamt aus dem Blick geraten. Mit generellem Unverständnis für Ordnungspolitik wäre naturgemäß auch das Verständnis für SMITHs ordnungspolitische Argumentation verloren gegangen.“[135]

Diese unverstandene »Dualität« bei SMITH, die keine Dualität ist, geht einher mit einer ähnlichen Ansicht OPPENHEIMERs. Er schreibt:

„Wir sagten, und halten es gegen jeden Versuch, die Ökonomik zu einer Filiale der Ethik zu machen, entschieden fest, daß sie eine völlig amoralische Wissenschaft ist: aber das heißt wahrlich nicht, daß sie mit eitel amoralischen oder gar unmoralischen Wirtschaftspersonen zu tun hat. Wir haben uns in der Begriffsbestimmung über diesen Gegenstand mit einer Ausführlichkeit verbreitet, die hoffentlich keine Mißverständnisse mehr aufkommen lassen wird. Der normale Mensch, und das bedeutet ein Wesen, das erstens von einer großen Anzahl von Imperativen sittlicher Art beherrscht wird, und das zweitens im letzten Grunde - abgesehen von den Bedürfnissen der tierischen Notdurft - [S. 73] nur ein Streben hat: Hochgeltung in seiner Gruppe, unter seinesgleichen. Und er folgt diesen Imperativen in aller Regel aus einer inneren Bereitschaft heraus.“[136]

Das heißt, die handlungsbestimmende Moral ist verankert in den auf Bezugsgruppen hin orientierten Personen. Diese, und nur diese, geben die Ziele und Werte an, die auf wirtschaftliche Weise (Mini-Max-Prinzip) verwirklicht werden sollen. Alles weitere ist eine Frage mehr oder weniger gelungener Systemkonstruktion bzw. Ordnungspolitik, wie man heute sagt. Es gibt danach kein »natürliches« System der Wirtschaft, sondern lediglich den ökonomischen Imperativ: Verschwende keine Energie. Welche Ziele nach diesem Leitsatz verfolgt werden, kann eine Gruppe, Gemeinschaft, Gesellschaft sich in ihrer Eigenschaft als leidende, bedürftige, verbrauchende Lebensgemeinschaft relativ frei setzen. Es heißt, die Marktwirtschaft in keinster Weise negieren, wenn es überindividuelle Personenzusammenschlüsse gibt (Verbrauchergenossenschaften), die ihre Konsumwünsche explizieren und deren Erfüllung nach dem Prinzip des kleinsten zulässigen Mittels verfolgen. Ebensowenig berührt es das Prinzip der Marktwirtschaft, wenn eine Rechtsgemeinschaft die ihr zulässigen und unzulässigen Mittel entlang ethischer Kriterien definiert und Zuwiderhandlung sanktioniert. Verfolgt man allerdings diesen Gedankengang weiter, kommt man zu einer völlig anders gelagerten Problemstellung, als uns die an Kapitalertrag, Zinssätzen und sonstigen Quoten orientierten Modelle vormachen.

Für die konstruktive Organisation des Wirtschaftssystems (Wirtschaftspolitik) ich möchte diese vergleichen mit der konstruierend-gestaltenden Leistung eines Architekten -wird die gesellschaftlich tragfähige Einigung über die angestrebten Ziele (der Form des Gebäudes) zum zentralen Punkt. Man mag etwa 3,5 Mio. (Stand 05.11.93) oder 4 Mio. (Stand 08.02.94) Arbeitslose akzeptieren oder Vollbeschäftigung wollen. Ist das Ziel explizit formuliert, kann die Verwirklichung beraten werden. Man müßte zunächst feststellen, ob eine Maximierung des gesellschaftlichen Gesamtproduktes mit oder ohne Arbeitslose erwartbar ist. Es könnte ja sein, daß es »billiger« ist, eine qualifizierte Gruppe länger als durchschnittlich nötig zu beschäftigen und eine andere Gruppe weder auszubilden noch zu beschäftigen. Wäre Arbeitslosigkeit ökonomisch erwünscht, müßte man offen über Preise verhandeln, die jenen gezahlt werden, die auf Erwerbstätigkeit freiwillig verzichten. Jeder Arbeitende wüßte dann, was seine Mehrarbeit einbringt bzw. wieviel dafür abzutreten ist, daß er/sie über das eigene Konsumbedürfnis hinaus arbeiten darf. Diese Klärung könnte bereits zu einer Verschiebung der Regulationsmechanismen führen.

Vermutlich sind die Konsumbedürfnisse weiter Bevölkerungskreise aber noch ungedeckt, so daß die Arbeit heute noch nicht rationiert werden müßte. Dann wäre der Kreislauf aus Konsumtion und Produktion zu untersuchen. Normativ müßte in einem Wirtschaftssystem mit Vollbeschäftigung gelten, daß jede Wirtschaftsperson [S. 74] in dem Maße Dienste anbieten kann, wie sie umgekehrt Dienste zum Zwecke des Genusses vom Markt nehmen will (↑ 219). Gibt es über diese Soll-Vorstellung keinen gesellschaftlichen Konsens, dann kann es auch keine willentlich geordnete Konstruktion im Sinne der Vollbeschäftigung geben. Daß man sich über bestimmte Sachverhalte nicht verständigen will, hat natürlich Gründe. Denn die Vollbeschäftigung verdirbt z. B. den »Arbeitskraft kaufenden« Unternehmern die (Ausbeutungs-) Preise (↑ 63, 99, 213, 298), was LUDWIG ERHARD mit seiner Wirtschaftspolitik durchaus beabsichtigt hat[137], während der Gedanke anderen weniger gefällt.

Als sich ADAM SMITH mit dem Thema der befreiten Marktwirtschaft befaßte, gab es noch keine öffentlich formierte Klasse, die den Interessenstandpunkt der Handelshäuser, Banken und Gewerbeproduzenten mit Macht in allen gesellschaftlichen Bereichen durchzusetzen versucht hätte. Von daher berücksichtigen die SMITHschen Darlegungen einige Entwicklungen des post-agrarischen, industriellen Kapitalismus nicht, die sich erst nach seiner Zeit eingestellt haben. Sie sind deswegen aus heutiger Sicht unvollständig, aber vielfach auch erfrischend unbeeinflußt von den ideologischen Wirrungen der Nach-SMITHschen-Ära.

Die SMITHsche Lehre bietet ein solides Fundament bis in die Gegenwart hinein und bedarf nur weniger Verbesserungen. Insbesondere müssen jene Teile der Auffassung ergänzt werden, die das politische Mittel der Einkommensgewinnung zum Gegenstand haben. Diese Ergänzungen wurden von liberalen Sozialisten im Anschluß an SMITH mit unterschiedlichem Nachdruck und Klarheit vorgenommen und von FRANZ OPPENHEIMER erstmals ausdrücklich zum Ausgangspunkt eines von Grund auf neu errichteten theoretischen Systems gewählt. Damit wurde von OPPENHEIMER ein neuer Weg der Synthese skizziert, der sich hinsichtlich der erwarteten Selbststeuerungsmechanismen des Marktes sehr weitgehend mit den Auffassungen von SMITH deckt, aber allen Fällen, in denen dieser Selbststeuerungsmechanismus nicht wirkt oder beeinträchtigt wird, mit wesentlich umfassenderen Untersuchungen nachgeht.

1.2.1. Die moralphilosophische Grundlage der Lehre

Die von ADAM SMITH vorgelegte »Theory of moral sentiments«[138] beginnt mit einer Darstellung des sozialpsychologischen Prinzips, aus dem heraus sich menschliche Gemeinschaften bilden: dem Prinzip der Haltungsübernahme, der symbolischen Interaktion und wechselseitigen Beeinflussung in Freude und Leid, wie wir sie bei manchen Herdentieren beobachten können und noch viel feinsinniger bei unserer eigenen Art[139]. Was von dem englischen Begriff »sympathy« in den deutschen [S.75] Begriff »Sympathie« (Zuneigung) übertragen wurde, meint bei SMITH eigentlich den Urbegriff aller Sozialität: den Vorgang des Mitempfindens[140].

„Daß dies die Quelle des Mitgefühls ist, welches wir gegenüber dem Elend anderer empfinden, daß wir erst dann, wenn wir mit dem Leidenden in der Phantasie den Platz tauschen, dazu gelangen, seine Gefühle nachzuempfinden, und durch sie innerlich berührt zu werden, das kann durch die offenkundige Beobachtung dargetan werden, wenn man es nicht schon an und für sich für genügend einleuchtend halten sollte. Wenn wir zusehen, wie in diesem Augenblick jemand gegen das Bein oder den Arm eines anderen zum Schlage ausholt, und dieser Schlag eben auf den anderen niedersausen soll, dann zucken wir unwillkürlich zusammen und ziehen unser eigenes Bein oder unseren eigenen Arm zurück; und wenn der Schlag den anderen trifft, dann fühlen wir ihn in gewissem Maße selbst und er schmerzt uns ebensowohl wie den Betroffenen.“[141]

Neben allen direkt körperlich motivierten Beispielen, die SMITH bei seiner Erläuterung des Mitempfindens anführt, ist das nachfolgende Zitat bereits ganz aus und auf einen gesellschaftlichen Kontext bezogen: „Wir erröten für die Schamlosigkeit und Roheit eines anderen, obwohl er selbst scheinbar kein Gefühl für die Unschicklichkeit seines Betragens hat; denn wir können uns des Gedankens an jene Beschämung nicht erwehren, die uns ergreifen würde, wenn wir selbst uns auf so unvernünftige Weise betragen hätten.“[142]

»Schicklichkeit« und »Scham« bedürfen, auf Handlungen bezogen, eines umfassenden Verständnisses, das sich nicht aus der Handlung selber ergibt, sondern in vorangegangenen Lebensperioden ausgebildet wurde. In wem sich solche Empfindungen regen, auf den hat Gesellschaft bereits gewirkt, und der hat sich als Teil derselben in diese hineinbegeben, zunächst Äußeres also in sein Inneres übernommen und daraus Eigenes gemacht, bis hin zur Unfähigkeit, regungslos hinzunehmen, wenn die gesellschaftliche Norm durch Dritte verletzt wird.

Man kann SMITH nicht vorwerfen, wenn seine Schrift noch mehr auf phänomenologischen Beschreibungen denn auf theoretischer Systematisierung beruht. Aber, und dies ist beachtlich: SMITH sind mit gleicher Sicherheit von Anbeginn seiner wissenschaftlichen Tätigkeit jene primär sozialen Vorgänge bewußt, die später [S. 76] etwa bei GEORGE HERBERT MEAD zur Konstruktion der moralischen Instanz des »generalisierten Anderen« führten sowie zu einer Aufarbeitung der Wechselbeziehung von Individuum und Gesellschaft[143], die wiederum JÜRGEN HABERMAS in seiner »Theorie des kommunikativen Handelns« entwickelt hat. Will sagen, ohne daß hier ein moralphilosophischer Exkurs gewagt wird: Die SMITHsche Theorie wählt einen ausgesprochen »modernen« Ausgangspunkt, indem sie das überindividuell Gültige aus der wechselseitigen Offenheit und Orientierung des Menschen ableitet.

