Rezensionen von
"Werner Kruck: Franz Oppenheimer - Vordenker der Sozialen Marktwirtschaft und Selbsthilfegesellschaft, Berlin 1997"

Die genossenschaftliche Ordnung als Zukunftsvision

In: Berliner LeseZeichen 1/1998, S. 83-85.

Nach dem Scheitern des "real existierenden Sozialismus" müssen viele Experten heute besorgt feststellen, daß auch die westliche Produktions- und Konsumtionsweise, das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft, an Grenzen stößt, ja offenbar gänzlich ins Wanken gerät. Von der politischen "Linken" - eigentlich gesellschaftlich zuständig für soziale Utopien und Visionen - ist zur Zeit kein konstruktiver Gesamtentwurf zur Lösung der anstehenden ökonomischen Probleme zu erwarten. Sie hat sich nach dem Desaster des praktizierten Marxismus Refugien gesucht, sich in Nischen zurückgezogen, von wo aus sie sich häufig erneut in wirklichkeitsfremde Multi-Kulti-Phantasien verrennt, oder aber ihre Vertreter sind beim Marsch durch die Institutionen an gutbezahlte Positionen gelangt, in denen man sich inzwischen vor nichts mehr fürchtet als vor gesellschaftlichen Veränderungen. Sprachlosigkeit herrscht angesichts der sozialen Auswirkungen der Globalisierung, hat doch zu allein Unglück ausgerechnet auch noch der Internationalismus die Fronten gewechselt und ist heute unverkennbar auf der Seite des Kapitals anzutreffen. Es kann also niemanden mehr ernsthaft in Erstaunen versetzen, wenn antikapitalistisch oder ökologisch motivierte gesellschaftliche Alternativen und Zukunftsvisionen heute zunehmend auch aus der Mitte der Gesellschaft heraus entwickelt werden.

Einen solchen Beleg dafür bietet die vorliegende, soeben erschienene Publikation, die 1996 am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Bergischen Universität - Gesamthochschule Wuppertal als Dissertation angenommen wurde. Der Autor, 1960 in Duisburg-Rheinhausen geboren, absolvierte erst eine Handwerkslehre, bevor er ab 1984 ein Studium der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften antrat. Dieser Hinweis erscheint mir wichtig, bringt doch der Sozialforscher immer auch mit seiner Biographie spezielle Neigungen und Wertorientierungen mit, die selektiv seine Wahrnehmungen und soziale Erkenntnisfähigkeit prägen.

In dem vorliegenden Werk wird die Theorie des hauptsächlich in Berlin wirkenden Mediziners und Sozialreformers Franz Oppenheimer vorgestellt, der 1919 als erster deutscher Professor auf den ordentlichen Lehrstuhl für theoretische Nationalökonomie und Soziologie in Frankfurt am Main berufen wurde. Die Arbeit gliedert sich in vier Teile. Im ersten Teil wird, um den Ideenhintergrund Oppenheimers sichtbar zu machen, die Wahrnehmung der sozialen Frage im 19. Jahrhundert rekapituliert, während der zweite sich unmittelbar mit dem theoretischen Ansatz Franz Oppenheimers auseinandersetzt. Den Kern der allgemeinen Theorie Oppenheimers bildete der Ausgleich aller Einkommen durch monopolfreien Wettbewerb. Die Existenz einer industriellen Reservearmee, hervorgerufen ursprünglich durch die Aussperrung der Unterschichten vom Boden, war für ihn das Grundproblem der sozialen Frage. Oppenheimer betrachtete sich als einen "liberalen Sozialisten", der seinen "großen Meister" Karl Marx aufs höchste verehrte, dessen Werk er aber von den, wie er meinte, vorhandenen Schlacken befreien und weiterbilden wollte. Seine Zweifel an der Richtigkeit der marxistischen Gesellschaftskonzeption bezogen sich auf das dem Marxismus zugrunde liegende Menschenbild, auf die psychologischen Voraussetzungen des Kommunismus, die nach Oppenheimers Auffassung nicht gegeben sind und nicht geschaffen werden können. Er lehnte auch die sich auf ein loyales Beamtentum stützende Planwirtschaft kategorisch ab und verteidigte demgegenüber den Markt. Nicht die Beseitigung des freien Marktes, sondern die Verwirklichung der freien Konkurrenz durch die Beseitigung der sie behindernden Monopolformen (Bodensperre usw.) mache erst den Sozialismus möglich.

