»Wohlstand für alle« war schon Franz Oppenheimers Zukunftsvision

In: Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, hrsg. v. d. Ludwig-Erhard-Stiftung, Nr. 72, 1997, S. 48-52.

[S. 48] Abstract: Nach Franz Oppenheimer benötigt die Demokratie keinen wie auch immer legitimierten Herrschaftsapparat, sondern eine verfeinerte Technik der Bürgerorganisation. Von dem Ideal eines funktionierenden Gemeinwesens der Bürger sind wir heute noch ein gutes Stück weit entfernt. Es verlangt Bürger, die die Richtlinien der Politik ihres unmittelbaren Handlungsbereiches diskutieren und für übergeordnete Zusammenhänge sachbezoge Delegierte bestimmen, die aber auch gewohnt sind, initiativ zu werden und notwendige Projekte in eigener Regie umzusetzen.

Was Oppenheimer unter dem Begriff der »Freibürgerschaft« einer möglichen Zukunftsgesellschaft ausgemalt hat, könnte den Zustand am Ende eines langen Entwicklungsprozesses beschreiben, eines Prozesses vieler »Häutungen« gesellschaftlicher Ordnungen,

  • von der ursprünglichen Gewalt des »Siegerrechts« im Raubstaat
  • über die durch erste Regelungen zur dauerhaften Bewirtschaftung einer Unterklasse durch eine Oberklasse angelegten Rechtsvorstellungen im Klassenstaat
  • über den Einzug ethisch fundierter und die Gesamtheit eines Volkes gleichermaßen umfassender Gerechtigkeitsvorstellungen im modernen Verfassungsstaat
  • bis hin zu jener Ordnung, die man nur vage erahnen kann, wenn man den gesellschaftlichen Prozeß der Demokratisierung und wirtschaftlichen Emanzipation gedanklich fortschreibt [1].

Man weiß über diese »mögliche Zukunft« so wenig, wie man einst über die konkreten Auswirkungen der Aufhebung des Drei-KlassenWahlrechtes wußte. Dennoch finden solche Entwicklungen mit gewisser Zwangsläufigkeit statt und beruhen auf einer sozialen Gesetzmäßigkeit, die da lauten könnte: Eine Gesellschaft mit verletztem Konsens ist eine innerlich angespannte, mit sich selbst beschäftigte, in Sachfragen durch Klasseninteressen überlagerte, suboptimal handelnde und deswegen letztlich an ihren inneren Widersprüchen leidende Gesellschaft. Mit jedem Schritt zur Auflösung der inneren Gegensätze (nicht der Vielfalt!) nähert sich der Gesellschaftsverband einem Zustand höherer Leistungsfähigkeit, höherem Wohlstand sowie größerer Akzeptanz und Einsatzfreude seiner Bürger für das Gemeinwesen.

Freiheit und Verantwortung

Arbeit und nicht Verteilungskampf ist der Schlüssel zu Wohlstand; die Freiheit des Ökonomischen vom politischen Mittel, also die Kultivierung des Ökonomischen und nicht die Kultivierung des Politischen, ist der Schlüssel zum Ausgleich von Einkommen und Klassen- oder Standesgegensätzen.

Selbstbestimmung und Selbstverantwortung sind die beiden Seiten der Emanzipation. Der befreite Mensch wird es schwerer haben in seinem Leben, weil er mehr begreifen muß, mehr durchdenken muß, mehr an Unsicherheit aushalten muß, für Fehleinschätzungen stärker selber gestraft wird etc. Deswegen rufen Menschen, die nicht gelernt haben, die Bürden der Freiheit selber zu tragen, nach einem Herrn, einem Gesetz, dem Staat oder einer Verwaltung, die für sie denken und regeln mögen, was aus der Unfähigkeit zur Eigenständigkeit heraus angst macht. Aber, und das sei hier als Herausforderung und Zielvorgabe für den kulturell einzuschlagenden Weg formuliert, je weitergehend zukünftige Generationen auf ihrem Bildungsweg lernen, diese Lasten zu tragen, desto leichter werden ihnen die Lasten scheinen und wird [S. 49] die Fähigkeit zur selbstverantwortlichen Selbstbestimmung wachsen. Das heißt nicht, daß die Gesellschaft der Zukunft ohne Kooperationen und ohne einen »Gesellschaftsvertrag« auskommen würde. Es heißt aber, daß die Kooperationen auf der wertmäßigen Grundlage emanzipierter Persönlichkeiten aufbauen, von denen es keiner mehr nötig hat, sich dem anderen zu unterwerfen, und auch niemand mehr auf die Idee käme, in dem anderen etwas anderes als einen Partner zur Bewältigung gemeinsamer Herausforderungen zu sehen.

