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IV. Die Entfaltung des Feudalstaates

a) Die Entstehung des Großgrundeigentums

[S. 89] Wir kehren jetzt verabredetermaßen zu jenem Punkte zurück, wo der primitive Eroberungsstaat den Nebenast des Stadtstaates aussandte, um nunmehr dem Hauptaste, dem nach oben führenden, weiter zu folgen.

Wie des Stadtstaates Geschick bestimmt war durch die Agglomeration desjenigen Reichtums, um den das Staatswesen als seinen Schwerpunkt schwang, des Handelskapitals: so ist des Landstaates Geschick bestimmt durch die Agglomeration desjenigen Reichtums, um den sein Staatswesen als seinen Schwerpunkt schwingt, des Grundeigentums.

Wir haben oben die ökonomische Differenzierung im Hirtenstamm verfolgt und uns überzeugt, daß schon hier das Gesetz der Agglomeration um vorhandene Vermögenskerne von dem Augenblicke an kräftig genug wirksam wird, wo das politische Mittel in Gestalt des Raubkrieges und vor allem der Sklaverei mit ins Spiel kommt. Schon spaltete sich der Stamm in Edelinge und Gemeinfreie, unter denen als dritter Stand der politisch rechtlose Sklave sich ordnet.

Diese in den primitiven Staat mit eingebrachte Verschiedenheit des Vermögens und damit des sozialen Ranges verschärft sich nun ungemein mit der Seßhaftigkeit, durch die das private Grundeigentum geschaffen wird. Starke Unterschiede des Bodenbesitzes müssen bereits bei der ersten Entstehung des primitiven Eroberungsstaates entstehen, wenn die Gliederung des Hirtenstammes in große Sklaven- und Herdenfürsten und in kleine Gemeinfreie schon stark ausgeprägt war. Die Fürsten okkupieren mehr Land als die Kleinen.

Das geschieht zunächst ganz naiv und ohne die Spur eines Bewußtseins von der Tatsache, daß der große Grundbesitz das Mittel einer bedeutenden sozialen Macht- und Reichtumsmehrung sein wird. Davon kann keine Rede sein; auch hätten die Gemeinfreien in diesem Stadium noch sehr wohl die Macht besessen, die Bildung des Großgrundeigentums zu verhindern, wenn sie gewußt hätten, daß es seine Spitze einst gegen sie kehren könnte. Aber niemand konnte das [S. 90] ahnen: Land hat in dem Zustande, den wir beobachten, keinerlei Wert. Darum war auch nicht das Land an sich Ziel und Preis des Kampfes, sondern das Land samt den an die Scholle gefesselten Bauern, Arbeitssubstrat und Arbeitsmotor, aus deren Verbindung das Ziel des politischen Mittels erwächst, die Grundrente.

Von dem massenhaft vorhandenen unbebauten Lande aber mag sich jeder Freie so viel nehmen, wie er braucht und bebauen will oder kann. Man denkt so wenig daran, jemandem aus dem scheinbar unerschöpflichen Vorrat zuzumessen, wie aus dem Vorrat an atmosphärischer Luft.

Die Fürsten der Stammhäuser erhalten wohl in der Regel nach dem Brauch des Hirtenstammes schon von Anfang an mehr »Land und Leute« als die Gemeinfreien. Das ist ihr Fürstenrecht als Patriarchen, Feldherren und Soldherren ihres kriegsgewöhnten Gefolges aus Halbfreien, Knechten und »Klienten« oder Schutzhörigen (Flüchtlingen usw.); und das bedeutet schon einen vielleicht erheblichen primitiven Größenunterschied des Bodeneigentums. Aber das ist nicht alles. Die Fürsten brauchen auch von dem »Land ohne Leute« eine größere Fläche als die Gemeinfreien. Denn sie bringen Knechte, Sklaven mit, die nicht rechtsfähig sind und daher nach allmenschlichem Volksrecht kein Grundeigentum erwerben können: aber Land müssen sie dennoch haben, um leben zu können, und so nimmt es ihr Herr für sich, um sie darauf anzusetzen. Je reicher der Nomadenfürst war, um so größer wird der Grundherr!

Damit ist nun zunächst der Reichtum und mit ihm der soziale Rang ungleich fester und dauerhafter konsolidiert als im Hirtenstadium. Denn die größte Herde kann verloren gehen, aber Grundeigen ist unzerstörbar; und arbeitspflichtige Menschen, die ihm Rente abgewinnen, wachsen auch nach den furchtbarsten Gemetzeln schnell genug wieder nach, selbst wenn sie nicht durch Sklavenjagden in erwachsenem Zustande beschafft werden können.