Geradezu brillant ist die folgende Darstellung SMITHs. Ich will sie hier als längeres Zitat wiedergeben, weil der Sozialpsychologe darin das Prinzip der Wechselseitigkeit, welches von SMITH ausgehend auch auf IMMANUEL KANT und dessen »kategorischen Imperativ«[144] Einfluß genommen hat, erkennt. Allerdings werde ich mir die Freiheit nehmen, in der deutschen Übersetzung den im Deutschen auf eine individuelle Werthaltung bezogenen Begriff der »Sympathie« durch den eigentlich »Hineinnahme des Anderen in das eigene Ich« meinenden Begriff des [Mitempfindens] zu ersetzen.

„Um diese Harmonie [der Gesellschaft[145]] zustande zu bringen, hat die Natur die Zuschauer gelehrt, sich in Gedanken in die Lage des zunächst Betroffenen zu versetzen, und ebenso hat sie diesen letzteren gelehrt, sich wenigstens bis zu einem gewissen Grade in jene der Zuschauer hineinzudenken. Wie sie sich immer wieder in Gedanken an seine Stelle versetzen und dann von diesem Standpunkt aus Gemütsbewegungen erleben, die dem, was er fühlt, ähnlich sind, so versetzt auch er sich immer wieder an ihre Stelle und empfindet von diesem Standpunkt aus gegenüber seinem eigenen Schicksal etwas von jenem kühlen Gleichmut, mit welchem sie es, wie er wohl weiß, betrachten werden. Wie sie immer wieder überlegen werden, was sie wohl fühlen würden, wenn sie selbst wirklich die Betroffenen wären, so sieht er sich immer wieder veranlaßt, daran zu denken, welchen Eindruck auf ihn, wenn er nur einer der Zuschauer wäre, dann seine jetzige Lage machen würde. Wie [ihr Mitempfinden] sie veranlaßt, seine Lage gewissermaßen mit seinen Augen zu betrachten, so veranlaßt ihn [sein Mitempfinden], seine Lage gewissermaßen mit ihren Augen anzusehen, insbesondere, wenn er sich in ihrer Gegenwart befindet und unter ihren Augen handelt. Und da der reflektierte Affekt, den er so empfindet, weit schwächer ist als der ursprüngliche, so dämpft jener die Heftigkeit der Gefühle, die ihn bewegten, bevor er in die Gesellschaft dieser Zuschauer kam, bevor er anfing, sich darauf zu besinnen, welchen Eindruck seine Lage auf sie machen würde, und bevor er begann, seine Lage in diesem gerechten und unparteiischen Lichte zu betrachten.“[146]

[S. 77] Nur eines müßte man an dieser Textpassage noch modifizieren, denn nicht »die Natur hat die Zuschauer gelehrt, sich in Gedanken in die Lage des zunächst Betroffenen zu versetzen«, sondern es entspricht der Natur der Gelehrigkeit, sich in die Lage und Gedanken anderer zu versetzen. Ein ohne Sprachvermögen und Wissen in diese Welt hineingeborener Mensch ist zunächst völlig damit beschäftigt, eine Vorstellung von dieser Welt zu gewinnen und erste Interpretationen anhand der Haltungen, Erfahrungen und Begriffe Erwachsener vorzunehmen, die für ihn »Gesellschaft« bzw. »Ewigkeit« oder »das schon vor ihm Gewesene« darstellen. Erst auf der Basis dieser Primärcodierung kann das Gehirn (Mensch) ein Bewußtsein seiner selbst entwickeln[147], sich abgrenzen, einzigartige Erfahrungen anstreben und letztlich eine weitgehend selbständige Position gegenüber »Gesellschaft« einnehmen. Aber, und dies ist entscheidend, sein ganzer Lernerfolg beruht letztlich auf Vorgängen des »Sich-in-etwas-oder-jemanden-hineinversetzen-Könnens«. Die Ausbildung des Verstandesvermögens ist dadurch unmittelbar geknüpft an die Sensibilität, mit der ein Lernender den Sachverhalten seines Interesses begegnet. Die Offenheit des »Systems Mensch« ist ein Wesensmerkmal seiner Existenz, das Einfallstor von »Gesellschaft«, ohne die er nicht existieren kann, aber ohne das auch »Gesellschaft« nicht zustandekommt, die letztlich als Resultat für einen vollzogenen Verbund der auf Verbindung hin orientierter Individuen über Raum und Zeit hinweg steht.

SMITH, der oft fälschlich als Wegbereiter eines ungehemmten Egoismus bemüht wird, der angeblich nützlich und nicht gesellschaftsschädlich sei, weil eine »unsichtbare Hand« alles zum Besten regelt[148], dieser SMITH ist durchdrungen von einem feinen Gemeinsinn und warnenden Ratschlägen, die Einheit der Gesellschaft nicht der Ungerechtigkeit und den Charakterschwächen einzelner Gesellschaftsmitglieder zu opfern. Für ihn gibt es dabei nicht nur die moralische Instanz, vor der sich jedes Individuum mit seinem Gewissen zu verantworten hat, nicht nur den Druck der Öffentlichkeit (wir würden heute von »sozialer Kontrolle«[149] sprechen), sondern ebenso die gerechte Strafe und den gerechtfertigten Verstoß aus der [S. 78] Gesellschaft für relativ geringfügige Vergehen. Der Ehrenkodex in Europa[150] um 1750 war von einer Strenge und somit auch Funktion, die alle gediegenen Fürsprecher aggressiver Selbstverwirklichung heute gerne vergessen. Ein Mann von Ehre bestieg lieber das Schafott, als daß er sich öffentlich an den Pranger stellen ließ. Und vermochte er diesen letzten Gang nicht erhobenen Hauptes antreten, sondern vergoß über sein Schicksal eine Träne, dann war ihm die Verachtung der Gesellschaft über seinen (belanglosen) Tod hinaus gewiß[151]. Man lese SMITH, um sich die Härte der sozialen Kontrolle und Enge der sozialen Räume bewußtzumachen, die wirkungsvoller als alles geschriebene Recht nach gesittetem Handeln verlangt oder das Individuum aus der Mitte der Gesellschaft ausstieß und dem gesellschaftlichen Tod vor dem körperlichen preisgab.

Ein anderes Beispiel von SMITH ist die Berechtigung, einen Wachposten zu erschießen, wenn dieser ein ruhendes Heer in Gefahr bringt, weil er eingeschlafen ist. SMITH schreibt darüber: „Wenn die Erhaltung eines Individuums unvereinbar ist mit der Sicherheit einer großen Menge, dann kann nichts gerechter sein, als daß die Vielen dem Einen vorgezogen werden.“[152] Solch ein Urteil geht zwar auch SMITH nicht leicht von der Hand, aber es ist ihm letztlich unumgänglich.

Es sei hier daran erinnert, daß die Strenge jener Zeit gegeben war und SMITH unter dieser Randbedingung argumentiert, wenn er dem wirtschaftenden Menschen größere Freiheiten zubilligt als bis dahin üblich. An eine Aufhebung der Ehrenbindungen, durch die das Individuum an den »Common sense« der Gesellschaft gekettet war, dachte SMITH vermutlich nicht in seinen kühnsten Vorstellungen. Seine Zeit war eben die der gebundenen ständischen Gesellschaft, die als Kontrastpunkt in Europa lediglich ein unzivilisiertes Rußland kannte, in dem man es wahrlich fertig brachte, Edelmänner mit Stockhieben zu bedenken -nach damaliger Vorstellung die entehrendste aller Strafen, derer man eine schwere Verletzung durch Schwert oder Kugel jederzeit vorgezogen hätte[153].

Wechselt man in jene Zeit, dann muß man sich fragen, wie SMITH wohl geurteilt hätte, wenn ihm die Frage nach dem einen und den vielen (siehe oben) in anderer Form vorgelegt worden wäre. Angenommen, eine Person besäße alles Korn eines Landes, (oder alles Land eines Landes), und Hunger würde die vielen mit dem Tod bedrohen, weil der eine sich entschlossen hat, auf der Not der Masse seinen Reichtum zu begründen. War solch ein Fall für SMITH überhaupt denkbar?

Geschrieben hat SMITH darüber, und zwar im Kontext einer der zwei Stellen, an denen er die »unsichtbare Hand« als Metapher verwendet. Diese Stelle ist deswegen besonders interessant, weil SMITH hier mit Vorstellungen argumentiert, die den uns bekannten Tatsachen kraß entgegenstehen, während eine auf den Tatsachen aufbauende Argumentation bei SMITH nicht die »unsichtbare Hand«, sondern alle gesellschaftseigenen Mechanismen einer Strafaktion auf den Plan gerufen hätten. [S. 79] Es trifft sich gut, die Textstelle des moralphilosophischen Werkes in der moralphilosophischen Abteilung behandeln zu können, während die zweite Textstelle des nationalökonomischen Werkes sich in das folgende nationalökonomische Kapitel einfügt (↑ 84).

Auf S. 315 schildert SMITH erneut die Freuden der Reichen, ihr Wohlergehen und ihre Bequemlichkeiten, die die Masse der Menschen so entzückt und denen im nüchtern philosophischem Lichte betrachtet doch nur Verächtliches anhaftet. Reichtum ist für SMITH keine Quelle der Zufriedenheit, kein Lebenssinn, sondern eine Täuschung der Eitelkeit, die den Strebsamen eigentlich unglücklich Dingen hinterherjagen läßt, die ihm bei Erreichung bestenfalls jenen Seelenfrieden bescheren, den eine bescheidenere Natur bereits bei normaler Anstrengung erreicht. „Was ist der Endzweck von Habsucht und Ehrgeiz und der Jagd nach Reichtum, Macht und Vorrang? Ist es der, den natürlichen Bedürfnissen Genüge zu tun? Der Lohn des geringsten Arbeiters reicht aus, um diese zu befriedigen. (...) Es ist die Eitelkeit, nicht das Wohlbefinden oder das Vergnügen, was uns daran anzieht. Eitelkeit aber beruht immer auf der Überzeugung, daß wir der Gegenstand der Aufmerksamkeit und Billigung sind.“[154] Dagegen:

„Die Glückseligkeit besteht in der Ruhe und im Genuß. (...) Die Hauptquelle des Elends und der Zerrüttungen des menschlichen Lebens scheint aus einer Überschätzung zwischen einer dauernden Lebenslage und einer anderen zu entspringen. Habgier überschätzt den Unterschied zwischen Armut und Reichtum; Ehrgeiz den Unterschied zwischen Privatleben und öffentlicher Stellung; Ruhmsucht den Unterschied zwischen Unbekanntheit und ausgebreitetem Ansehen. Ein Mensch, der unter dem Einflusse eines jener maßlosen Affekte steht, ist nicht nur in seiner gegenwärtigen Lebenslage elend, sondern er wird oft auch geneigt sein, den Frieden der Gesellschaft zu stören, um jene andere Lage zu erreichen, die er so töricht bewundert. (...) Was der Günstling des Königs von Epirus zu seinem Herrn sagte, kann auf alle Menschen in den gewöhnlichen Lebenslagen angewendet werden. Als der König ihm alle Eroberungen, die er zu machen gedachte, in ihrer richtigen Ordnung aufgezählt hatte und bereits bei der letzten von ihnen angelangt war, fragte der Günstling: »Und was gedenkt Euere Majestät dann zu tun?« »Ich gedenke,« sagte der König, »mich dann mit meinen Freunden zu unterhalten und bei einer Flasche Weins mit ihnen fröhlich zu sein.« »Und was hindert Euere Majestät«, erwiderte der Günstling, »dies gleich jetzt zu tun?« (...) Die Inschrift auf dem Grabstein jenes Mannes, der sich bemüht hatte, seine leidlich gute Gesundheit durch das Einnehmen von Medizinen zu verbessern: »Ich befand mich wohl, ich wünschte mich besser zu befinden -hier bin ich!« kann im allgemeinen mit vollem Recht auf das Elend enttäuschter Habgier und gekränkten Ehrgeizes angewendet werden.“[155]