Der Mensch, dem die Würde des anderen ein viel selbstverständlicher zu schützendes Gut sein wird, dürfte dann aus der Übertragung zwischenmenschlicher Gerechtigkeit heraus nach gesellschaftlichen Rechtsnormen verlangen, die der erreichten Würde im Privaten entsprechen.

Oppenheimer hat vor über 60 Jahren die Linie gezeichnet, auf der sich unsere Gesellschaft entwickelt hat und auf der sie sich weiter entwickeln würde, wenn das emanzipatorische Projekt der Menschheit nicht vorher ihrem Zweifel zum Opfer fällt. Da heute wieder die »fehlenden politischen Visionen« beklagt werden müssen, hat der von Oppenheimer eingebrachte Diskussionsbeitrag große Aktualität: Seine auf Freiheit und Gerechtigkeit bauende, von theoretischer Substanz untermauerte Vision wäre zum Sollzustand zu erklären, auf den sich die Gesellschaft mit bewußter Entscheidung zubewegen könnte. Zwei Aspekte erscheinen dabei besonders wichtig: Oppenheimers Vorstellung über die Organisation dezentraler demokratischer Gemeinwesen und seine Ansichten über die wirklich freie Konkurrenz.

Die Organisation der Staaten

Oppenheimer schreibt: "Die Tendenz [2] der Entwicklung des Staates führt unverkennbar dazu, ihn seinem Wesen nach aufzuheben: er wird aufhören, das »entfaltete politische Mittel« zu sein und wird »Freibürgerschaft« werden. Das heißt: die äußere Form wird im wesentlichen die vom Verfassungsstaate ausgebildete bleiben, die Verwaltung durch ein Beamtentum: aber der Inhalt des bisherigen Staatslebens wird verschwunden sein; die wirtschaftliche Ausbeutung einer Klasse durch die andere. Und da es somit weder Klassen noch Klasseninteressen geben wird, wird die Bureaukratie des Staates der Zukunft jenes Ideal des unparteiischen Wahrers des Gemeininteresses wirklich erreicht haben, dem die heutige sich mühsam anzunähern versucht. Der »Staat« der Zukunft wird die durch Selbstverwaltung geleitete »Gesellschaft« sein." [3]

An der Stelle des alten Staates "steht jetzt die föderalistische Gesellschaft auf dem Plan; das heißt: ein Gemeinwesen, das allen örtlichen und beruflichen Gruppen grundsätzlich soviel Freiheit läßt, wie mit dem Wohl der Gesamtheit irgend verträglich ist. Zentralisiert sind wahrscheinlich noch die großen Verkehrsunternehmungen, weil sonst leicht Privatmonopole entstehen könnten, zentralisiert sind selbstverständlich Recht und Gerichtswesen, weil im ganzen Kreise gleiches Recht und gleiche Rechtspraxis herrschen müssen, zentralisiert ist, solange es noch nötig ist, das Wehrwesen und ein Teil der Polizeimacht usw. Aber im übrigen begnügt sich der »Staat« damit, seinen Untergliedern gewisse Mindestleistungen vorzuschreiben und behält sich die Aufsicht darüber vor, läßt ihnen aber in diesem Rahmen völlig freie Hand und hat nicht im mindesten etwas dagegen einzuwenden, wenn sie aus eigenen Steuermitteln in Schule und Straßenwesen, in Bauten und Kunstpflege usw. die Minima beliebig überschreiten; er stachelt diesen Wettbewerb der Kollektivitäten um die höchste Ehre innerhalb der ganzen Gemeinschaft im Gegenteil nach Kräften an." [4]