Aber um diesen festen Reichtumskern agglomeriert sich nun auch das Vermögen mit ganz anderer Geschwindigkeit. So harmlos die erste Okkupation war, so muß doch alsbald die Erkenntnis sich einstellen, daß man um so mehr Renten zieht, je mehr Sklaven man hat und auf freiem Lande ansetzt. Fortan geht die Außenpolitik des Staates nicht mehr nur auf Land und Leute, sondern auch auf Leute ohne Land, die man als Sklaven heimführt, um sie neu anzusetzen. [S. 91] Führt der ganze Staat den Krieg oder Raubzug, so erhalten die Edelinge den Löwenanteil; sehr häufig aber ziehen sie auf eigene Faust, nur mit ihrem Gefolge, aus, und der daheim gebliebene Gemeinfreie erhält keinen Anteil an der Beute. Und nun geht's im Zirkel immer schneller voran mit dem Größenwachstum des adligen Grundeigentums: je mehr Sklaven der Edeling hat, um so mehr Grundrente zieht er, um so mehr kriegerische Gefolgsleute kann er unterhalten: Knechte, arbeitsscheue Kleinfreie und Flüchtlinge; und um so mehr Sklaven kann er mit ihrer Hilfe erbeuten und zur Vergrößerung seiner Rente ansetzen.

Dieser Prozeß vollzieht sich auch da, wo eine Zentralgewalt besteht, der nach allgemeinem Volksrecht die Verfügung über das unbebaute Land zusteht, und zwar nicht nur unter ihrer Duldung, sondern häufig genug unter ihrer ausdrücklichen Sanktion. Solange nämlich der Feudalherr der ergebene Vasall der Krone ist, liegt es in ihrem Interesse, ihn so stark wie möglich zu machen, um seine Kriegsmacht, die er kraft Lehenspflicht unter die Fahne des Herrschers zu stellen hat, nach Möglichkeit zu vergrößern. Um zu zeigen, daß dieser uns aus den westeuropäischen Feudalstaaten wohlbekannte Zusammenhang auch unter völlig verschiedenen Umständen zur Erscheinung kommen muß, sei eine einzige Stelle angeführt: »Die Hauptleistung auf Fidschi lag im Kriegsdienst, der bei siegreichem Ausgang zu neuer Schenkung von Land samt den darauf Wohnenden als Sklaven und damit zur Übernahme neuer Verpflichtungen führte.« [1]

Diese Anhäufung des Grundeigentums in immer gewaltigeren Massen in den Händen des Grundadels führt nun den primitiven Eroberungsstaat höherer Stufe zum »entfalteten Feudalstaat« mit ausgebildeter feudaler Staffelung.

Ich habe den Kausalzusammenhang an anderer Stelle [2] für das deutsche Stammgebiet ausführlich nach den Quellen geschildert und dort bereits mehrfach darauf hingewiesen, daß es sich um einen in sämtlichen Hauptzügen typischen Prozeß handelt. Nur so ist z.B. die Tatsache zu erklären, daß in Japan das Feudalsystem sich bis in die Einzelheiten identisch entwickelte, obgleich das Land von einer von der kaukasischen grundverschiedenen Rasse bewohnt ist und zudem [S. 92] (ein starkes Argument gegen die allzusehr zugespitzte materialistische Geschichtsauffassung) eine ganze andere technische Grundlage seiner Wirtschaft besitzt: Hackbau, nicht Pflugkultur.

Hier, wo es sich, wie überhaupt in dieser ganzen Abhandlung, nicht um das Schicksal eines einzelnen Volkes, sondern darum handelt, die überall aus der gleichen Menschennatur folgenden gleichen Grundzüge typischer Entwicklung zu zeichnen, werde ich die beiden großartigsten Beispiele des entfalteten Feudalstaates, Westeuropa und Japan, als bekannt voraussetzen, mich im wesentlichen auf weniger bekannte Fälle beschränken und auch hier das ethnographische Material vor dem historischen im engeren Sinne bevorzugen.

Der Prozeß, den wir jetzt darzustellen haben, ist eine allmähliche sich vollziehende grundstürzende Umgestaltung der politischen und sozialen Gliederung des primitiven Eroberungsstaates: die Zentralgewalt verliert ihre politische Macht an den Grundadel, der Gemeinfreie sinkt, und der »Untertan« steigt.

b) Die Zentralgewalt im primitiven Eroberungsstaat

Der Patriarch des Hirtenstammes hat bei allem Ansehen, das ihm sein Heerführer- und Priesteramt gewährt, doch gemeinhin keinerlei despotische Gewalt, und ebenso hat der »König« der kleinen, seßhaft gewordenen Völkerschaft ganz allgemein nur sehr beschränkte Macht. Dagegen pflegt die erste Zusammenfassung zahlreicher Hirtenstämme zu einer gewaltigen Heeresmasse durch kriegerische Genies zumeist in despotischen Formen zu erfolgen, [3] wie denn überhaupt im Kriege das homerische eine selbst von den unbändigsten Völkern anerkannte und betätigte Wahrheit ist. Der freie primitive Jäger leistet seinem gewählten Häuptling auf dem Kriegspfade unbedingten Gehorsam; die freien Kosaken der Ukraine, die in Friedenszeiten keinerlei Autorität anerkannten, räumten im Kriege ihrem [S. 93] Hetman die volle Gewalt über Tod und Leben ein. Dieser Gehorsam dem Feldherrn gegenüber ist ein gemeinsamer Zug aller echten Krieger-Psychologie.