Die Bodensperre sieht Oppenheimer in einem engen Zusammenhang mit der von ihm entwickelten soziologischen Staatsauffassung, die auf der Vorstellung einer exogenen Entstehung der "Herrschaft" basiert und mit der er an den Grazer Staatsrechtslehrer Ludwig Gumplowicz anknüpft. Als disjunktiver Grundbegriff zur "Herrschaft" wird von ihm der Begriff der "Genossenschaft" als die Alternative zum kapitalistischen Gesellschaftssystem ausgebaut. Damit lehnt sich Oppenheimer an den Rechtslehrer Otto von Gierke (1841-1921) an, der im "Kampf zwischen Herrschaft und Genossenschaft" den Inhalt der Weltgeschichte sah, einen Kampf, den er letztlich wieder zugunsten des genossenschaftlichen Prinzips entschieden haben wollte, den er aber für notwendig hielt, um die Institution Genossenschaft einer neuen, höheren Qualität zuzuführen.

Werner Kruck folgt so auch ganz dieser Logik, wenn er im dritten Teil von einer übergeordneten gesamtgesellschaftlichen Betrachtung der Ökonomie zu den verschiedenen Segmenten der Genossenschaftsunternehmen und ihren Teilmärkten übergeht und schließlich im Schlußkapitel zu den sich ihm darstellenden Perspektiven, die sich aus der Überwindung der "Herrschaft" und ihrer geistigen wie materiellen Institutionen im Genossenschaftswesen ergeben, gelangt.

Was aber ist nun neu an diesem Buch, was macht die besondere Qualität aus gegenüber den zahlreichen sozialen Analysen und antikapitalistischen Zukunftsentwürfen der 70er und 80er Jahre? Da wäre zunächst die an Oppenheimer anknüpfende Rezeption der Lehre der Organik und ihre kritische Anwendung auf die Gesellschaft. Die praktische Gleichsetzung einer Volkswirtschaft mit einem Mechanismus und seinen linearen Kausalverhältnissen wird durch eine organologische Sicht auf das Sozialsystem, das eben als ein Sozialorganismus begriffen wird, ersetzt. So wie im biologischen Organismus jede Zelle mit einer anderen in einem Wirkungszusammenhang steht, so wird Kausalität auch im Sozialorganismus als das Ursache-Wirkungs-Gefüge des Kreislaufprozesses, als die Interdependenzen der Kreislaufpole aufgefaßt. (S. 29)

Als nächstes fällt die Rezeption und soziologische Weiterentwicklung des Gemeinschaftsbegriffes ins Auge. Wurde noch vor einigen Jahren in der sozialwissenschaftlichen Literatur der ein ungezwungenes soziales Verhalten garantierenden "Anonymität und Unüberschaubarkeit" das Wort geredet und jede Gemeinschaft mit einer "Diktatur des scheelen Blicks" (Klaus Bergmann 1970, S. 163) gleichgesetzt, so scheint sich doch zunehmend wieder die Erkenntnis durchzusetzen, daß die Ideologie der Atomisierung und Isolation auf Herrschaftsinteressen bestimmter gesellschaftlicher Kräfte zurückgeht und der übertriebene individualistische Lebensstil sozial schädlich ist. (S. 323) Gemeinschaften werden vom Autor als kooperative Geflechte dargestellt, die durch langfristige Bindungen, direkte Interaktionen und gegenseitige Sanktionsmöglichkeiten (im Gegensatz zu einseitigen Sanktionsmöglichkeiten der Herrschaft) gekennzeichnet sind. Interessant in Verbindung mit dem vom Autor vorgestellten Gemeinschaftsbegriff ist der bereits von Oppenheimer herausgestellte Zusammenhang von Zugehörigkeit bzw. Nichtzugehörigkeit zu einer Gemeinschaft und der Einhaltung bzw. Nichteinhaltung sozialer Normen (S. 251 f.). Einige Auffälligkeiten unserer Kriminalstatistik, die zunehmend unter den Teppich gekehrt werden, um ebendiesen Zusammenhang zu verschleiern, werden dadurch verständlicher.