Mit dieser Weisheit bezüglich der Narrheiten des Menschen ausgestattet, schreibt SMITH nun:

„Und es ist gut, daß die Natur uns in dieser Weise betrügt. Denn diese Täuschung ist es, was den Fleiß der Menschen erweckt und in beständiger Bewegung erhält. Sie ist es, was sie zuerst antreibt, den Boden zu bearbeiten, Häuser zu bauen, Städte und staatliche [S. 80] Gemeinwesen zu gründen (...). Durch diese Mühen und Arbeiten der Menschen ist die Erde gezwungen worden, ihre natürliche Fruchtbarkeit zu verdoppeln und eine größere Menge von Einwohnern zu erhalten. Es ist vergebens, daß der stolze und gefühllose Grundherr seinen Blick über seine Felder schweifen läßt und ohne einen Gedanken an die Bedürfnisse seiner Brüder in seiner Phantasie die ganze Ernte, die auf diesen Feldern wächst, selbst verzehrt. Das ungezierte und vulgäre Sprichwort, daß das Auge mehr fasse als der Bauch, hat sich nie vollständiger bewahrheitet als in bezug auf ihn. Das Fassungsvermögen seines Magens steht in keinem Verhältnis zu der maßlosen Größe seiner Begierden, ja, sein Magen wird nicht mehr aufnehmen können als der des geringsten Bauern. Den Rest muß er unter diejenigen verteilen, die auf das sorgsamste das Wenige zubereiten, das er braucht, unter diejenigen, die den Palast einrichten und instandhalten, in welchem dieses Wenige verzehrt werden soll, unter diejenigen, die all den verschiedenen Kram und Tand besorgen und in Ordnung halten, der in der Haushaltung der Vornehmen gebraucht wird; sie alle beziehen so von seinem Luxus und seiner Launenhaftigkeit ihren Teil an lebensnotwendigen Gütern, den sie sonst vergebens von seiner Menschlichkeit oder von seiner Gerechtigkeit erwartet hätten. Der Ertrag des Bodens erhält zu allen Zeiten ungefähr jene Anzahl von Bewohnern, die er zu erhalten fähig ist. Nur daß die Reichen aus dem ganzen Haufen dasjenige auswählen, was das Kostbarste und ihnen Angenehmste ist. Sie verzehren wenig mehr als die Armen; trotz ihrer natürlichen Selbstsucht und Raubgier und obwohl sie nur ihre eigene Bequemlichkeit im Auge haben, obwohl der einzige Zweck, welchen sie durch die Arbeit all der Tausende, die sie beschäftigen, erreichen wollen, die Befriedigung ihrer eitlen und unersättlichen Begierden ist, trotzdem teilen sie doch mit den Armen den Ertrag aller Verbesserungen, die sie in ihrer Landwirtschaft einführen. Von einer unsichtbaren Hand [Hervorhebung W.K.] werden sie dahin geführt, beinahe die gleiche Verteilung der zum Leben notwendigen Güter zu verwirklichen, die zustandegekommen wäre, wenn die Erde zu gleichen Teilen unter alle ihre Bewohner verteilt worden wäre; und so fördern sie, ohne es zu beabsichtigen, ja ohne es zu wissen, das Interesse der Gesellschaft und gewährleisten die Mittel zur Vermehrung der Gattung. Als die Vorsehung die Erde unter eine geringe Zahl von Herren und Besitzern verteilte, da hat sie diejenigen, die sie scheinbar bei ihrer Teilung übergangen hat, doch nicht vergessen und nicht ganz verlassen. Auch diese letzten genießen ihren Teil von allem, was die Erde hervorbringt. In all dem, was das wirkliche Glück des menschlichen Lebens ausmacht, bleiben sie in keiner Beziehung hinter jenen zurück, die scheinbar so weit über ihnen stehen. In dem Wohlbefinden des Körpers und in dem Frieden der Seele stehen alle Lebensumstände einander nahezu gleich und der Bettler, der sich neben der Landstraße sonnt, besitzt jene Sicherheit und Sorglosigkeit, für welche Könige kämpfen.“[156]

Mit anderen Worten:

  1. SMITH argumentiert von einem Standpunkt des wahren Glückes und von keinem »modernen« Standpunkt der Ökonomie, die nach dem Mini-Max-Prinzip rein materialistische Ziele verfolgt, also maximale Erträge, zumeist alle Gedanken sogar reduziert auf Gelderträge. Von dieser Motivation bei SMITH kein Wort, außer wenn er die geistigen Verirrungen der Reichen schildert.
  2. SMITH argumentiert vom Standpunkt einer Nationalökonomie ohne Außenhandel mit landwirtschaftlichen Massenprodukten. Der in hölzernen Segelschiffen [S. 81] mögliche Getreidehandel wurde sowohl begrenzt durch die Ladekapazitäten als auch durch das Risiko, daß das Getreide umgehend verfaulte. Das heißt, die Landherren tauschten ihr Getreide gegen die Dienste der Besitzlosen schlicht deswegen, weil die anderweitige Verwendungsmöglichkeit fehlte.

Die Situation änderte sich radikal, als man auf die Idee kam, Ackerflächen in Weideflächen zu verwandeln und die Werte in der Form von Nutzvieh überregional gegen »Kram und Tand« zu tauschen (wie SMITH sich ausdrückt). Sofort entstand das England eines THOMAS MORUS (↑ 203), »in dem die Schafe die Menschen fraßen«, »die Bauern in die See getrieben wurden«, und SMITH ewig und überall geltendes »Der Ertrag des Bodens erhält zu allen Zeiten ungefähr jene Anzahl von Bewohnern, die er zu erhalten fähig ist« wandelt sich in sein Gegenteil. Klingt es doch so zahm, wenn SMITH von der »Vorsehung« spricht, die den Boden in die Hände weniger gegeben habe. In dem Augenblick, wenn der entwickelte Markt aus dem Boden ein ausbeutbares Kapitalstück werden läßt, straft die »unsichtbare Hand« alle Sünden der Vergangenheit[157], und aus der »Vorsehung« wird »Schicksal«, Ruin und Tod für Teile einer Gesellschaft, die zuvor jedem hinreichende Existenzchancen bot.

Läßt sich glauben, daß eine »moderne Nationalökonomie« aus solch schwachen Argumenten ihre Legitimation und Geburtsstunde ableitet? Oder kann man mit der Weisheit eines ADAM SMITH nur leben, indem drei Sätze aus seinem Werk herausgelöst werden und man diese dann wie eine Leerstelle ausdeutet? Wir erinnern uns, daß SMITH das Ganze der Gesellschaft stets als den einzigen und höchsten Wert auffaßte, dem das Individuum sich selbst mit seinem Leben hinzugeben habe, wenn es das Überleben des Ganzen erfordere. Und wie steht es nun in dieser kritischen Frage, wenn das Ganze in Gefahr gerät, weil die Reichen, die SMITH persönlich überhaupt nicht schätzt, ihre Macht gegen das Volk wenden? Hierzu eine letzte Passage:

„So wurde der Mensch, der nur in Gesellschaft bestehen kann, von der Natur jener Situation angepaßt, für die er geschaffen war. Alle Mitglieder der menschlichen Gesellschaft bedürfen des gegenseitigen Beistandes und andererseits ist auch jedes von ihnen den Beleidigungen des anderen ausgesetzt. Wo jener notwendige Beistand aus wechselseitiger Liebe, aus Dankbarkeit, aus Freundschaft und Achtung von einem Mitglied dem anderen gewährt wird, da blüht die Gesellschaft und da ist sie glücklich. Alle ihre Mitglieder sind da durch die schönen Bande der Liebe und Zuneigung verbunden und gravitieren gleichsam zu einem gemeinschaftlichen Zentrum gegenseitiger guter Dienste.

Mag aber auch der notwendige Beistand nicht aus solchen edlen und selbstlosen Beweggründen gewährt werden, mag auch zwischen den verschiedenen Gliedern der Gesellschaft keine wechselseitige Liebe und Zuneigung herrschen, so wird die Gesellschaft zwar weniger glücklich und harmonisch sein, wird sich aber deshalb doch nicht auflösen müssen. Die Gesellschaft kann zwischen einer Anzahl von Menschen -wie eine Gesellschaft unter mehreren Kaufleuten -auch aus einem Gefühl ihrer Nützlichkeit [S. 82] heraus, ohne gegenseitige Liebe und Zuneigung bestehen bleiben; und mag auch kein Mensch in dieser Gesellschaft einem anderen verpflichtet oder in Dankbarkeit verbunden sein, so kann die Gesellschaft doch noch durch eine Art kaufmännischen Austausches guter Dienste, die gleichsam nach einer vereinbarten Wertbestimmung geschätzt werden, aufrechterhalten werden.

Indessen kann eine Gesellschaft zwischen solchen Menschen nicht bestehen, die jederzeit bereit sind, einander wechselseitig zu verletzen und zu beleidigen. In dem Augenblick, in dem gegenseitige Schädigung beginnt, in dem Augenblick, in dem wechselseitiger Groll und Gehässigkeit platzgreifen, werden alle Bande der Gesellschaft zerbrochen und all die verschiedenen Glieder, aus denen sie bestand, werden gleichsam durch die Gewalt und den Widerstreit ihrer disharmonierenden Gefühle zerstreut und in alle Richtungen auseinander getrieben. Wenn es eine Gesellschaft zwischen Räubern und Mördern gibt, dann müssen sie, einem ganz alltäglichen Gemeinplatz zufolge, sich wenigstens des Raubens und Mordens untereinander enthalten. Wohlwollen und Wohltätigkeit ist darum für das Bestehen der Gesellschaft weniger wesentlich als Gerechtigkeit. Eine Gesellschaft kann ohne Wohltätigkeit weiter bestehen, wenn auch freilich nicht in einem besonders guten und erfreulichen Zustande, das Überhandnehmen der Ungerechtigkeit dagegen müßte sie ganz und gar zerstören.