Wie an der Spitze der großen Nomadenzüge allmächtige Despoten stehen: ein Attila, ein Omar, ein Dschinghis-Khan, ein Tamerlan, ein Mosilikatse, ein Ketschwäyo, so pflegt auch in den, aus kriegerischer Zusammenschweißung einer Anzahl von primitiven Feudalstaaten entstandenen, Großstaaten zu Anfang eine starke Zentralgewalt zu bestehen. Als Beispiele seien Sargon, Cyrus, Chlodwig, Karl der Große, Boleslaw der Rote genannt. Zuweilen, namentlich solange der Großstaat seine - geographische oder soziologische - Grenze noch nicht erreicht hat, bleibt die Zentralgewalt in den Händen einer Anzahl kräftiger Monarchen noch stark, und ihre Macht kann bis zum tollsten Despotismus und Cäsarenwahnsinn ausarten: namentlich das Zweistromland und Afrika bieten dafür charakteristische Beispiele. Wir können auf die, für den allgemeinen Verlauf übrigens wenig bedeutungsvolle Regierungsform dieser Staaten hier nur kurz eingehen; nur so viel sei gesagt, daß die Ausbildung der despotischen Regierungsform vor allem davon abhängt, welche religiöse Stellung der Herrscher neben dem Feldherrenamt einnimmt, und ob er das Handelsmonopol besitzt oder nicht.

Der Cäsaropapismus neigt überall dazu, die krasseren Formen des Despotismus auszubilden, während bei Teilung der geistlichen und weltlichen Gewalt ihre Träger sich gegenseitig hemmen und mäßigen. Charakteristisch dafür sind die Verhältnisse in den Malaienstaaten Insulindiens, echten »Seestaaten«, deren Entstehung ein genaues Gegenstück zu den griechischen Seestaaten bildet. Hier ist im allgemeinen der Fürst gerade so machtlos, wie etwa der König zu Beginn der uns bekannten attischen Geschichte. Die Gauhäupter (in Sulu die Datto, in Atschin die Panglima) haben, wie in Athen, die Gewalt. Wo aber, »wie in Tobah dem Herrscher noch religiöse Motive die Stellung eines kleinen Papstes einräumen, wendet sich das Blatt. Die Panglima hängen dann ganz vom Radscha ab, sind nur Beamte« [4]. Es darf hier an die bekannte Tatsache erinnert werden, daß die aristokratischen Gauhäuptlinge Athens und Roms, als sie das alte Königtum abschafften, doch wenigstens den alten Titel einem sonst machtlosen Mitträger der Gewalt verliehen: die Götter müssen [S. 94] ihre Opfer in gewohnter Weise haben. Aus demselben Grunde bleibt häufig der Nachkomme des alten Stammkönigs als im übrigen ganz ohnmächtiger Würdenträger erhalten, wenn schon längst die eigentliche Regierungsgewalt auf einen Kriegshäuptling übergegangen ist: wie im späteren Merowingerreiche der karolingische Hausmeier neben dem »rex crinitus« aus dem Geschlecht Merowechs, so steht in Japan der Shogun neben dem Mikado, und im Inkareich der Inkaheerführer neben dem mehr und mehr auf die priesterlichen Funktionen beschränkten Huillcauma. [5]

Außer durch das Oberpriesteramt erhält die Macht des Staatsoberhauptes häufig eine gewaltige Vermehrung durch das Handelsmonopol, das dem Häuptling auf primitiver Stufe zumeist zusteht: eine natürliche Folge der oben von uns geschilderten Anfänge des friedlichen Handels aus Gastgeschenken. Solch Handelsmonopol hatte z. B. Salomo [6].

Die Negerhäuptlinge sind in der Regel »Monopolisten des Handels« [7]. So auch der Sulukönig [8]. Bei den Galla ist das Oberhaupt, wo es anerkannt ist, »selbstverständlich auch der Handelsmann seines Stammes; keiner seiner Untertanen darf direkt mit den Fremden handeln«. [9] Bei den Barotse und Mabunda ist der König »streng nach dem Rechte der einzige Kaufmann seines Landes«. [10]

Ratzel würdigt die Bedeutung dieser Tatsache treffend wie folgt: »Mit der Zauberkraft verbindet sich zur Steigerung der Macht des Häuptlings das Monopol des Handels. Indem der Häuptling der Vermittler des Handels ist, bringt er alles in seine Hand, was seinen Untertanen begehrenswert ist und wird der Spender guter Gaben, der Erfüller der heißesten Wünsche. In diesem System liegt sicherlich [S. 95] eine Quelle großer Macht.« [11] Wenn sich in Eroberungsgebieten, wo die Regierungsgewalt an sich schon stärker zu sein pflegt, das Handelsmonopol noch dazu gesellt, kann das Königtum sehr mächtig werden.