Die dritte Besonderheit dieser sozialökonomischen Arbeit mit ihrer eindeutig gegen den Neoliberalismus gerichteten antikapitalistischen Tendenz ist die Ablehnung der klassischen marxistischen Idee der "marktlosen Gesellschaft" (Planwirtschaft). Vielmehr geht es dem Autor in Einklang mit Franz Oppenheimer um die Umwandlung der Gesellschaft in eine genossenschaftliche Ordnung, die in einem freien Wettbewerb durch Wegfall der Hemmungen der Konkurrenz, d.h. Ausschaltung aller Privilegien und Monopole, zu einem Ausgleich aller Einkommen führt. An die Stelle des zentralisierten Herrschaftsapparates tritt eine kleinräumig organisierte verfeinerte Technik der Bürgerorganisation. Es bleibt allerdings fraglich, ob sich tatsächlich alle Privilegien und Monopole als Hemmungen der Konkurrenz ausschalten lassen, denn das setzt ihre vollständige Erkennbarkeit voraus.

Auf eine Reihe bestimmter Detaillfragen der Arbeit, z.B. ob der Autor in Anlehnung an Franz Oppenheimer den Marxschen Wertbegriff richtig erfaßt und verarbeitet hat, oder ob man tatsächlich die Produktion als eine Sonderform von Dienstleistungen (S. 210) betrachten kann (der Dienstleistungsbereich lebt als tertiärer Sektor im wesentlichen nur von der Umverteilung von Nationaleinkommen, also von der produktiven Sphäre einer Volkswirtschaft), soll hier nicht ausführlich eingegangen werden.

Alles in allem kann die Arbeit mit ihrer Rezeption und Weiterentwicklung der Lehre Franz Oppenheimers als ein wesentlicher Beitrag zum Anschub des gesellschaftlichen Diskurses um soziale Perspektiven und Alternativen zum herrschenden kapitalistischen System und zum untergegangenen Staatssozialismus gewertet werden, auch wenn er eher den Fachmann als den Laien ansprechen wird. Besonders hervorzuheben ist abschließend noch das übersichtlich erarbeitete Stichwortverzeichnis, das die Arbeit mit dem Buch sehr wesentlich erleichtert.

[Anmerkung von Werner Kruck: Zu den im vorletzen Abschnitt von Böttger aufgeworfenen Fragen können Sie zur Vertiefung heranziehen: Franz Oppenheimer, Wert und Mehrwert.]

Genossenschaftswissenschaft - kritisch betrachtet

In: Contraste, Die Monatszeitung für Selbstorganisation 1/1998, S. 13.

Abstract: Auf den ersten Blick sehr unterschiedlich sind zwei aktuelle Veröffentlichungen zum Thema Genossenschaften. Als historisch-wissenschaftliche Analysen kritisieren aber beide die deutsche Genossenschaftswissenschaft. Werner Kruck hebt hervor, daß diese [die Genossenschaftswissenschaft, W.K.] nach dem zweiten Weltkrieg eine Beforschungswissenschaft war, in der diese Organisationsform [die Genossenschaft, W.K.] mehr Objekt als Auftraggeber war. Dagegen setzt sich Gero Erdmann vor allem kritisch mit den »Mythen« der ländlichen Genossenschaften auseinander: Sie seien schon in ihren Ursprüngen weder demokratisch, selbsthilfeorientiert noch gegen die Armut ausgerichtet gewesen.

Ausgangspunkt der Überlegungen von Kruck ist seine intensive Auseinandersetzung mit dem Soziologen und Nationalökonom Franz Oppenheimer. Kruck sieht in Oppenheimer einen Wissenschaftler, der für die Soziale Marktwirtschaft und das Genossenschaftswesen zentrale Erkenntnisse vermittelt. Oppenheimer betrachtet ausgehend von der Genossenschaftsfrage die ökonomischen Zusammenhänge und kommt von dort aus wieder zur Genossenschaftsfrage zurück. Sind doch ein Teil der genossenschaftlichen Bewegungen einst angetreten mit dem Anspruch, den kapitalistischen Verhältnissen eine soziale Kraft entgegenzusetzen. Teilweise wollten sie sogar die gesamte Wirtschaft durch Ausbreitung der genossenschaftlichen Organisationsformen umwandeln. Von solchen Zielen ist heute praktisch nichts mehr vorhanden.