Die Zentralisierung durch den absoluten Staat war nach Oppenheimer einst eine unvermeidliche Notwendigkeit: "Es war ein Stück des Weges zur Gerechtigkeit, das hier gegangen wurde: Denn Gerechtigkeit ist Gleichheit, und der absolute Staat hat wenigstens die Gleichheit der Untertanenschaft hergestellt." [5] Dennoch war dieser "Gipsverband", unter dem "die vollkommen zerbrochenen Knochen der Gemeinschaft wieder zusammenheilen konnten", ein Übel, denn die Zentralisierung "diente zuletzt doch immer der Herrschaft und der Ausbeutung und der Niederpflügung allen Eigenwuchses". [6]

In seinem utopischen Roman läßt Oppenheimer seine Figur im Jahre 2032 dem fragenden Zeitreisenden aus der Vergangenheit in einem Dialog erklären: [7]

[S. 50] "Allüberall das gleiche Possenspiel! Erobernde Gewalt schafft den Staat, die Eroberer werden zum Adel, die unterjochten Bauern und auf höherer Stufe auch die Städter haben zu Zinsen, zu fronden und zu bluten. Dann schlagen sich die Prinzen um die Krone, in diesen Kämpfen verkommt der alte Adel, und ein neuer Adel schwingt sich empor, fast sämtlich Unfreie, Hofdiener und Gardisten, vielfach die übelsten Emporkömmlinge. Sie drücken die freien Bauern in Knechtschaft, sperren das Land, und stürzen ihren Staat in hoffnungslose Anarchie. Die Wildvölker überschwemmen die Länder, bis endlich der mächtigste der Magnaten eine neue Ordnung schafft. So entsteht der absolute, der zentralisierte Staat als Retter, der aber dann die letzten Reste der alten gewachsenen Ordnung der Gemeinschaft zerstört. (...) Er kann eben nur den »Untertanen« gebrauchen, den normalisierten Menschen, und reguliert alles von oben her, mit einer Bürokratie, die zuletzt das Volk auffrißt, bis die bürgerlichen Revolutionen eine Zeitlang wieder eine neue Ordnung schaffen, indem sie den Menschen befreien. (...) Damit erst war der Klassenstaat überwunden. Aber es blieb noch die Zentralisierung zu beseitigen. (...) Erst seitdem ist eine vernünftige Regierung überhaupt möglich geworden."
"Was verstehst du darunter?"
"Nun, sehr einfach. Demokratie unter sehr starker Führerschaft."
"Das galt meiner Zeit als unvereinbar."
"War's aber nicht. Kennst du Hegel? Auf höherem Niveau versöhnen sich die Gegensätze in der Synthese. Wir haben die Synthese von Liberalismus und Sozialismus, die ihr auch für unvereinbar hieltet, auf dem Gebiet der Wirtschaft, und die Synthese von Demokratie und Führerschaft auf dem der Politik verwirklicht."
"Warum ist das früher unmöglich gewesen?"
"Weil eure Staaten zentralisiert waren. Da bedeutet Demokratie notwendigerweise auch den zentralen Parlamentarismus, und der war ein neues Übel. Wer kam hinein? Die Redner: Rechtsanwälte und Journalisten, Syndizi der großen Kapitalmagnaten, Priester, Männer mit geläufiger Zunge. Wer aber gehörte hinein? Die Schaffer, die Sachverständigen, die Organisationen, aber die haben nicht die Zeit zu vielen Reden, und meistens keine Neigung dazu. Haben Besseres zu tun. Nur im kleineren Kreise ist Demokratie möglich. Sogar Rousseau hat immer nur an Kantone wie sein heimatliches Genf gedacht, aber nicht an Großstaaten oder gar an den Weltstaat. Im kleinen Kreise kennt man sich, und da kommen ohne weiteres die Schaffer an die Spitze."