Im übrigen scheint die Regel zu sein, daß selbst in den äußerlich krassesten Fällen von Despotismus doch kein monarchischer Absolutismus besteht. Der Herrscher kann ungestraft gegen seine Untertanen wüten, namentlich gegen die unterworfene Klasse: aber er ist doch durch feudale Mitregierung stark beschränkt. Ratzel bemerkt dazu im allgemeinen: »Der sogenannte 'Hofstaat' afrikanischer oder altamerikanischer Fürsten ist wohl immer der Rat (...) Die Willkürherrschaft, deren Spuren wir dennoch überall bei Völkern auf niederer Stufe begegnen, auch wo die Regierungsform republikanisch ist, hat ihren Grund nicht in der Stärke des Staates oder Häuptlings, sondern in der moralischen Schwäche des Einzelnen, der fast widerstandslos der über ihm waltenden Macht anheimfällt.« [12] Das Königtum der Sulu ist ein beschränkter Despotismus: sehr mächtige Minister (Induna), bei anderen Kaffernstämmen ein Rat, der häufig Volk und Fürsten beherrscht, stehen ihm zur Seite [13]. Trotzdem wurde »unter Tschaka jedes Niesen und Räuspern in Gegenwart des Tyrannen und jedes trockene Auge beim Tode eines Anverwandten des Königshauses mit dem Tode bestraft« [14]. Ganz dasselbe gilt von den durch ihre furchtbare Blutwirtschaft berüchtigten westafrikanischen Reichen Dahomey und Ashanti. »Trotz der Verwüstung der Menschenleben in Kriegen, Sklavenhandel und Menschenopfer herrschte nirgends unbeschränkter Despotismus. (...) Bowditch hebt die Ähnlichkeit des (in Aschanti bestehenden ständischen) Systems mit dem persischen hervor, wie Herodot es beschreibt.« [15]

Wir müssen uns, um es nochmals zu betonen, sehr hüten, Despotismus und Absolutismus gleichzusetzen. Auch in den westeuropäischen Feudalstaaten war des Herrschers Gewalt über Leben und Tod häufig ganz unbeschränkt, und dennoch war er ohnmächtig, wenn die »Großen« gegen ihn waren. Solange er die Klassengliederung nicht [S. 96] antastet, mag er seiner Grausamkeit die Zügel schießen lassen und sogar einmal einen der großen Herren opfern: aber wehe ihm, wenn er es wagen sollte, die ökonomischen Vorrechte seiner Großen anzutasten. Sehr charakteristisch ist diese nach der einen Seite (rechtlich) ganz freie, nach der anderen (politisch) engbegrenzte Macht in den großen ostafrikanischen Reichen zu studieren gewesen: »Die Regierung der Waganda und Wanyoro ist so, daß der Theorie nach der König das ganze Land beherrscht, doch ist dies nicht viel mehr als eine Scheinregierung, denn in Wahrheit gehört das Land den obersten Häuptlingen des Reiches. Zu Mtesas Zeit verkörperten sie den Widerstand des Volkes gegen fremde Einflüsse, und Muanga fürchtet sich vor ihnen, wenn er Neues einführen möchte. Wenn nun auch das Königtum in Wirklichkeit beschränkt ist, so kommt ihm doch eine imposante Stellung im Äußerlichen, im Formalen, zu. Der Masse des Volkes steht der Herrscher als unbeschränkter Gebieter gegenüber, denn er verfügt frei über Leben und Tod und fühlt sich nur im engen Kreise der obersten Höflinge gebunden.« [16]

Und wieder ganz dasselbe gilt, um auch den letzten der großen staatsbildenden Kreise zu nennen, von den Ozeaniern: »Nirgends fehlt ganz eine repräsentative Vermittlung zwischen Fürst und Volk. (...) Das aristokratische Prinzip korrigiert (...) das patriarchalische. Daher beruht der hochgesteigerte Despotismus mehr auf Klassen- und Kastendruck als auf dem übermächtigen Willen eines Einzelnen.« [17]

c) Die politische und soziale Zersetzung des primitiven Eroberungsstaates

Wir können an dieser Stelle nicht näher auf die unzähligen Abschattungen eingehen, in denen sich die patriarchalisch-aristokratische (resp. plutokratische) Mischung der Regierungsform des primitiven Eroberungsstaates für die ethnographisch-historische und juristische Betrachtung darstellt. Sie ist auch für den Verlauf der Entwicklung von geringster Bedeutung.

[S. 97] So groß nämlich auch die Machtgewalt des Herrschers im Anfang sein mag, ein unvermeidbares Geschick zersplittert sie dennoch in kurzer Zeit, und zwar um so schneller, je größer jene Macht, d.h. je größer das Gebiet des primitiven Eroberungsstaates höherer Stufe war.

Schon die Machtvermehrung der einzelnen Adligen durch den oben geschilderten Prozeß der immer vermehrten Okkupation und Besiedelung des ungenützten Landes mittels neu erworbener Sklaven kann ihn mächtiger machen, als der Zentralgewalt lieb sein kann. »Wenn in einem Clan«, berichtet Mommsen von den Kelten, [18] »der etwa 80 000 Waffenfähige zählte, ein einziger Adliger mit 10 000 Knechten, ungerechnet die Hörigen und die Schuldner, auf dem Landtage erscheinen konnte, so ist es einleuchtend, daß ein solcher mehr ein unabhängiger Dynast war, als ein Bürger seines Clans.« Und ähnliches mag für den »Heiu« der Somal gelten, den »großen Grundbesitzer, der Hunderte von Familien auf seinem Boden in Abhängigkeit hält, so daß man sich bei den Somal an unsere mittelalterlichen Feudalzustände erinnert finden könnte«. [19]

Wenn solche Übermacht einzelner Grundherren schon im primitiven Eroberungsstaate niederer Stufe entstehen kann, so erreicht sie doch ihren höchsten Grad erst im Eroberungsstaat höherer Stufe: im feudalen Großstaat; und zwar durch die Machtvermehrung, die der Großgrundbesitz durch die Amtsgewalt erhält.