(...) Darum hat die Natur, um die Beobachtung der Regeln der Gerechtigkeit zu erzwingen, der menschlichen Brust jenes Schuldgefühl eingepflanzt, jene Schrecken des Bewußtseins, Strafe zu verdienen, die der Verletzung der Gerechtigkeit folgen, damit sie die Schutzwächter der Gemeinschaft der Menschen seien -die Schwachen zu schützen, die Ungestümen zu zähmen und die Schuldigen zu züchtigen.“[158]

Die Zerstörung der Regeln sozialer Gemeinschaft war für SMITH weder notwendig noch hinnehmbar. Es ist grober Unfug, wenn die Asozialität mancher Gesellschaften unter Hinweis auf SMITH damit entschuldigt wird, daß der Kampf »jeder gegen jeden« die Leistungsbereitschaft steigere und somit ein höheres Gesamtprodukt entstünde, wodurch das Prinzip des Kampfes seine ethische, weil konsumierbare oder allokativ optimierende Berechtigung habe. Die ganze Argumentation von SMITH läuft vielmehr darauf hinaus, daß immer dort, wo ein funktionierendes Gemeinwesen anzutreffen ist, der herrschaftliche Staatsapparat mit seinen Züchtigungs-und Reglementierungsinstrumentarien zurücktreten kann, weil das Gemeinwesen in sich eine Moral trägt, die in nahezu allen Fällen Ausdruck einer höheren Kultur sein dürfte, als jeder Mechanismus in sich zu bergen vermag. Aber selbst dann, wenn aufgrund der Anonymität kein Gemeinwesen der sozialen Art entstehen kann, gibt es noch die Möglichkeit eines Gemeinwesens nach den Regeln wechselseitiger Vereinbarung und Nützlichkeit. Und auch hier kann der Staat, sofern die Übereinkünfte von einer Qualität sind, die die Gerechtigkeit nicht verletzen, zurücktreten hinter das verwirklichte Eigeninteresse der Akteure. Wo das Individualinteresse das Gemeinwesen zu zerstören trachtet und die soziale Kontrolle versagt, nur da muß die ungesellige Macht eines Staates die »Schwachen schützen, die Ungestümen zähmen und die Schuldigen züchtigen«.

„Wie jedermann tut, so soll ihm wieder getan werden und die Wiedervergeltung des Gleichen mit Gleichem scheint das große Gesetz zu sein, das uns von der Natur selbst [S. 83] vorgeschrieben worden ist. Wohltätigkeit und Edelmut meinen wir, sollen dem Wohltätigen und Edelmütigen wieder erwiesen werden. Diejenigen, deren Herzen sich niemals den Gefühlen der Menschlichkeit erschließen, die sollten -meinen wir -in gleicher Weise von der Zuneigung aller ihrer Mitgeschöpfe ausgeschlossen sein und man sollte sie inmitten der Gesellschaft wie in einer großen Wüste leben lassen, wo es niemanden gibt, der für sie sorgen oder nach ihnen fragen würde. Wer die Gesetze der Gerechtigkeit bricht, den sollte man selbst jenes Übel fühlen machen, das er einem anderen angetan hat; und da keine Rücksicht auf die Leiden seiner Brüder imstande war, ihn zurückzuhalten, sollte er nun durch die Angst vor eigenem Leiden in Furcht und Schrecken versetzt werden. Der Mann, der bloß schuldlos ist, der in bezug auf die anderen nur die Regeln der Gerechtigkeit beobachtet und sich enthält, anderen Schaden zuzufügen, der verdient nur, daß seine Nächsten ihrerseits seine Schuldlosigkeit achten, und daß die gleichen Gesetze auch in bezug auf ihn strenge eingehalten werden.

Es kann keinen anderen schicklichen Beweggrund dazu geben, unseren Nächsten Schaden zuzufügen, es kann keinen anderen Anreiz geben, unserem Nächsten Böses anzutun, welchen die Menschen nachzuempfinden vermöchten, als allein die gerechte Entrüstung über das Böse, das dieser Nächste uns angetan hat. Das Glück eines anderen zerstören, nur weil es unserem eigenen im Wege steht, ihm zu nehmen, was ihm wirklich nützlich ist, nur weil es für uns ebenso nützlich oder noch nützlicher sein kann, das wird kein unparteiischer Zuschauer gutheißen können, -er wird es so wenig gutheißen können, wie jede andere Handlung, bei der sich der Mensch jenem natürlichen Hange hingibt, sein eigenes Glück dem Glück aller anderen vorzuziehen und auf deren Kosten zu befriedigen.“[159]

„Kurz: SMITHs Gesellschafts-und Staatsideal ist mithin in keiner Weise ein atomistisches, sondern dasjenige einer fundamental menschlichen Gemeinschaft, die sowohl gegenseitigen Rechtsschutz gewährt, aber auch in Kooperation auf Sicherheit, Respekt und Glück eines jeden ihrer Glieder zielt.“[160]

Hätte die »unsichtbare Hand«, statt den Bodenertrag eines Landes zu maximieren und unter die Bevölkerung eines Landes zu verteilen, Hunger und Tod der einen, gepaart mit Raffsucht und Zynismus der anderen hervorgebracht, dann hätte SMITH m. E. nach der strafenden Hand des Staates und nach Gerechtigkeit verlangt.

Bleibt also zu klären, ob bzw. warum SMITH in den Bewegungsgesetzen der Ökonomie keine Gefahren gesehen hat. Wenn SMITH lediglich vorzuwerfen wäre, daß er die »Bewegungsgesetze der Ökonomie« nicht hinreichend in ihrer Beziehung zu den »Bewegungsgesetzen der Macht« gesehen hat, weil der Faktor »Macht« in jedem funktionierenden Gemeinwesen moralisch gebändigt und gemäß gelebter Gerechtigkeitsvorstellungen kanalisiert ist, dann wäre die Abweichung seiner theoretischen Erwartungen von den realen Ereignissen heilbar und SMITH für die Abweichung nicht haftbar. Denn die moralische Wende und Zersprengung der Gesellschaft in seine selbstinteressierten Atome ist ein Produkt der Nach-SMITHschen-Ära; [S. 84] vielleicht eine unvermeidliche Folge der zersprengten Feudalordnung und des dadurch entstandenen Vakuums.

1.2.2. Die nationalökonomische Grundlage der Lehre

Wir behandeln in dem vorliegenden Teil über ADAM SMITH speziell dessen Idee der selbststeuernden Gesellschaftswirtschaft und betrachten dazu die beiden Textstellen im Kontext, in dem SMITHs berühmt gewordene Redewendung der »unsichtbaren Hand« Verwendung findet. In der nationalökonomischen Abteilung gäbe es über SMITH natürlich weit mehr und evtl. Wichtigeres vorzutragen; man denke an die wohlstandssteigernde Wirkung der nationalen wie internationalen Arbeitsteilung, die lohndrückende Wirkung der Arbeitgeberkartelle (Buch I, Kapitel VIII, Von den Arbeitslöhnen), die geldtheoretischen Grundlegungen über Metall-und Kreditgeld, die Darlegungen über Zölle und Handelsfreiheit etc. Indessen macht es Sinn, die Betrachtung nicht über das Maß hinweg auszudehnen, als für eine Korrektur der fälschlich verbreiteten Ansichten über SMITH notwendig ist, während die unbestrittenen Komponenten entweder Allgemeingut jedes Lehrbuches sind oder weiter unten in der Übernahme durch FRANZ OPPENHEIMER aufgegriffen werden.

Die zweite Textstelle, in der SMITH die Formulierung der »unsichtbaren Hand« gebraucht, steht im »Wealth of Nation«[161], Buch IV: Über Systeme der Politischen Ökonomie, Kapitel II: Von Beschränkungen des Imports aus fremden Ländern für solche Waren, die zu Hause produziert werden können. Auch hier müssen wiederum mehrere Textausschnitte wiedergegeben werden, damit der Gesamtzusammenhang erhalten bleibt.

„Wird der Import solcher Waren aus fremden Ländern, die zu Hause produziert werden können, entweder durch hohe Zölle oder durch absolute Einfuhrverbote beschränkt, so wird dem mit ihrer Produktion beschäftigten einheimischen Gewerbefleiß das Monopol des Inlandsmarkts mehr oder weniger gesichert. Das Verbot des Imports von lebendem Vieh oder Pökelfleisch aus fremden Ländern sichert auf diese Weise den Viehzüchtern Großbritanniens das Monopol auf dem inländischen Fleischmarkt. Die hohen Zölle auf den Getreideimport, die in Zeiten mäßiger Ernten einem Einfuhrverbot gleichkommen, gewähren dem Getreideproduzenten einen ähnlichen Vorteil. Das Verbot der Einfuhr ausländischer Wollwaren ist für die Wollfabrikanten gleich vorteilhaft. (...) Viele andere Manufakturunternehmen haben auf die gleiche Weise in Großbritannien entweder vollständig oder nahezu ein Monopol gegenüber ihren Landsleuten erlangt.“[162]

SMITH bezweifelt nicht, daß den Produzenten ihre Monopolstellung angenehm ist und damit die Lage des jeweiligen Zweiges begünstigt wird, allein stellt sich die Frage, ob dies nicht auf Kosten der Allgemeinheit geschieht.

[S. 85] „Dem Produkt des heimischen Gewerbefleißes in irgendeinem Handwerk oder einer Manufaktur das Monopol auf dem Binnenmarkt zu verleihen bedeutet gewissermaßen, Privatleute darauf zu lenken, in welcher Weise sie ihre Kapitale zu verwenden haben, und muß in fast allen Fällen entweder eine nutzlose oder eine schädliche Maßnahme sein. Wenn das Produkt des heimischen ebenso billig ist wie das des ausländischen Gewerbefleißes herangeschafft werden kann, ist die Maßnahme offenbar nutzlos. Ist dies nicht möglich, muß sie im allgemeinen schädlich sein. Es ist die Maxime jedes klugen Hausherrn einer Familie, niemals zu versuchen, etwas zu Hause zu erzeugen, dessen Herstellung ihn mehr als der Kauf kostet. Der Schneider versucht nicht, seine eigenen Schuhe zu erzeugen, sondern kauft sie vom Schuhmacher. Der Schuhmacher versucht nicht, seine eigene Kleidung zu erzeugen, sondern beschäftigt einen Schneider.“[163]

„Die in einem Land gegenüber anderen bei der Produktion bestimmter Waren existierenden natürlichen Vorteile sind zuweilen so groß, daß von aller Welt die Vergeblichkeit anerkannt wird, dagegen anzukämpfen. Mit Hilfe von Gewächshäusern, Mistbeeten und Heizanlagen können in Schottland sehr gut Trauben gezogen werden, und es ließe sich auch sehr gut Wein daraus herstellen, allerdings etwa zu den dreißigfachen Kosten, zu denen man zumindest gleichguten Wein aus dem Ausland heranbringen kann. Wäre es ein vernünftiges Gesetz, den Import allen ausländischen Weins zu verbieten, nur um die Herstellung von Claret und Burgunder in Schottland zu ermutigen? Doch wenn es eine augenscheinliche Absurdität ist, das Dreißigfache an Kapital und Gewerbefleiß des Landes auf eine Beschäftigung hinzulenken, als notwendig ist, um von fremden Ländern eine gleichgroße Menge der gefragten Waren zu kaufen, so muß es eine Absurdität von genau der gleichen Art sein, wenngleich nicht ganz so ins Auge springend, den dreißigsten oder auch nur den dreihundertsten Teil mehr davon auf irgendeine derartige Beschäftigung hinzulenken. Ob die Vorteile, die ein Land gegenüber einem anderen besitzt, natürliche oder erworbene sind, ist in dieser Beziehung ohne Belang. Solange das eine Land diese Vorteile besitzt und das andere sie entbehrt, wird es für letztere immer vorteilhafter sein, vom ersteren zu kaufen als zu produzieren.“[164]

Die SMITHsche Argumentation ist unmittelbar einleuchtend, solange sich Schuster und Schneider wechselseitig beschäftigen. Wie aber steht es, wenn Nationen sich wechselseitig beschäftigen? Und was sagen die Schuster einer Nation dazu, wenn die Schuster der anderen Nation aufgrund irgendwelcher Gegebenheiten günstiger produzieren können?