Demokratie ist weder Agitation noch Demagogie

Die Möglichkeit einer funktionierenden Demokratie ist nach Oppenheimer gebunden an die Umwandlung des Zentralstaates in ein föderales System. In diesem haben Gemeinden, Stadtteile oder Genossenschaften, in denen die Menschen ihre Angelegenheiten besorgen, obersten Rang. Dabei soll gelten, daß beim Einsatz der erhobenen Steuermittel "nicht Luzern für Bern bezahlt und beide zusammen für Genf", sondern jeder Kanton und in diesem wieder jede Untereinheit zuallererst für sich selber sorgt. Davon mag man in Katastrophenfällen aus Gründen der Solidarität und Mitmenschlichkeit abweichen, aber nichts fördert nach Oppenheimer so sehr die Sparsamkeit einer öffentlichen Verwaltung als die Verbindung von Leistungsentrichter und Leistungsbezieher.

Von den dezentralen demokratischen Gemeinwesen ausgehend sollen dann jeweils qualifizierte Personen in die übergeordneten Verbände hineingewählt werden, damit man dort etwa auf Kreis-, Stadt- oder Kantonsebene die Dinge besorge, die alle untergeordneten Einheiten gemeinsam angeht, aber nicht das gesamte Land.

Eine so von unten her aufgebaute Ordnung wird nicht anarchistisch oder führungslos sein. Es wird Ordnung geben, wenn auch mit einem anderen Zuschnitt der politischen Gebiete, anderen Zuständigkeiten der Gewählten und anderen Auswahlverfahren als im zentralistischen Parlamentarismus. Eine Textstelle mag dies veranschaulichen, in der Oppenheimer vorwiegend Constantin Frantz [8] zitiert:

"»Soll in einem Staat politische Freiheit bestehen, so muß das Volk sich selbst regieren. Die Teilnahme an der Gesetzgebung folgt dann ganz von selbst, während nicht umgekehrt aus dem Letzteren auch das Erstere folgt« (Seite 247). »Mag die Zentralgewalt im Kabinett eines absoluten Monarchen oder in einer konstitutionellen Kammer oder in einem souveränen Konvente ruhen, das ändert sehr wenig an der Sache. Immer bleibt die politische Freiheit haltungslos und kaum mehr als ein frommer Wunsch, solange die Gemeinden, Kreise und Provinzen nicht auf eigenen Füßen stehen. Ist [S. 51] dies nicht der Fall, so muß man sie auf eigene Füße zu stellen suchen, und nur insoweit das gelingt, wird politische Freiheit Wurzeln schlagen« (Seite 214).
»Weil also die Repräsentation sich gar nicht an die wirkliche Gliederung des Staates und der Gesellschaft anschließt, sondern vielmehr selbst desorganisierend wirkt, indem die Wahlversammlungen die verschiedensten Elemente zusammenwerfen, und die Wahlkreise die bestehenden Korporationen sehr häufig durchschneiden, so müssen sich wohl Parteien organisieren, um irgendeinen Halt zu gewinnen« (Seite 316). Was aber kommt dabei heraus? »Aussicht, gewählt zu werden, haben dabei im Durchschnitt nur solche Kandidaten, die selbst Durchschnittsmenschen sind, für die am leichtesten die erforderliche Stimmenmehrheit zu gewinnen ist, weil jedenfalls nichts Auffallendes an ihnen hervortritt, was diesen oder jenen Wähler abstoßen könnte. Die Mittelmäßigkeit ist privilegiert. Dazu der unvermeidliche Humbug, weil die große Masse der fast immer kenntnislosen Wähler, deren Stimmen gleichwohl entscheiden, durch Agitationsmittel und Wahlmanöver gewonnen sein will, worauf sich in der Regel oberflächliche Menschen am besten verstehen, gediegene Charaktere aber und gründliche Köpfe sich kaum einlassen mögen« (Seite 326). »Wie ganz anders wäre es, wenn die Deputierten nicht bloße Wählerhaufen verträten, sondern die Provinzen, die Kreise oder wenigstens die Gemeinden, überhaupt Korporationen, und darum ihren Deputierten zum wirklichen Rückhalt dienten« (Seite 308)." [9]