Je mehr sich der Staat dehnt, um so mehr Amtsgewalt muß die Zentrale den Verwaltern der durch Krieg und Aufstände am meisten bedrohten Grenzbezirke der Marken übertragen. Ein solcher Beamter muß die höchste kriegerische Machtbefugnis mit den Funktionen eines obersten Richters und Verwaltungsbeamten vereinen, um seinen Amtsbezirk mit Sicherheit dem Staat erhalten zu können. Kommt er mit ganz wenigen Zivilbeamten aus, so braucht er doch eine ständige Kriegsmacht. Wie soll sie besoldet werden? Steuern, die zur Zentralstelle zusammenfließen, um wieder über das Land verteilt zu werden, kennt (vielleicht mit einer einzigen Ausnahme, von der unten zu sprechen sein wird) nur der geldwirtschaftlich entfaltete Staat. Von Geldwirtschaft und Geldsteuern kann aber hier, im naturalwirtschaftlichen »Landstaate«, noch nicht die Rede sein. Darum bleibt der [S. 98] Zentrale nichts anderes übrig, als den Grafen, oder Kastellan, oder Satrapen auf die Naturaleinkünfte seines Amtsbezirkes anzuweisen. Er zieht die Abgaben der Untertanen an sich, verfügt über ihre Fronden, erhält die Sporteln und Strafleistungen an Vieh usw. und hat dafür die bewaffnete Macht zu unterhalten, bestimmte Truppenmengen zur Verfügung der Zentrale zu stellen, Straßen- und Brückenbauten auszuführen, gelegentlich den Herrscher samt seinem Gefolge oder seine »Königsboten« zu verpflegen, und schließlich eine bestimmte Abgabe in hochwertigen oder sonst leicht transportablen Gütern an den Hof zu liefern: Pferde, Rinder, Sklaven, Edelmetalle, Wein usw.

Mit anderen Worten: er erhält ein ungeheuer großes Dienstlehen und wird schon dadurch, selbst wenn er nicht, was meistens der Fall sein wird, schon ohnehin der Größte im Lande war, der mächtigste Grundherr seines Amtsbezirkes. Daß er als solcher genau das Gleiche tut, wie seine nicht beamteten Standesgenossen, nur in noch viel größerem Maßstabe, nämlich immer neues Land mit immer neuen Hörigen besetzt, um seine Kriegsmacht immer mehr zu verstärken, ist selbstverständlich und muß von der Zentrale sogar gewünscht und gefördert werden. Denn das ist ja das Verhängnis dieser Staaten, daß sie die lokalen Mächte selbst groß füttern müssen, die sie verschlingen werden.

Es kommen Gelegenheiten, wo der Markgraf Bedingungen stellen kann, wenn man seine Kriegshilfe verlangt, namentlich in den hier nie fehlenden Erbfolgefehden. Er erlangt irgendeine wichtige Konzession, vor allen anderen die formelle Erblichkeit seines Amtslehens, das nun dem eigentlichen Feudallehen völlig gleichsteht. So wird er allmählich immer selbständiger, und das trübe Wort des Muschik: »der Himmel ist hoch und der Zar weit«, wird unter jedem Himmel Wahrheit. Ich gebe ein charakteristisches Beispiel aus Afrika: »Das Lundareich ist ein absoluter Lehnsstaat. Die Häuptlinge (Muata, Mona, Muene) können in allen inneren Angelegenheiten selbständig handeln, solange es dem Muata Jamvo gefällt. Gewöhnlich schicken die großen und fernerwohnenden Häuptlinge einmal im Jahre ihre Tributkarawanen nach der Mussumba; aber weitab wohnende unterlassen wohl für längere Zeit jede Tributzahlung, während die kleineren Häuptlinge in der Nähe der Residenz sogar mehrmals im Jahre Tribut senden.« [20]

[S. 99] Nichts kann deutlicher zeigen als diese Mitteilung, wie sehr in diesen lose zusammengehaltenen Naturalstaaten mit ihrem unzureichenden Transportsystem die räumliche Entfernung politisch wirksam ist. Man könnte fast sagen, daß die Selbständigkeit der Feudalherren wächst wie das Quadrat der Entfernung vom Sitze der Zentralgewalt. Die Krone muß ihre Dienste immer teurer erkaufen, muß ihnen eines der gesamtstaatlichen Hoheitsrechte nach dem anderen formell übertragen, oder muß es dulden, wenn sie es nehmen: die Erblichkeit der Lehen, Straßen- und Handelsrecht (auf höherer Stufe auch das Münzrecht), die Gerichtshoheit, die staatlichen Fronrechte und die Verfügung über den Kriegsdienst der Freien im Lande.