Die Frage läßt sich von dem individuellen Standpunkt aus nicht aufrollen, denn was sie aus Gründen ihres verletzten Interesses sagen werden ist klar, selbst wenn es allen Regeln der umfassenderen Vernunft widerspricht. Es gilt somit den Standpunkt zu wechseln und zu fragen, wieviel Schusterleistung eines anderen Landes kann eine Nation überhaupt nachfragen? Doch nur soviel, wie sie zu bezahlen vermag. Was heißt aber »bezahlen« zwischen Nationen? Doch nichts anderes als »Gegenleistung durch Export«. Mit anderen Worten: Nur auf die Ausgeglichenheit der Handelsbilanz kommt es zwischen den Nationen an. Ist diese gegeben, dann haben dem Werte nach ebensoviel Güter das Land verlassen, wie dem Werte nach Güter hereingenommen wurden. Nur hat der Handel die jeweiligen Mengen erhöht, die [S. 86] nunmehr zum Konsum bereitstehen. Beispiel: A kann entweder 100 Schuhe oder 40 Anzüge pro Jahr herstellen. B kann entweder 60 Schuhe oder 60 Anzüge pro Jahr herstellen. Ohne Handel verwenden beide die Hälfte ihrer Produktivität auf eines der Güter. A hat so 50 Schuhe und 20 Anzüge, B 30 Schuhe und 30 Anzüge. Zusammen produzieren A und B 80 Schuhe und 50 Anzüge. Würden sie einen Handel betreiben, dann würde A die 100 Anzüge herstellen und B die 60 Schuhe. Jeder käme so auf 50 Anzüge und 30 Schuhe. Für A ein Zugewinn von 10 Schuhen und für B ein Zugewinn von 20 Anzügen. Keiner hat seine Arbeit verloren, alle haben gewonnen.

Wenn die Viehzüchter oder Fabrikanten nach Monopolstellungen verlangen, dann haben sie dabei nicht das Wohl des Landes, sondern nur das ihres eigenen Berufsstandes im Sinn. Ausgestattet mit politischer Macht, werden sie ihre Interessen durchsetzen. Aber es muß streng hervorgehoben werden: Dieses »verwirklichte Eigeninteresse« meinte SMITH nicht, als er den Egoismus des Einzelnen[165] zum Wohle der Allgemeinheit wirken sah! Man zitiert SMITH gerne, wenn dieser schreibt: „Indem er [der nach Profit strebende Mensch, W.K.] sein Interesse verfolgt, fördert er häufig jenes der Gesellschaft wirksamer, als wenn er dessen Förderung wirklich beabsichtigt.“[166] Aber man unterschlägt dabei, daß dieses Zitat im Kontext der von SMITH diskutierten Monopolproblematik steht und daß die »unsichtbare Hand« nur dann das Kapital in die Branchen des höchsten nationalen Gewerbefleißes leitet, wenn es keine außerökonomischen Interventionen gibt, die das Kapital in weniger produktive Gewerbezweige lenken. Nur unter dieser Voraussetzung darf SMITHs Beispiel der »unsichtbaren Hand« überhaupt bemüht werden. Und es ist leicht einzusehen, daß es diese Freiheit des Wettbewerbes zu Lebzeiten von SMITH nicht gab und bis heute nicht gibt. Alle Ökonomien bewegen sich folglich auf einem suboptimalen Niveau, sind Mischungen aus althergebrachter »politischer Ökonomie« und Wettbewerb dort, wo sich kein beherrschendes Interesse zu formieren vermag.

Betrachten wir zur Vertiefung die nationale Kohle-, Stahl-oder Agrarsubventionspolitik. Gründe für eine allgemeine Besteuerung aller Bürger und Bezuschussung bestimmter Branchen können sein, daß die Ungewißheit zukünftiger Kriege oder Handelshemmnisse es angeraten scheinen lassen, sich dem Welthandel nicht völlig auszuliefern und die nationalstaatliche Autonomie zu pflegen. Dieses Argument wollen wir hier nicht abwägen, welcher Stellenwert ihm auch zukommen mag. Aus volkswirtschaftlicher Sicht gilt, die Zuverlässigkeit der Handelsbeziehungen vorausgesetzt, daß ein Land nur soviel verkaufen kann, wie es kauft (und umgekehrt). Einzig das Interesse des Kapitalisten richtet sich darauf, einen Überschuß an Gütern zu exportieren und dafür in fremden Ländern zinstragende [S. 87] Kapitalstücke (Boden und Gebäude) zu kaufen bzw. Güter gegen Kredit zu liefern, die das Empfängerland in eine Zinsknechtschaft treibt[167]. Der freundlich gesonnene Ökonom, der seinem Nachbarn nichts Böses will, wird nur Güter gegen Güter tauschen, bis Exporte und Importe dem Nominalwert nach auf gleicher Höhe stehen[168]. Natürliches Regulativ ist dabei der Wechselkurs, der die Bewertung der nationalen Produkte und deren Kaufkraft auf den internationalen Märkten so zueinander einstellt, daß nur jene Menge an Leistungen international getauscht werden kann, wie sich in dem Schuster-Schneider-Beispiel oben »Nationen gegenseitig beschäftigen können«[169].

[S. 88] Unter dieser Randbedingung betrachtet gilt, daß Länder auf geringerem technologischen Entwicklungsstand insgesamt ein geringeres nationales Produkt in Kauf nehmen müssen und somit auch die Bewertung der von ihnen geleisteten Arbeit, ausgedrückt durch die Stellung der Wechselkurse, geringer ausfällt. Umgangssprachlich heißt es, daß die »Lohnkosten« oder »Löhne« in den weniger entwickelten Ländern geringer seien. Tatsächlich variiert die Kaufkraft einer Währung mit der Leistungskraft ihres Ursprungslandes (= erzielbare Preise der Exportgüter). Wenn die Produkte von Land A auf dem Weltmarkt nicht gefragt sind, Land A aber Güter vom Weltmarkt beziehen will, dann kann es diese Güter nur »kaufen«, indem es sein eigenes Angebot niedrig bewertet, also den Kurswert der eigenen Währung senkt. Es kann dadurch sein, daß sich auf dem Weltmarkt 5 Arbeitsstunden aus Land A gegen eine Arbeitsstunde aus Land B tauschen. Doch das liegt nicht an den unterschiedlichen Preisen für Arbeit, sondern an der unterschiedlichen Nachfrage, die das Arbeitsprodukt erfährt. Wenn auf dem Weltmarkt etwa eine Tonne Bananen gegen einen Staubsauger getauscht wird, dann resultiert der Tauschwert des Staubsaugers auch aus dem Fertigungs-Know-how der arbeitsteilig organisierten Gesellschaftswirtschaft. Was diese an entwickelten Möglichkeiten in jedem ihrer einzelnen Glieder beinhaltet und eine andere Gesellschaftswirtschaft nicht zu organisieren vermag, ist Teil des Preises, den ein Produkt des Landes aufgrund seiner besonderen Eigenschaften erzielen kann. Das heißt, die Arbeit erhält nicht nur ihre Zeit ersetzt, sondern auch ihre Qualifikation.

Wenn ein Land mit hochqualifizierten Produzenten politisch dazu verleitet wird, Kohle, Stahl und andere Grundstoffe herzustellen, die ebenso gering qualifizierte Produzenten anbieten können, dann sind die Betreiber dieser Unternehmen allerdings einem scharfen internationalen Wettbewerb ausgesetzt. Sie erhalten das Preissignal, in dem »teuren« (= hochqualifizierten) Land B entweder die Löhne auf [S. 89] das Niveau von dem »billigen« (= gering qualifizierten) Land A zu senken oder die Produktionsstätte von Land B in Land A zu verlagern. Doch wäre letzteres nicht gar wünschenswert, während die zwanghafte Beibehaltung gering qualifizierter Produktionen in Land B nur das Gesamtniveau des Landes absenkt?

Nehmen wir an, das gering qualifizierte Land A könnte Stahl in gleicher Qualität, aber zu geringerem Preis anbieten, als bislang in Land B produziert wurde. Da jedes industrialisierte Land auf seinem Weg irgendwann eine Stahlproduktion aufbaut, ist die Existenz einer Stahlproduktion in Land B ziemlich gewiß (es sei denn, es ist so klein, daß der Rohstahl schon immer gekauft wurde). Die Frage ist, auf welcher Stufe seiner Entwicklung dieser Produktionszweig besser abgegeben würde. Würde es in der beschriebenen Konstellation auf die Produktion hochtechnologischer Güter setzen und dafür das Einfachprodukt eintauschen (erwerben), dann hätte das folgende Effekte:

1) Die Kaufkraft von Land A würde gestärkt, und die Zahlungen aus Land B (Kaufpreis für Stahl) flössen als Nachfrage in andere Gewerbezweige von Land B zurück.

2) Der Wechselkurs würde sich ein kleines Stück dahingehend nähern, daß die Währung »B-Land« etwa gleiche Mengen gleich qualifizierter Arbeitskraft in Land A wie Land B kaufen kann.

3) Langfristig, nach erfolgter Angleichung der Entlohnung gleich qualifizierter Arbeitskraft, würden sich die Preisunterschiede für Stahl auf die natürlichen Standortvorteile reduzieren[170]. Der Standort A müßte um soviel günstiger sein, daß er zuzüglich der Transportkosten billiger anbieten kann. Fällt der Vorteil nach Angleichung der Löhne geringer aus, würde der Standort B auch für geringer qualifizierte Produktionen wieder interessant.

4) Das zunächst billiger bezogene Vorprodukt aus Land A würde während der Angleichungsphase den Preis der Fertig-oder Veredelungsprodukte von Land B senken und somit den Technologiestandort einer Branche im international arbeitsteilig organisierten Produktionsprozeß sichern. Beispielsweise hat man einst in Dänemark, als die Europäische Gemeinschaft sich mit Schutzzöllen gegen das billig angebotene amerikanische Getreide verschloß, das Getreide importiert und seinerseits Hühnerfarmen eingerichtet, die mit dem billigen Getreide entsprechend günstiger betrieben werden konnten. Gleiches gilt natürlich für die stahlverarbeitende Industrie und deren Folgeprodukte.