Franz Oppenheimer als gesellschaftswissenschaftlicher Querdenker

Eine Ursache hierfür sieht Kruck nicht zuletzt in der Vernachlässigung der Erkenntnisse Oppenheimers. Sie ist, so betont Kruck, eine verpaßte Chance: Eine von allen Vormachtstellungen freie, auf dem Fundament wirtschaftlich emanzipierter Individuen ruhende Wirtschaft müßte automatisch soziale Resultate ergeben. Oppenheimers engagierter Einsatz für Freiheit und Gleichheit durch genossenschaftliche Selbsthilfe und durch eine emanzipatorisch-politische Konzeption weist, so Kruck, visionär weit in die Zukunft. Um dies zu veranschaulichen, arbeitet er im ersten Kapitel heraus, daß nicht Liberalismus, sondern Macht und Herrschaft das soziale Elend des Kapitalismus erzeugen. Im zweiten Kapitel wird die Theorie Oppenheimers am Gegenstand der »Sozialen Marktwirtschaft« vertieft. Im dritten Hauptteil geht es dann um die verschiedenen Genossenschaftsarten und ihre Teilmärkte.

In Anlehnung an Oppenheimer sieht Kruck den Begriff der Genossenschaft als Gegenbegriff zur Herrschaft: »Genossenschaft ist die zu Handeln verbündete Gemeinschaft«. Sie beruht auf der Idee persönlicher Freiheit im Rahmen einer Schutz- und Kooperationsgemeinschaft. Die Genossenschaftswissenschaft der Nachkriegszeit vernachlässigt dies. Sie enthält sich weitgehend einer Analyse des Gesellschaftssystems und der Ableitung von Anforderungen, die eine Verbesserung desselben an die Genossenschaft stellt. Insofern kritisiert Kruck das Meinungskartell der Genossenschaftswissenschaftler nach 1945. Sie betrieben eine »Neuerfindung der Genossenschaftswissenschaft« unter Außerachtlassung liberal-sozialistischer Traditionen. Namen wie Back, Henzler, Ohm, Seraphim und Paulick nennt er als Beispiele.

Krucks Ausführungen sind hochkomplex. Sein Schreibstil wird durch sein wissenschaftliches Selbstverständnis und seine teilweise enge Anlehnung an Oppenheimer geprägt. Wer sich darauf einläßt, kann die seltene Gelegenheit genießen, sich mit dem Thema Genossenschaften aus makroökonomischer Sicht auseinanderzusetzen. Auch bekommt er einen guten Einblick in die vielfältigen innovativen Überlegungen von Oppenheimer, der heute mit seinem engagierte Einsatz für einen liberalen Sozialismus und eine soziale Marktwirtschaft zurecht als »Querdenker« bezeichnet werden würde.

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Werner Kruck

Franz Oppenheimer - Vordenker der Sozialen Marktwirtschaft und Selbsthilfewirtschaft

In: Zeitschrift für Sozialökonomie, 35. Jg., 116. Folge, März 1998, S. 26-27.

Das hier vorzustellende Werk ist eine in Buchform erschienene Dissertation aus 1996. Der Erarbeitung lag ein Stipendium der F.D.P.-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung zugrunde. Dies ist deshalb erwähnenswert, weil Kruck in seinen Ansichten dem heute bei der F.D.P. vorherrschenden Neoliberalismus entgegentritt und sich auf die liberalsozialistischen Positionen von Oppenheimer besinnt. Zum Neoliberalismus nimmt Kruck wie folgt Stellung: "Denn die Art und Weise, wie man in diesen Kreisen daran glaubt, daß einzig investierende Kapitalisten Wohlstand über die Völker bringen, wie man also den Eigennutz ohne Abgrenzung gegenüber den räuberischen und ausbeuterischen Praktiken der tatsächlich agierenden Wirtschaftspersonen hochstilisiert zum Motor allen Erfolges und umgekehrt die aus den Machtasymmetrien resultierenden Unterversorgungen mit erwünschten Gütern autoritär aus dem Zuständigkeitsbereich der vertretenen ökonomischen Theorie herausdefiniert, das hat schon seine eigene kapitalismus- und ausbeutungskonforme Qualität" (S. 32f).