Die Freiheit des einzelnen und die Begrenzung der Marktmacht

In einer Marktwirtschaft können Ausbeutung und Kapitalismus herrschen, wenn es - nach Oppenheimer - »freie« Arbeiter im doppelten Sinne gibt: Arbeiter, die »frei« bzw. »ledig« von jeglicher Verfügung über die zur Produktion notwendigen Mittel sind, die in den Händen einer »besitzenden« bzw. darüber im eigenen Interesse verfügenden Klasse konzentriert sein müssen, und zweitens eines Überhangs der so zur Abhängigkeit verurteilten Klasse, die durch den ihr innewohnenden Angebotszwang bei Strafe ihres Unterganges gezwungen ist, sich der Bewirtschaftung durch die ökonomisch stärkere Klasse zu unterwerfen. Wenngleich es auch noch andere Möglichkeiten der Ausbeutung von Abhängigkeiten gibt, so liegt doch die stärkste Fessel für eine ökonomisch unterlegene Klasse in der Unmöglichkeit, durch Einsatz ihrer Arbeit die Mittel zu erwerben, die notwendig wären, um sich aus all den möglichen Formen der ausbeutbaren Abhängigkeit zu lösen.

Wenn Oppenheimer auch bis zu diesem Punkt der Beschreibung kapitalistischer Wesenheit mit Karl Marx übereinstimmt, so kann es seiner Ansicht nach doch zu keinem Erfolg führen, wenn die politische Herrschaft auf dem Sektor der Wirtschaft durch eine noch verschärfte Form der Herrschaft politischer Apparate oder Parteien ersetzt wird. Wo sich Macht konzentriert, da wird sie auch mißbraucht. Und kein noch so sehr von seiner edlen Gesinnung überzeugter Kommunist hat es vermocht, in einem politischen System, das von vornherein auf die Konzentration von Macht angelegt war, die Freiheit, Individualität, Gerechtigkeit und Würde des Menschen zu beschützen, auf die hin der ganze Versuch angelegt war.

Oppenheimers Kritik hinsichtlich der »sozialen Unmöglichkeit« des Kapitalismus betont in scharfem Gegensatz zu Marx, daß der Freiheit des einzelnen in einem umfassenderen Sinne zum Durchbruch verholfen werden muß. Erst wenn jeder Erwerbsfähige grundsätzlich und jederzeit eine auf sich gestellte, selbständige Tätigkeit aufnehmen kann und der Verzicht darauf auf einem freien Entschluß beruht, zu dem ihn keine Not zwingt, ist ein Zustand der gesellschaftlichen Entwicklung erreicht, bei dem wirklich jeder Mensch seine Würde hinreichend verteidigen kann und »frei« im Sinne des alten Liberalismus ist. Eine auf Fähigkeiten, Mitteln und Möglichkeiten beruhende Freiheit ist eine auf Unabhängigkeit und Leistungsbereitschaft beruhende Freiheit, die der einzelne sich jederzeit erkämpfen und verteidigen kann.

Freiheit und Demokratie werden bei Oppenheimer von der Emanzipation des wirtschaftenden Menschen ausgehend entwickelt. Daß der Mensch nach dieser Freiheit kraft seiner Vernunft strebt und die erwartbare Modernisierung der Gesellschaft auf diesem Wege vonstatten geht, liegt in einer für ihn erkennbaren Tendenz begründet. Sie mündet in einem dem Kapitalismus seiner Zeit konträren Modell. Eckpunkte darin sind

  • die (klassen-)monopolfreie Wirtschaft,
  • der Wegfall der »Reservearmee« und ein höherer Grad an Selbständigkeit in frei zustandegekommenen Kooperationsbeziebungen,
  • [S. 52] der Ausgleich aller Einkommen durch freien Wettbewerb.