Insgesamt ist, wie bei dem oben angebrachten Schneider-Schuster-Beispiel (↑ 85), eine Hebung des Wohlstandes beider Nationen erwartbar. Probleme resultieren eher aus dem Vollzug der Umstellung, besonders wenn abrupte Kursänderungen stattfinden. Das von ADAM SMITH beklagte -weil unvernünftig und völlig nutzlos Verhalten der »Politik« läuft seit Jahrhunderten stets darauf hinaus, daß die politische Klasse ihrem Klientel mit steigendem Aufwand einen unhaltbaren Status [S. 90] sichert, der dann irgendwann in eine Legitimationskrise mündet und zusammenbricht. Eine sukzessive Reaktion auf tendenzielle Preissignale würde dagegen weit weniger soziale Härten nach sich ziehen als das übliche Stop-and-go des protektionistischen Interventionismus.

Befassen wir uns noch einen Moment mit der »Freiheit des Kapitals«, nach der SMITH verlangt. Es ist ganz offensichtlich nicht die »Freiheit des Kapitalisten«, die SMITH damit meinte, denn es geht ihm um den Gewerbefleiß einer Nation und dessen Produkt. „Das Produkt des Gewerbefleißes besteht daraus, was dieser den zu bearbeitenden Gegenständen oder Rohstoffen hinzufügt.“[171] Das heißt, die Wertschöpfung aus Arbeitsvermögen und Produktionsmitteleinsatz ergeben das Einkommen einer Gesellschaft. Er schreibt: „Das Einkommen einer jeden Gesellschaft stimmt immer genau mit dem Tauschwert des gesamten jährlichen Produkts ihrer Gewerbetätigkeit überein oder ist vielmehr genau dieselbe Sache wie dieser Tauschwert.“[172] Und dieses Einkommen soll maximiert werden. Wie?

„Da also jeder einzelne Mensch, so gut er kann, versucht, sowohl sein Kapital zur Unterstützung des heimischen Gewerbefleißes zu beschäftigen als auch diesen Gewerbefleiß so zu lenken, daß sein Produkt den größten Wert einnimmt, arbeitet er notwendigerweise darauf hin, das jährliche Einkommen der Gesellschaft so groß zu machen, wie er es vermag. Indem er die Unterstützung der heimischen gegenüber der auswärtigen Gewerbetätigkeit bevorzugt, verfolgt er lediglich seine eigene Sicherheit. Indem er diese Gewerbetätigkeit in solch einer Weise lenkt, daß ihr Produkt den höchsten Wert erlangen kann, hat er lediglich seinen eigenen Gewinn im Auge. Er wird hierbei wie in vielen anderen Fällen durch eine unsichtbare Hand geleitet, einen Endzweck zu fördern, der keinen Teil seiner Zielstellung ausgemacht hatte.“[173]

Der einzelne Mensch und die Gesellschaft. Indem dieser einzelne Mensch sein Kapital und seine Gewerbetätigkeit optimiert, optimiert er das Gesamtprodukt der Gesellschaft. Wie ist dies zu verstehen? Um was für eine Wirtschaftsgesellschaft handelt es sich, in der der einzelne Mensch eine optimale Verwertung seiner Talente anstreben kann und zu diesem Zwecke sein Kapital disponiert? Ist das nicht die zur Lebzeit von SMITH noch existente Gesellschaft der selbständigen Handwerker und Kleingewerbetreibenden? In welcher Form disponieren nach Gewerbefleiß strebende Menschen in der Masse heute ihr Kapital?

Es ist bekannt, daß SMITH „gegen alle Tätigkeiten von Kollektivunternehmen, wie etwa Aktiengesellschaften, den Verdacht einer möglichen Bedrohung der ungehinderten Initiative des Individuums“ hegte, wenngleich er sie in bestimmten Wirtschaftszweigen billigte, „selbstverständlich ohne irgendwelche ausschließlichen Privilegien“[174]. Und: „Vor seinen Studenten in Glasgow rühmte er [SMITH] die Vorzüge dieser Stadt, wo im Gegensatz zu Paris oder Edinburgh kaum jemand mehr als einen Bediensteten habe und deshalb fast keine schwere Kriminalität herrsche: [S. 91]

»Nichts trägt so sehr zur Korruption der Menschen bei wie Abhängigkeit, während Unabhängigkeit die Ehrlichkeit der Menschen noch vergrößert«.“[175]

Wenn SMITH also die automatische Maximierung des Einkommens einer Gesellschaft bei Freiheit der Eigeninitiative prognostizierte, dann bezog er diese Aussage mit einiger Sicherheit nicht auf die kapitalistische Ökonomie, in der die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen oberstes Gebot ist und aus diesem Grunde überall Unterordnung, Hierarchisierung und Erstickung der Eigeninitiative zum Zwecke der Fremdsteuerung erfolgen. So wie HEIMANN, war SMITH völlig klar: „Ökonomische Freiheit kann selbstverständlich ohne Eigentum nicht bestehen, würde doch alsbald wieder in Schuldknechtschaft zurückschlagen; um frei leben zu können, muß man über die zum Erwerb des Unterhalts notwendigen Mittel verfügen.“[176]

Die Einordnung des Menschen als »betriebswirtschaftlichen Elementarfaktor« oder »Betriebsmittel« einer kapitalistischen Megaunternehmung hätte seinem Menschenbild ebenso wie den erkannten Voraussetzungen einer optimal selbstorganisierten Wirtschaftsgesellschaft widersprochen. Nicht indem das Kapital einiger Monopolisten sich frei zum Schaden der Gesellschaft bewegt, sondern indem jeder Mensch einen optimalen Einsatz seiner Arbeitskraft anstrebt und zu diesem Zwecke mit den erforderlichen Werkgütern verbindet, nur dadurch ergibt sich aus den Millionen Individualoptima ein gesellschaftliches Gesamtoptimum. In dem Maße, wie es der Einzelne nicht mehr versteht oder es ihm nicht mehr möglich ist, mit seiner Disposition ein Maximum des Gewerbefleißes zu fördern, reduziert sich auch das gesellschaftliche Gesamtprodukt[177]. Denn daß in einer Gesellschaft der eine für den anderen optimal sorgen würde, der Unternehmer für seine Arbeiter und der Staat für beide zusammen, das hat SMITH nicht gesagt. Vielmehr lautet die Forderung: Jedes Individuum strebe primär nach seiner Freiheit und werde selbstverantwortlich, wohl verbunden mit dem Kreis jener, die seine Gesellschaft ausmachen und natürlich von vielen Vorbedingungen abhängig, ohne die Selbstverantwortlichkeit nicht praktiziert werden kann, aber doch bestrebt und berechtigt, diesem Drang folgend ein individualistisches Ideal zu verwirklichen, das der Gesellschaft nicht schadet, sondern nutzt. Denn nicht, daß jeder Einzelne seine Freiheit findet, sondern daß die Masse sie nicht findet, ist der Kern des ökonomischen Problems. Aus ihm folgt die Konzentration von Macht und Entscheidungsfreiheit in den Händen von Minderheiten, die den Staat und die Gesellschaft ihren Interessen folgen lassen können, Monopole erlangen und den Wohlstand der Nation reduzieren. Aus der Nichtverwirklichung der SMITHschen Ideale folgert aber auch die Bedrohung der Menschengemeinschaft selbst, wie OPPENHEIMER eindringlich warnte: „Die radikale, politische Emanzipation der Massen ohne ihre gleichzeitige [S. 92]wirtschaftliche Emanzipation kann nur zur Zertrümmerung der großen Menschengemeinschaften führen. Uneingeschränkte politische Rechte in der Hand wirtschaftlich und darum geistig unfreier Menschen sind Brandfackeln in den Händen der »ewig Blinden«.“[178]

Ziehen wir eine kleine Zwischenbilanz: Es gibt keine Stelle, an der »der Staatsmann«[179] das Prinzip des Wirtschaftens, die stete Wahl des kleinsten Mittels, verbessern könnte. Das bedeutet allerdings nicht, daß eine Gesellschaft die Begründung und Pflege ihres Gemeinwesens ungestraft vernachlässigen dürfte oder daß es für »den Staatsmann« nicht eine Reihe von Aufgaben gäbe, die sehr wohl sinnhaft-zweckbestimmtes Handeln erfordern. Die Sinn-Dimension des wirtschaftlichen Einzel-und Kollektivhandelns liegt jedoch nicht auf der Ebene eines zu diskutierenden Wirtschaftlichkeitsprinzipes, sondern wurzelt in den Individual-und Kollektivbedürfnissen, deren Sättigung man lediglich mit dem geringst möglichen (gesellschaftlich zulässigen) Aufwand und bestmöglichen Ergebnis betreibt. Was sind nun Individual-und Kollektivbedürfnisse? Erstere sind vor allem jene des unmittelbaren Konsums. Ob Personen Roggen-oder Weizenbrot bevorzugen, ihr Vergnügen in Reisen, Büchern oder Kursen finden, ihre Angelegenheiten unter Wahrung der Gerechtigkeit in dieser oder jener Form regeln, das tangiert in unzählig vielen Fällen überhaupt nicht das »öffentliche Interesse« oder die Wirtschaft selbst, weil in ihr hunderte verschiedene Formen schadlos möglich sind. Das »öffentliche Interesse« wird dagegen immer berührt, wenn das Handeln des Einzelnen Wirkungen bei Dritten zeitigt. Eine Kokerei verunreinigt etwa die hochreine Luft, die ein Glaswerk für seine wertvolleren Produkte benötigt. Über die Bewertung von Umwelt-und Gesundheitsschäden sei die Diskussion hier erst gar nicht eröffnet[180]. Solche Interessengegensätze müssen, über welche an den Wertmaßstäben von Menschen anknüpfende Verfahren auch immer, entschieden werden.

Noch schwieriger ist die Herausforderung der dauerhaften Bestandssicherung eines Gemeinwesens. Eine Reihe von Generationenverträgen zwischen alt und jung ist so einzurichten, daß sich ein natürlicher Zusammenhalt[181] des Ganzen auf der Basis breit vorhandener Akzeptanz einstellt. Hierzu gehört die unabdingbare Aufgabe der Ausbildung nachwachsender Kräfte, die die Lücken der altersbedingt ausscheidenden Menschen ausfüllen können. Auch darf kein alt gewordener Mensch mit Rücksicht oder Liebe rechnen, wenn er zum Zeitpunkt seiner größten Stärke ohne Rücksicht und Liebe das bedürftige Kind vernachlässigt oder geschunden hat. Generationenverträge gelten, wie vieles andere, nach dem Prinzip der [S. 93] Vergeltung im Guten wie im Bösen[182] (↑ 82, 252), wobei die Rollen des aktiv tätigen und passiv empfangenden Partes im Leben eines jeden Menschen zweifach wechseln. Die Spitze dieser Leistungskraft muß ein Gemeinwesen normativ oder steuerrechtlich etc. kanalisieren, weil bei weitem nicht jedes Individuum seine momentane Stellung innerhalb eines sich reproduzierenden Ganzen bei Zeiten selbsttätig erkennt. Das Wissen um ein gesellschaftliches Ganzes muß also in einem bereits bestehenden Ganzen der Gesellschaft (ihren Trägern, Repräsentanten, Institutionen) verankert sein und sich von dort ausgehend generationenübergreifend mitteilen, erklären und diskursiv aktualisieren[183]. Dabei beziehen die Werte ihre Gültigkeit, es sei nochmals betont, aus der gemachten Erfahrung des bedürftigen Nachwuchses, bei dem mit der in ihm geweckten Dankbarkeit ein frei gebildetes Bedürfnis auf zukünftige Rückleistung wächst[184]. Verdient sich ein Gemeinwesen diesen Dank nicht, hat es keinen nach subjektiven Gerechtigkeitsempfindungen gültigen Ansatzpunkt für den Anspruch auf Solidarität zu einem späteren Zeitpunkt. Der Durchsetzung einer individual-atomistischen Wertebasis folgt somit der Zerfall des Ganzen auf der Zeitachse sowie zwischen den Vermögensklassen in einem Zeitpunkt. Denn wenn das Gemeinwesen nicht auf der Zeitachse zusammenhält, entbehrt es der natürlichen Erfahrung eines Zusammenhaltes schlechthin und kann auch zu keinem Zeitpunkt an Werte des freiwilligen Zusammenhaltes appellieren.