So gelangen die Machthaber der Grenzprovinzen allmählich zu immer größerer, zuletzt zu voller tatsächlicher Selbständigkeit, wenn auch das formale Band der Lehnshoheit die neu entstandenen Fürstentümer noch lange scheinbar zusammenhalten kann. Dem Leser drängen sich die Belege für diesen typischen Vorgang auf; die ganze mittelalterliche Geschichte ist eine einzige Kette davon; nicht nur das Merowinger- und das Karolinger-Reich, nicht nur Deutschland, sondern auch Frankreich, Italien, Spanien, Polen, Böhmen, Ungarn und auch Japan und China [21] haben, nicht ein-, sondern mehrfach, diesen Zerfallsprozeß durchgemacht. Nicht minder die Feudalstaaten im Zweistromlande: die hier einander ablösenden Großstaaten bersten immer wieder auseinander, um sich immer wieder zusammenzuballen. Von Persien heißt es ausdrücklich: »Einzelne Staaten und Provinzen erlangten durch glücklich vollbrachten Abfall auf längere oder kürzere Zeit die Freiheit, und der »Großkönig« in Susa hatte nicht immer die Macht, sie zum Gehorsam zurückzuführen; in anderen herrschten Satrapen oder kriegerische Häuptlinge willkürlich, treulos und gewalttätig entweder auf eigene Hand oder als zinspflichtige Teilfürsten oder Unterkönige des Großherrschers. Eine Anhäufung von Staaten und Landschaften ohne gemeinsames Recht, ohne geregelte Verwaltung, ohne gleichmäßiges Gerichtswesen, ohne Ordnung und Gesetzeskraft, ging das persische Weltreich unrettbar seiner Auflösung entgegen.« [22]

Dem Nachbar im Nillande erging es nicht anders: »Aus den Okkupatorenfamilien, den freien Grundherren, die wohl nur dem Könige [S. 100] zinsten, gehen die Fürsten hervor, welche über gewisse Landstriche, Gaue (...) geboten. Diese Gaufürsten regieren ein von ihrem Familieneigen getrenntes besonderes Amtsland.«

»Spätere kriegerische Ereignisse mit glücklichem Ausgang, die vielleicht die Lücke zwischen dem alten und mittleren Reich füllen, verbunden mit der Einbringung von Kriegsgefangenen, die als Arbeitskräfte verwendet werden konnten, veranlaßten eine strengere Ausnützung der Unterworfenen, eine genaue Festsetzung der Abgaben. Die Macht der Gaufürsten steigt im mittleren Reich zu gewaltiger Höhe empor, und große Hofhaltungen werden von ihnen eingerichtet, der Prunk des Königshofes imitiert.« [23] »Beim Sinken der königlichen Autorität in der Verfallszeit nützen die höheren Beamten ihre Macht für persönliche Zwecke, um ihre Ämter in ihren Familien erblich zu machen.« [24]

Aber natürlich ist auch dieses geschichtliche Gesetz nicht auf die »geschichtlichen« Völker beschränkt. »Auch außerhalb Radschistans«, sagt Ratzel von den indischen Feudalstaaten, »erfreuten sich die Adligen oft eines großen Maßes von Unabhängigkeit, so daß selbst in Haiderabad, nachdem sich der Nizam die Alleinherrschaft angeeignet hatte, die Umara oder Nabobs eigene Truppen, unabhängig von der Armee des Nizam, hielten. Den in neuerer Zeit höher gesteigerten Anforderungen in der Verwaltung indischer Staaten sind seltener noch als die großen Fürsten diese kleineren nachgekommen.« [25]

Und gar in Afrika kommen und vergehen die feudalen Großstaaten wie Blasen, die aus dem Strom des ewig gleichen Geschehens auftauchen und wieder zerplatzen. Das gewaltige Aschantireich ist binnen anderthalb Jahrhunderten auf ein Fünftel seines Gebietes eingeschrumpft [26], und viele der Reiche, mit denen die Portugiesen zusammenstießen, sind seitdem spurlos verschwunden. Und doch waren auch das starke Feudalreiche: »Pomphafte und grausame Negerreiche, wie Benin, Dahomey oder Aschanti, bilden in ihrer Umgebung politisch desorganisierter Stämme manche Vergleichspunkte [S. 101] mit dem alten Peru oder Mexiko. Der streng gesonderte Erbadel der Mfumu, dem hauptsächlich die Distriktsverwaltung oblag, und daneben der vergänglichere Standesadel bildeten in Loango starke Säulen des Herrschertums.« [27]

Ist derart das einstige Großreich in eine Anzahl staatsrechtlich oder nur faktisch voneinander unabhängiger Teilstaaten zerfallen, so beginnt der alte Prozeß von neuem. Der Große frißt den Kleinen, bis ein neues Großreich entstanden ist. »Die größten Grundherren werden später Kaiser«, sagt Meitzen lakonisch von Deutschland. [28] Aber auch diese große Hausmacht verflüchtigt, zersplittert sich an der Notwendigkeit, die Grundherrschaft an kriegerische Vasallen zu verlehnen. »Die Könige selbst hatten sich dabei verschenkt; ihr großer Grundbesitz im Delta war zerronnen«, sagt Schneider (l. c. p. 38) von den Pharaonen der sechsten Dynastie. Und ebenso verarmte im fränkischen Reiche die Hausmacht der Merowinger und Karolinger, in Deutschland die der Sachsen und der Staufer. [29] Wir brauchen weitere Belege dafür nicht anzuführen; sie sind in jedermanns Besitz.