In seinem utopischen Roman nennt Oppenheimer das Problem der Machtasymmetrie als Kernproblem des Kapitalismus: "Monopol heißt, Ausschluß der freien Konkurrenz aufgrund einer Übermacht. Wo Konkurrenz besteht bei Vorhandensein von Monopolen, da ist es nicht freie, da ist es gefesselte Konkurrenz. Da zieht der Monopolist am langen Hebelarm, da ist die Waage des Marktes gefälscht, - und das war der Kapitalismus." [10] Entsprechend war zur Überwindung des Kapitalismus "keine funkelnagelneue Wirtschaftsmaschine aufzubauen, wie die Kommunisten faselten, sondern bloß die Konkurrenz von ihrer Hemmung zu befreien. Und das war, einmal erkannt, sehr einfach. Im Verhältnis zu den Utopien der Weltverbesserer soviel einfacher, wie es einfacher ist, einem geknebelten Menschen die Fesseln abzunehmen, als einen künstlichen Menschen zu fabrizieren." [11] Mit der Abschaffung der gefesselten Konkurrenz oder »Konkurrenz der Ungleichen« müsse der Mehrwert verschwinden. "Die Riesenvermögen und Rieseneinkommen des Kapitalismus kann es nicht mehr geben, ebensowenig wie allgemeine Krisen. Die Ergiebigkeit der Arbeit ist sehr groß, dank der Verwendung sehr starker Maschinerie; daher lebt jeder Arbeitende in Wohlstand." [12]

Das Gleichgewicht der »reinen Ökonomie« wird sich nach Oppenheimer auf dem Punkt einstellen, den bereits Johann Heinrich von Thünen beschrieb: "Wenn durch den Preis der Ware die Arbeit von gleicher Qualität in allen Gewerben gleich hoch gelohnt wird, so findet das Gleichgewicht statt." Den dahinterstehenden Ausgleichsmechanismus beschrieb Adam Smith mit den Worten: "Wenn in derselben Gegend irgendeine Beschäftigung entweder vorteilhafter oder weniger vorteilhaft wäre, als die übrigen, so würden in dem einen Falle so viele ihr zuströmen, in dem anderen so viele sich von ihr abwenden, daß ihre Vorteile bald wieder mit denen anderer Beschäftigungen in eine Linie kämen." Der freie Wettbewerb hat demnach die Wirkung, daß der Schuster auf die Dauer nicht mehr verdienen kann als der Schneider, "der Fabrikant von Automobilen nicht mehr als der Fabrikant von Stecknadeln, der Arzt nicht mehr als der Anwalt." [13] Wo sich dieser Effekt - der von Erhard beschriebene "Wohlstand für alle" - nicht einstellt, ist der Zustand des ausbeutenden Kapitalismus nicht überwunden und das Ziel der Sozialen Marktwirtschaft mit immanent ökonomischem Ausgleichsmechanismus nicht erreicht.

Fußnoten
[1]
Einen Versuch, die Zukunftsordnung auszumalen, unternahm Oppenheimer in seinem utopischen Roman "Sprung über ein Jahrhundert", der 1932 unter dem Pseudonym Francis D. Pelton in Bern erschienen ist.
[2]
Fußnote im Text: "Tendenz, d.h. ein Gesetz, dessen absolute Durchführung durch gegenwirkende Umstände aufgehalten, verlangsamt, abgeschwächt wird. (Karl Marx, Das Kapital, III, 1, Seite 215.)"
[3]
Franz Oppenheimer, Der Staat (kleine Ausgabe), Berlin 1990, Seite 131.
[4]
Franz Oppenheimer, System der Soziologie, Band 2, Der Staat, 2. Auflage: Stuttgart 1964, Seite 774.
[5]
Ebenda.
[6]
Ebenda.
[7]
Francis D. Pelton (Franz Oppenheimer), Sprung über ..., a. a. 0., Seiten 143 ff.
[8]
Constantin Frantz, Die Naturlehre des Staates, Leipzig 1858.
[9]
Franz Oppenheimer, System der Soziologie, a.a.O., Seite 778.
[10]
Francis D. Pelton (Franz Oppenheimer), Sprung über..., a. a. 0., Seiten 67 f.
[11]
Ebenda.
[12]
Ebenda. Seite 74.
[13]
Ebenda. Seiten 64 f.