Fußnoten
[124]
GERHARD SCHWARZ: Die »soziale Kälte« des Liberalismus -Versuch einer Klärung. Herausgegeben von der Friedrich-Naumann-Stiftung in der Reihe »Argumente der Freiheit«, Sankt Augustin 1992.
[125]
GERHARD SCHWARZ: Die »soziale Kälte« ..., a.a.O., S.38 f.
[126]
GERHARD SCHWARZ: Die »soziale Kälte« ..., a.a.O., S. 11, Fußnote 6, sekundär zitiert nach DIETER GROSSER u. a.: Soziale Marktwirtschaft. Geschichte -Konzept -Leistung, Stuttgart 1988, S. 3. Danach original in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8. Februar 1979.
[127]
ALBERT JAY NOCK: Our enemy, the state. (1935) 4. Aufl. San Francisco 1992.
[128]
FRANZ OPPENHEIMER: System II, Der Staat, S. 308. Im Original nicht gesperrt.
[129]
FRANZ OPPENHEIMER: Das Kapital, S. 84. Im Original nicht gesperrt.
[130]
FRANZ OPPENHEIMER: System II, Der Staat, S. 308, Fußnote 1.
[131]
FRANZ OPPENHEIMER: System II, Der Staat, S. 308. Quellenangabe bei OPPENHEIMER: BURCKHARDT, Kultur der Renaissance, 1. Aufl. Basel 1860, S. 3.
[132]
WOLF-DIETER BECKER; MANFRED J. M. NEUMANN: Neoliberalismus. Buchanan, Hayek, Friedman. In: Hans G. Nutzinger (Hg.), Liberalismus im Kreuzfeuer, Frankfurt a. M. 1986, S. 41 -59, hier S. 41 f.
[133]
FRANZ OPPENHEIMER: System II, Der Staat, S. 762 ff. Ebenso FRANZ OPPENHEIMER, Das Kapital, S. 85.
[134]
FRANZ OPPENHEIMER: Siedlungsgenossenschaft, S. 623 f.
[135]
HORST FRIEDRICH WÜNSCHE: Die immanente Sozialorientierung in Adam Smiths Ordnungsdenken - ein Paradigma für die Soziale Marktwirtschaft. In: Arnold Meyer-Faje, Peter Ulrich (Hg.), Der andere Adam Smith, Bern 1991, S. 249 -274, hier S. 252.
[136]
FRANZ OPPENHEIMER: System der Soziologie, Bd. III, Theorie der reinen und politischen Ökonomie, original 1910, 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1964, S. 178. Fortan zitiert als „FRANZ OPPENHEIMER, System III, Theorie“.
[137]
Vgl. HORST FRIEDRICH WÜNSCHE: Soziale Marktwirtschaft. Antwort auf das Problem der Grenzmoral. In: Gerhard Merk, Herbert Schambeck, Wolfgang Schmitz (Hg.), Die soziale Funktion des Marktes, Berlin 1988, S. 75 -87, hier 83.
[138]
ADAM SMITH: Theorie der ethischen Gefühle. Nach der Auflage letzter Hand übersetzt und herausgegeben von Walther Eckstein. Hamburg 1985.
[139]
„Die längerfristige Pflege nicht nur der Kinder, sondern auch von verletzten, gebrechlichen und kranken Gattungsgenossen und die Fähigkeit zum Mitleid ist für alle menschlichen Vergesellschaftungsformen kennzeichnend. (...) Interessanterweise sind auch die einzigen Lebewesen, die außer uns wahrnehmbare Ansätze von Schuld-und Schamreaktionen gegenüber Mitgliedern der Sozialgruppe zeigen, nicht etwa unter den Menschenaffen, sondern unter den Caniden, den Wölfen, Schakalen, Hunden zu finden, die -hierin beschränkt vergleichbar mit unseren Vorfahren -sich ebenfalls auf dem Wege der kooperativen Jagd als »soziale Carnivoren« ernähren.“ KLAUS OTTOMEYER: Ökonomische Zwänge und menschliche Beziehungen. Soziales Verhalten im Kapitalismus. Reinbek bei Hamburg 1977, S. 21.
[140]
Nach Duden, Bd. 5, Mannheim 1982, bedeutet »Sympathie« in der Naturphilosophie die „Verbundenheit aller Teile des Ganzen, so daß, wenn ein Teil betroffen ist, auch alle anderen Teile betroffen sind.“ Ferner in der Psychologischen Soziologie: „Ähnlichkeit in derArt des Erlebens und Reagierens. Gleichgerichtetheit der Überzeugung und Gesinnung.“ Und im Volksglauben: „die Vorstellung von geheimer gegenseitiger Einwirkung aller Wesen und aller Dinge aufeinander.“ Die heute übliche Begriffsdeutung „Zuneigung, Wohlgefallen“ ist somit nur eine von vieren, die SMITH, wie man dem Kontext entnehmen kann, gerade nicht meinte.
[141]
ADAM SMITH: Theorie der ethischen Gefühle, a.a.O., S. 3.
[142]
ADAM SMITH: Theorie der ethischen Gefühle, a.a.O., S. 7.
[143]
MEAD schreibt ganz gleich wie SMITH: „Die Haltung der Gemeinschaft gegenüber unserer eigenen Reaktion nehmen wir im Hinblick auf den Sinn unserer Tätigkeit in uns herein. (...) Der Sinn ist so universal wie die Gemeinschaft; er ist notwendigerweise in die rationale Beschaffenheit dieser Gemeinschaft eingeschlossen; er ist die Reaktion, welche die aus vernunftbegabten Geschöpfen bestehende Welt unvermeidlich auf unsere eigenen Äußerungen setzt. Wir nehmen sowohl das Objekt als auch uns selbst im Rahmen eines solchen Prozesses in unsere Erfahrungen herein; der andere scheint in unserer Erfahrung in soweit auf, als wir eine solche organisierte und verallgemeinerte Haltung einnehmen.“ GEORGE HERBERT MEAD: Geist, Identität und Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1973, S. 239.
[144]
„Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“ Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, original 1787, 1. Teil, 1. Buch, 1. Hauptstück, § 7.
[145]
Hier verstanden als „Gesellschaft anwesender Personen“.
[146]
ADAM SMITH: Theorie der ethischen Gefühle, a.a.O., S. 25.
[147]
Siehe auch ADAM SMITH: Theorie der ethischen Gefühle, a.a.O., S. 167 ff. Daraus als typischer Satz: „Bringe einen Menschen in Gesellschaft anderer und er ist sogleich mit dem Spiegel ausgerüstet, dessen er vorher entbehrte.“
[148]
„Die These der unsichtbaren Hand kann dahingehend zusammengefaßt werden, daß es natürliche, in der Schöpfung liegende Umstände gibt, die im Ergebnis des gesellschaftlichen Prozesses dafür Sorge tragen, daß, obwohl -und dies ist die Ausgangsannahme der Modellkonstruktion -die beteiligten Individuen in ihrer Praxis ausschließlich oder überwiegend partikulare Interessen verfolgen, trotzdem im Ergebnis ein Gesamtresultat herauskommt, das als -zumindest relativ -optimal vom Standpunkt des Gesamtinteresses anzusehen ist. Die bornierten partikularen Handlungsformen kombinieren sich zu einem Gesellschaftsprozeß, der sozial hochgradig nützliche Ergebnisse zeitigt, obwohl und weil sie als solche nicht angestrebt wurden.“ RAIMUND OTTOW: Modelle der unsichtbaren Hand von Adam Smith. In: Leviathan, Jg. 19, H. 4/1991, S. 558 -574, hier 558.
[149]
Vgl. weiterführend KLAUS HURRELMANN, DIETER ULICH (Hg.): Handbuch der Sozialisationsforschung. Weinheim u.a. 1980. Darin DIETER GEULEN: Die historische Entwicklung sozialisationstheoretischer Paradigmen. S. 15 -49, speziell 31; sowie DIETER ULICH: Lern-und Verhaltenstheorien in der Sozialisationsforschung. S. 71 -99, speziell 91.
[150]
ADAM SMITH: Theorie der ethischen Gefühle, a.a.O., S. 84.
[151]
ADAM SMITH: Theorie der ethischen Gefühle, a.a.O., S. 70.
[152]
ADAM SMITH: Theorie der ethischen Gefühle, a.a.O., S. 136.
[153]
ADAM SMITH: Theorie der ethischen Gefühle, a.a.O., S. 85.
[154]
ADAM SMITH: Theorie der ethischen Gefühle, a.a.O., S. 71.
[155]
ADAM SMITH: Theorie der ethischen Gefühle, a.a.O., S. 222 ff.
[156]
ADAM SMITH: Theorie der ethischen Gefühle, a.a.O., S. 315 ff.
[157]
Vgl. FRANZ OPPENHEIMER: Der Staat und die Sünde. In: Deutsche Zeitung für Spanien, Barcelona, 1926, Heft 231, S. 1 -2; Heft 232, S. 1 -3; Heft 233, S. 1 -2.
[158]
ADAM SMITH: Theorie der ethischen Gefühle, a.a.O., S. 217 ff.
[159]
ADAM SMITH: Theorie der ethischen Gefühle, a.a.O., S. 121 f.
[160]
DANIEL BRÜHLMEIER: Adam Smith. Herausgegeben von der Friedrich-Naumann-Stiftung in der Reihe »Denker der Freiheit«, Sankt Augustin 1992, S. 28.
[161]
ADAM SMITH: Eine Untersuchung über das Wesen und die Ursachen des Reichtums der Nationen. Übersetzt und herausgegeben von Peter Thal. Band 2, Berlin 1975.
[162]
ADAM SMITH: Eine Untersuchung über das Wesen ..., a.a.O., Band 2, S. 212.
[163]
ADAM SMITH: Eine Untersuchung über das Wesen ..., a.a.O., Band 2, S. 217.
[164]
ADAM SMITH: Eine Untersuchung über das Wesen ..., a.a.O., Band 2, S. 219.
[165]
In dieser Arbeit wird für den Begriff »der einzelne« folgende Rechtschreibregelung gewählt. Wo »der einzelne« für das unbestimmte »man« steht, wird die Duden-Empfehlung auf Kleinschreibung beibehalten. Wo »der Einzelne« ersatzweise für »der einzelne Mensch« steht, also der substantivische Gebrauch überwiegt und die Gegenfigur von »Gruppe« gemeint wird, erfolgt Großschreibung.
[166]
ADAM SMITH: Eine Untersuchung über das Wesen ..., a.a.O., Band 2, S. 216.
[167]
Vgl. ELMAR ALTVATER, KURT HÜBNER: Ursachen und Verlauf der internationalen Schuldenkrise. In: Elmar Altvater u. a. (Hg.), Die Armut der Nationen, Handbuch zur Schuldenkrise von Argentinien bis Zaire, Berlin 1987, S. 14 -28, speziell 23.
[168]