Mit Oppenheimer sieht Kruck die soziale Frage als Frage nach dem Mehrwert und fragt nach der zu beseitigenden Ursache des Mehrwertes (vgl. S. 39). Die Staatsfeindlichkeit von Oppenheimer bzw. die Verortung des Staates als eines Klassenstaates wird herausgearbeitet (vgl. S. 69). Daß es keine Verständigung über eine Vollbeschäftigungspolitik gibt, wird darauf zurückgeführt, daß Vollbeschäftigung den 'Arbeitskraft kaufenden' Unternehmen die (Ausbeutungs-)Preise verdirbt (vgl. 74; vgl. auch S. 63, 99, 213, 298). Der Unternehmer wird als 'Produzent' zweier Produkte angesehen, des offiziellen Unternehmensgegenstandes, z.B. der Produktion von Autos, sowie des Arbeitsplatzangebots. Vom Arbeitnehmer wird der Preis des Arbeitsplatzes bezahlt durch Abschlag vom erstellten Wert beim Lohn (S. 213). Mit Oppenheimer versteht Kruck unter 'Kapitalismus' eine geschichtliche Epoche, deren gesellschaftswirtschaftliche Ordnung durch die Interessen einer nach Mehrwertaneignung strebenden Klasse exklusiver Kapitalbesitzer gekennzeichnet ist (S. 95). "Anders als Karl Marx versteht Oppenheimer unter 'Mehrwert' denjenigen Wert, den ein Kontrahent im Tauschakt aufgrund seiner Machtposition als Aufpreis erzielen kann" (S. 96).

Der Sozialismus wird von Oppenheimer angestrebt als "der Glauben an und das Streben auf eine von allem Mehrwert, d.h. allem arbeitslosen Einkommen, erlöste, darum klassenlose und darum brüderlich geeinte Gesellschaft der Freien und Gleichen" (S. 96 mwN bei Oppenheimer). Dieses Ziel wird durch Vervollkommnung der Marktwirtschaft angestrebt (S. 96). Wahren Liberalismus und wahren Sozialismus sieht Oppenheimer nicht als Gegensätze (S. 126), sondern als gegenseitig bedingt an; Kruck betrachtet sie als Zwillingsbrüder (S. 111). Angestrebt wird eine Umwandlung der kapitalistischen in eine reine Ökonomie (S. 307, 308, 328, 382). Sie wird auch als laboristische Ökonomie bezeichnet (S. 309). Kapital arbeitet nicht, "sondern vermehrt sich lediglich aufgrund der Ausbeutung einer von ihm selbst herbeigeführten Knappheit des Kredits" (S. 309). "Die reine Ökonomie ist nach Oppenheimer jene, in der das politische Mittel der Reichtumserwerbung aufgehört hat zu existieren (Herrschaft zum Zwecke der wirtschaftlichen Ausbeutung fremder Arbeit) und nur noch das ökonomische Mittel zulässig ist: freie Arbeit und gerechter Tausch" (S. 328).

Diese Gedanken sind denen der Freiwirtschaftslehre Gesells eng verwandt. Im Zusammenhang mit dem Thema Geldersatz wird Gesell von Kruck kurz erwähnt (S. 266), um dann auf Barter-Geschäfte überzuleiten. Weiten Raum nehmen Ausführungen bei Kruck zu genossenschaftlichen Selbsthilfeeinrichtungen, ihren Problemen und Möglichkeiten ein. Von ihnen erwartete Oppenheimer und in seiner Nachfolge erwartet auch Kruck eine Verwirklichung seiner liberal-sozialistischen Vorstellungen. Auch das Individuum soll auf diesem Wege gesunden. Dabei sieht Kruck allerdings nicht den erforderlichen Aufwand, der mit dem Betreiben dieser Selbsthilfeorganisationen einhergeht und der es neben dem heute erreichten Grad an Wettbewerb erklärt, daß trotz des Abzuges vom Wertprodukt der Arbeit durch den Arbeitgeber der Zug zur Selbständigkeit und zu genossenschaftlichen Organisationsformen nur sehr gering ausgeprägt ist.

Die von Oppenheimer mitbegründete Obstbausiedlung Eden - dort verbrachte Gesell seine letzten Lebensjahre - wird erwähnt (S. 311, Fn. 600, 314f, 319), ebenso Oppenheimers Einfluß auf die genossenschaftliche Siedlungspolitik in Israel (S. 320). Auch der Einfluß Oppenheimers auf Ludwig Erhard, dessen Doktorvater er war, wird nachgezeichnet. Insgesamt wird Oppenheimer von Kruck so gut wie nie kritisch beleuchtet: Man gewinnt als Leser den (nicht unbedingt glaubwürdigen) Eindruck, Wirtschaftskrise und Krise im Genossenschaftswesen würden mit dem Ansatz von Oppenheimer und etwaigen Weiterungen von Kruck gemeistert. Es fehlt die nüchterne, kritische Distanz. Auf S. 291 wird das ökonomische Prinzip verkannt, wenn als Zielsetzung angesetzt wird, "mit geringstmöglichem Aufwand den größtmöglichen Ertrag zu erzielen". Nur mit gegebenem Aufwand läßt sich der Ertrag maximieren bzw. für einen bestimmten Ertrag läßt sich der Aufwand minimnieren.