Welche Kräfte den primitiven Eroberungsstaat aus diesem Hexenkreis, in dem die Zusammenballung mit dem Zerfall ohne Ende abwechselt, schließlich befreit haben, werden wir unten betrachten. Zunächst aber haben wir nach der politischen die soziale Seite dieses geschichtlichen Vorganges zu betrachten. Er verändert die Klassengliederung in der einschneidendsten Weise.

Mit furchtbarer Gewalt trifft er überall die Gemeinfreien, die untere Schicht der Herrengruppe. Sie versinken in Hörigkeit. Ihr Verfall muß mit dem der Zentralgewalt parallel gehen; denn beide, gleichmäßig von der um sich greifenden Macht der großen Grundherren bedroht, sind natürliche Verbündete. Die Krone hält den Grundherrn so lange in der Hand, wie das Aufgebot der Gemeinfreien des Bezirkes seiner Garde, seinem »Gefolge«, überlegen ist. Aber die fatale Notwendigkeit, die wir schilderten, zwingt die Krone, die Bauern dem Junker auszuliefern, indem sie seine Hausmacht mehrt; und im Augenblick, wo seine Garde stärker wird, als das Gau-Aufgebot, ist der freie Bauer geliefert. Wo der Grundherr die staatlichen Hoheitsrechte delegiert erhalten hat, d.h. zum mehr oder weniger unabhängigen [S. 102] Landesherrn geworden ist, da geschieht die Niederwerfung des Freien wenigstens zum Teil unter scheingesetzlichen Formen: man ruiniert ihn durch den Kriegsdienst, der um so häufiger gefordert wird, je mehr das dynastische Interesse der Landesherren nach neuem Land und neuen Leuten strebt; man mißbraucht seine Fronpflicht, man mißbraucht die Justiz.

Den Rest aber gibt dem Stande der Gemeinfreien die formelle Delegation oder tatsächliche Usurpation des wichtigsten Kronregals, der Verfügung über das noch nicht okkupierte Land. Das gehört ursprünglich dem »Volke«, d.h. den Freien zur gesamten Hand; aber nach einem wohl überall geltenden Urrecht hat der Patriarch die Verfügung darüber. Auch dieses Verfügungsrecht geht mit den anderen Kronrechten an den »Landesherrn« über - und damit hat er das Mittel in die Hand bekommen, den Rest der Freien zu erdrosseln. Er erklärt das gesamte noch unbebaute Land für sein Eigentum, sperrt es gegen die Okkupation freier Elemente, gewährt nur denen noch den Zugang, die seine Oberherrschaft anerkennen, d.h. sich in irgendeine Art von Abhängigkeit, von Hörigkeit begeben.

Das ist der letzte Nagel zum Sarge der Gemeinfreiheit. Bisher war die Gleichheit in der Vermögenslage einigermaßen gewährleistet. Und wenn der Bauer zwölf Söhne hatte: das Erbgut blieb unzersplittert, denn elf rodeten sich neue Hufen in der Gemeinen Mark oder dem noch nicht an Gemeinden aufgeteilten Volkslande. Das ist fortan unmöglich; die Hufen zersplittern, wo viele Kinder aufgezogen wurden, andere werden zusammengelegt, wo Erbsohn und Erbtochter die Ehe eingingen: jetzt gibt es ja »Arbeiter«, die die größere Fläche bestellen helfen, nämlich jene Halb-, Viertel- und Achtelhufner. So wird die freie Dorfschaft in Reiche und Arme zerklüftet; schon das löst das Band, das bisher das Bündel Pfeile unzerbrechlich machte; und wenn dann gar Unfreie in die Dorfgemeinde eindringen, weil ein allzu arg geplagter Genosse, dem Drucke weichend, sich dem Herrn »kommendierte«, oder weil der Herr einen durch Tod oder Überschuldung des Inhabers erledigten Hof mit einem seiner Hörigen besetzte, dann ist jeder soziale Zusammenhalt gelöst, die durch Klassen- und Vermögensgegensätze zerspellte Bauernschaft dem Machthaber wehrlos preisgegeben.

Im übrigen verläuft der Vorgang auch da nicht anders, wo der Magnat keine staatlichen Hoheitsrechte vorschützen kann; dann tut [S. 103] offenbare Gewalt, frecher Rechtsbruch die gleichen Dienste, und der ferne, ohnmächtige Herrscher, auf den guten Willen der Rechtsbrecher und Gewalttäter angewiesen, hat weder Macht noch Möglichkeit, einzugreifen.