Es ist Teil der staatlichen Interventionspolitik kapitalistischer Länder, daß sie auf Krisenerscheinungen des Kapitalverwertungsprozesses mit Stützungsmaßnahmen der einflußreichen nationalen Unternehmen reagieren. Eine Maßnahme ist die direkte Subvention und Staatsverschuldung, die letztlich per Steuerhoheit von dem inländischen Bürger zu bezahlen ist. Die andere Methode ist die Gewährung von Auslandskrediten zur Absatzfinanzierung, mit der in letzter Linie der ausländische Bürger belastet wird. Das Thema wird im Zuge der OPPENHEIMERschen Kapitalismus-und Krisentheorie weiter vertieft. Hier sei nur angemerkt, daß die herrschenden Klassen in Entwicklungs-und Industrieländern ein gleichgelagertes kurzfristiges Interesse bei der Kreditvergabe befolgen, das auf lange Sicht genau Gegenteiliges bewirkt. Die »Entwicklungsländer« erhalten kurzfristig Güter, die sich die Politiker als »Leistung« oder »Fortschritt« anrechnen lassen. Langfristig werden sie zu Nettokapitalexporteuren (vgl. ERICH PREISER: Kapitalexport und Vollbeschäftigung. In: derselbe, Bildung und Verteilung des Volkseinkommens, 4. Aufl, Göttingen 1970, S. 82 -98, speziell 82) und verschlechtern durch den Rückzahlungszwang ihre Handelsposition und Handlungsfähigkeit. Die Industrieländer können eine einbrechende Wirtschaftskrise mit diesem Trick vielleicht über eine Legislaturperiode verschleiern, werden aber langfristig zum Kapitalimporteur, was zwischen Nationen, die sich immer nur in der Form von Waren bezahlen können, dazu führt, daß der Inlandsüberschuß mit dem Angebotsdruck des Rückzahlungsgutes in Konkurrenz tritt. So gesehen geht der nationale Agrarmarkt evtl. zugrunde, weil die agrarischen Auslandsschuldner einer Industrienation nur mit Agrarprodukten bezahlen können. Vorhandene Probleme werden um neue vermehrt. Um einer möglichen Verwirrung vorzubeugen, als Anmerkung: Gegeben wird zwischen Nationen niemals »Kredit« in der Form von Geld; D-Mark haben in Mexiko keinen Wert. Gegeben werden Leistungen (Güter, Dienste), die auch mit Leistungen »zurückbezahlt« werden müssen. Daß der ganze Vorgang in Werteinheiten des Geldes vertraglich geregelt wird und der Zahlungsverpflichtete seine Güter um des Geldes wegen anbietet, legt über die Dinge einen gewissen Nebel.
[169]
Die Eliminierung freier Wechselkurse ist eine Voraussetzung für unausgeglichene Zahlungsbilanzen und Kapitalflucht. Im Falle der Zahlungsbilanz ist der Zusammenhang rasch erklärt. Japan hat einen Exportüberschuß, der sich nur realisieren läßt, weil der Yen unterbewertet ist. Würde der Wechselkurs des Yen steigen, würden japanische Produkte entsprechend im Ausland teurer und ließen sich nur noch vermindert absetzen. Ein freier Wechselkurs stellt sich im Mittel so ein, daß die Exporte und Importe eines Landes wertmäßig ausgeglichen sind. Das Thema »Kapitalflucht« ist dagegen schwieriger. Denn was ist »Kapital«? Bei starren Wechselkursen können Geldbesitzer in eine andere Währung flüchten, wenn sie ahnen, daß die eigene Währung überbewertet ist und eine Abwertung bevorsteht. An die Stelle des alten Geldbesitzers tritt übergangslos ein neuer Geldbesitzer, möglicherweise ein Ausländer oder eine nationale Notenbank, die dem Geldflüchtling vertragsgemäß zu festgesetzten Kursen das Geld abnehmen und eintauschen muß. Die Zeche zahlen die Staaten, die eine überbewertete Währung akzeptieren. Wären die Wechselkurse frei, dann würde der Tauschwunsch des Geldflüchtlings eine Anpassungsbewegung der Wechselkurse nach sich ziehen, falls es sich dabei um eine einseitige Massenbewegung handelt. »Kapital« kann in beiden Fällen nicht flüchten, denn worauf es ankommt, das Geld selber, bleibt jeweils in dem Land, wo es Gültigkeit besitzt. »Kapitalflucht« meint also eigentlich »Geldflucht« und funktioniert nur im Falle feststehender Wechselkurse zu Lasten des Ausländers. Verläßt jemand seine angestammte Währung, obwohl diese unterbewertet ist, dann verliert er im Falle einer Kursanpassung. Die Tendenz bei einer unterbewerteten Währung ist, daß Ausländer diese in Erwartung der Kursanpassung kaufenwollen, die nationale Notenbank folglich mit einem Überangebot ausländischer Währungen konfrontiert wird, die sie annehmen muß. In diesem Falle zahlt sie die Differenz zum realen Wert und verliert, was sie mehr gezahlt hat, als bei Realbewertung nötig gewesen wäre. Doch nochmal: Trotz allem hektischen Treiben um die Währungen und Geldpolitik geht es hier eigentlich nicht um »Kapitalflucht« im gesellschaftswirtschaftlich relevanten Sinne. Geld kann nicht flüchten, nur Geldbesitzer können von einer in die andere Währung wechseln, sofern sie jemanden finden, der mit ihnen tauscht. Ob die Milliarden jedoch Herrn Müller oder Señor Molinero gehören, verschlechtert oder verbessert die Lage um nichts. Echte Werteflucht wäre, wenn die Werkgüter transferiert werden könnten, also Maschinen, Patente und Personen ins Ausland umverpflanzt würden. Kauft ein deutscher Kapitalist dagegen mit seinen Produktionsüberschüssen, die er auf ausländischen Märkten absetzen kann, ausländische Kapitalien, sprich Gebäude, Grundstücke etc., die einen dauerhaften Zins (Profit) abwerfen, dann wird er, wie eine Fußnote höher beschrieben, zum Nettokapitalimporteur, selbst wenn es im ersten Augenblick den Anschein hat, als fände ein Export statt. Der Rückfluß beträgt hingegen den Wert des Exportierten plus die beizubringende Zinslast des Ausländers.
[170]
Hierzu zählen z. B. unterschiedlich ergiebige Fundstellen, geringere Energie-und Transportkosten aufgrund geographischer Gegebenheiten.
[171]
ADAM SMITH: Eine Untersuchung über das Wesen ..., a.a.O., Band 2, S. 215.
[172]
ADAM SMITH: Eine Untersuchung über das Wesen ..., a.a.O., Band 2, S. 216.
[173]
ADAM SMITH: Eine Untersuchung über das Wesen ..., a.a.O., Band 2, S. 216.
[174]
FRITZ KARL MANN: Adam Smith. In: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd. 9, Stuttgart u. a. 1956, S. 288 -294, hier 292.
[175]
DANIEL BRÜHLMEIER: Adam Smith, a.a.O., S.25. Quellenangabe bei BRÜHLMEIER: Glasgow Edition of the Works and Correspondence of Adam Smith; darin siehe Lectures on Jurisprudence, Report von 1766, S.204, hrsg. von R. Meek, D.D. Raphael, P. Stein, Oxford 1978.
[176]
EDUARD HEIMANN: Soziale Theorie des Kapitalismus. Frankfurt a. M. 1980, S. 30.
[177]
Vgl. WERNER KRUCK: »Marktwirtschaftliche Selbststeuerung« ..., a.a.O., S. 242 -263.
[178]
FRANZ OPPENHEIMER: Die Siedlungsgenossenschaft, S. 627 f.
[179]
Ich übernehme hier die SMITHsche Figur des »weisen Staatsmannes« stellvertretend für die personifizierte Interessenorganisation einer Gesellschaft. Gemeint sind alle Formen, die den ihnen gesetzten Zweck erfüllen, von Einzelpersonen bis Gremien und Volksentscheiden in selbstverständlich männlicher wie weiblicher Besetzung der Positionen.
[180]
Vgl. HANS G. NUTZINGER: Zum Verhältnis von Ökonomie und Ethik am Beispiel der Umweltproblematik. In: derselbe (Hg.), Wirtschaft und Ethik, Wiesbaden 1991, S. 227 -243.
[181]
Vgl. grundlegend FRANZ-XAVER KAUFMANN: Solidarität als Steuerungsform -Erklärungsansätze bei Adam Smith. In: derselbe u.a. (Hg.), Markt, Staat und Solidarität bei Adam Smith, Frankfurt a. M. 1984, S. 158 -184.
[182]
Vgl. ROBERT AXELROD: Die Evolution der Kooperation. München 1991.
[183]
Man beachte die logische Volte, wonach die Existenz eines gesellschaftlichen Ganzen Voraussetzung ist, um die Bildung des zukünftigen Ganzen hervorzubringen. Die Lösung liegt auf der Ebene menschheitsgeschichtlicher Entwicklung, in der am Anfang der Hordenverband steht sowie das zu Scham und Mitgefühl fähige Sonderwesen »Mensch« (siehe Fußnote 139 auf Seite 74). Wären wir anders konstruiert, also die Sozialität kein wesensimmanenter Faktor unserer Existenz und Intelligenz, dann hätte das logische »Problem« keine Lösung (siehe auch S. 77 dieser Arbeit).
[184]
Ich kehre hier eine Feststellung LUHMANNs um, dem die Dankbarkeit aus Sicht des Empfängers eine eher lästige Folge angenommener Hilfeleistung ist. Seine Aussage bestätigt das angenommene Prinzip, sieht in der »Dehnbarkeit der Dankbarkeit« allerdings ein Last-Problem des Hilfe-Empfängers. „Wer Hilfe annimmt, muß sich einer unvorhersehbaren Gegenerwartung aussetzen.“ (NIKLAS LUHMANN: Formen des Helfens im Wandel gesellschaftlicher Bedingungen. In: derselbe, Soziologische Aufklärung 2, Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft, Opladen 1975, S. 134 -149, hier 138) So gewendet würde die Modernitäts-Vorstellung einer entkoppelten Hilfe-Organisation bei LUHMANN die Asozialität der Akteure normativ implizieren; ein Standpunkt, den nach Sozialität strebende Menschen nicht unbedingt teilen.