Außenseiter

In: Wissenschaftlicher LiteraturAnzeiger WLA, Jg. 38, 1/1999, S. 65-66.

Die vorliegende Dissertation der gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät der Bergischen Universität Wuppertal würdigt kritisch das Gesamtwerk von Franz Oppenheimer, den die Genossenschaftswissenschaft unserer Tage eigentlich nur als den Autor des Transformationsgesetzes kennt. Die beiden ersten Teile behandeln die soziale Frage im 19. Jahrhundert und den theoretischen Ansatz Franz Oppenheimers (S. 19-226). Der dritte Teil "Die Genossenschaft als Einrichtung privater Volkswirtschaftspolitik" (S. 227 ff.) beleuchtet die sechs Typen der Genossenschaften aus der Sicht Oppenheimers und der heutigen Perspektive: Während heute vor allem die Frage nach dem Förderungsauftrag interessiert, war für Franz Oppenheimer Kriterium der Beurteilung, ob die betreffende Genossenschaft einen Beitrag zur Lösung der Unterversorgung bestimmter Bereiche leistet. Nicht privatwirtschaftliche (hohe) Effizienz der Genossenschaft galt für ihn als "Bestätigung", sondern die Beseitigung von Mangelsituationen. Werner Kruck schlägt die Verbindung zwischen Oppenheimer und der heutigen Realität. Er widerlegt auch die herkömmliche, von Hans Fuchs 1927 fälschlicherweise interpretierte Formulierung des Oppenheimerschen Transformationsgesetzes, das sich nur auf den "gewerblichen Sektor" bezieht. Die Vorstellung über Erfolg und Mißerfolg von Produktivgenossenschaften durch Franz Oppenheimer orientierte sich an der unterschiedlichen Erfolgsaussicht landwirtschaftlicher und gewerblicher Produktivgenossenschaften, die sich aus der damaligen Marktwirtschaft ergaben. Heute dürften die Dinge gerade umgekehrt liegen: Nicht Handwerker (die heute weitgehend nur auf Reparaturen und Dienstleistung ausgerichtet sind), sondern Landwirte haben gegenwärtig Absatzsorgen.

Im vierten Teil (Herrschaft und Genossenschaft, S. 328-381) zeigt der Verfasser den wesentlich weiteren Begriffsinhalt der Genossenschaft bei Oppenheimer auf: Sie ist in allen Bereichen Alternative zur "Herrschaft". Kruck nimmt auch kritisch zur Krise der Genossenschaftswissenschaft Stellung (S. 346 ff.). Die Arbeit schließt mit einer Zukunftsvision Franz Oppenheimers für das Jahr 2032 (125 Jahre nach der Formulierung), in dem er Großunternehmungen nur noch als Produktivgenossenschaften sieht. Es ist das die "reine Ökonomie" (im Gegensatz zur "politischen Ökonomie"), die als Prophezeihung einer (wirklichen) Sozialen Marktwirtschaft gelten kann (daß Ludwig Erhard seine Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft - die schon damals durch die Politik im starken Umfang an der Realisierung gehindert wurde - von dieser reinen Ökonomie seines Lehrers Oppenheimer ableitete, ist leider inzwischen auch vergessen). Die Vorstellungen Oppenheimers, mit Hilfe der Bodenreform die soziale Frage einer damals noch stark landwirtschaftlich orientierten Volkswirtschaft zu lösen, hat Oppenheimer schon damals zum Außenseiter werden lassen. Die Großunternehmung als Produktivgenossenschaft dürfte das gleiche tun, wenn wir die Tatsache vergessen, daß immer mehr sich der Gedanke einer Mitarbeiterbeteiligung als Stimulans für Produktivität und Hindernis von Lohnerhöhung und Arbeitszeitverkürzung durchsetzt.

Ein vorzügliches Buch - für eine Dissertation allerdings wohl zu umfangreich als auch qualitativ wesentlich höher einzustufen, nämlich als habilitationsadäquate Leistung.


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