Auch für diese Dinge braucht man kaum Beispiele anzuführen. In Deutschland hat die freie Bauernschaft diesen Vorgang der Enteignung und Deklassierung wenigstens dreimal durchgemacht. Einmal in keltischer Zeit [30]. Das zweitemal traf der Niederbruch die freien Bauern des Stammlandes im neunten und zehnten Jahrhundert, und die dritte Tragödie derselben Art spielte sich vom fünfzehnten Jahrhundert an im Kolonisationsgebiet des ehemals slawischen Landes ab [31]. Am schlimmsten ging es den Bauern dort, wo überhaupt keine monarchische Autorität bestand, deren natürliche Interessensolidarität mit den Untertanen doch fast überall mildernd wenigstens auf die äußere Form der Unterdrückung einwirkte, nämlich in den »Adelsrepubliken«. Das keltische Gallien zu Cäsars Zeit bildet eines der frühesten Beispiele. Hier »vereinigten die großen Familien in ihrer Hand die ökonomische, kriegerische und politische Übermacht. Sie monopolisierten die Pachtungen der nutzbaren Rechte des Staates. Sie nötigten die Gemeinfreien, die die Steuerlast erdrückte, bei ihnen zu borgen und zuerst tatsächlich als Schuldner, dann rechtlich als Hörige sich ihrer Freiheit zu begeben. Sie entwickelten bei sich das Gefolgwesen, d.h. das Vorrecht des Adels, sich mit einer Anzahl gelöhnter reisiger Knechte, sogenannter Ambakten, zu umgeben und damit einen Staat im Staate zu bilden; und gestützt auf diese ihre eigenen Leute trotzten sie den gesetzlichen Behörden und dem Gemeindeaufgebot und sprengten tatsächlich das Gemeinwesen (...) Schutz fand nur noch der hörige Mann bei seinem Herrn, den Pflicht und Interesse nötigten, die seinem Klienten zugefügte Unbill zu ahnden; die Freien zu beschirmen, hatte der Staat die Gewalt nicht mehr, weshalb diese zahlreich sich als Hörige einem Mächtigen zu eigen gaben« [32] Genau die gleichen Verhältnisse finden wir anderthalb Jahrtausende später in Kurland, Livland, Schwedisch-Pommern, Ost-Holstein, Mecklenburg [S. 104] und namentlich in Polen. Wie dort dem Landjunker der freie Bauer, so erliegt ihm hier der freie adlige Schlachziz. »Die Weltgeschichte ist eintönig«, sagt Ratzel. Hat doch derselbe Prozeß schon im alten Ägypten die Bauernschaft niedergeworfen: »Die nach einem kriegerischen Zwischenspiel folgende Periode des mittleren Reiches bringt auch den Bauern des Südens eine Verschlechterung ihrer Lage. Die Zahl der freien Herren sinkt, während ihr Landbesitz und ihre Macht steigt. Die Abgaben der Bauern werden auf dem Wege einer genauen Qualifikation der Güter durch eine Art von Kataster streng festgesetzt. Unter diesem Drucke strömen viele Bauern wohl den Fronhöfen und Städten der Gaufürsten zu, um sich dort als Knechte, Handwerker oder selbst als Beamte dem Wirtschaftsorganismus der Höfe einzuordnen. So tragen sie im Verein mit etwaigen Kriegsgefangenen dazu bei, die fürstliche Domanialverwaltung zu erweitern, und das Verjagen von Bauern aus ihren Besitzungen, wie es damals üblich gewesen sein dürfte, zu fördern« [33]

Nichts kann klarer für die Unvermeidlichkeit dieses Prozesses zeugen, als das Beispiel des Römerreiches. hier ist der Begriff der Hörigkeit bereits verschollen, als es zum erstenmal in voller »Neuzeit« die Bühne betritt: nur die Sklaverei ist bekannt. Und dennoch versinken anderthalb Jahrtausende später die freien Bauern wieder in echte Hörigkeit, nachdem Rom zu einem übermäßig gedehnten Großstaat geworden ist, dessen Grenzbezirke sich mehr und mehr vom Zentrum gelöst haben. Die großen Grundbesitzer, denen die niedere Gerichtsbarkeit und die Polizeiverwaltung auf ihren Gütern übertragen ist, haben »ihre Hintersassen, auch wenn sie ursprünglich freie Eigentümer von ager privatus vectigalis waren, in eine hofrechtliche Stellung gebracht«, haben »in einer Art von Immunität die faktische glebae adscriptio entwickelt« [34]. Die einwandernden Germanen konnten diese Feudalordnung in Gallien und den anderen Provinzen fertig übernehmen. Schon hier war der ehemals so ungeheure Unterschied zwischen Sklaven und freien Kolonen völlig verwischt, in der wirtschaftlichen Lage zuerst und natürlich bald auch in der Rechtsverfassung.

In gleichem Maße, wie überall der Gemeinfreie in politische und wirtschaftliche Abhängigkeit von den großen Grundherren der [S. 105] Nachbarschaft, in Hörigkeit verfällt, steigt die ehemals unterworfene Schicht empor Die beiden Schichten kommen sich entgegen, treffen sich auf halbem Wege und verschmelzen zuletzt. Was wir soeben an den freien Kolonen und den Ackersklaven des späten Rom beobachtet haben, vollzieht sich überall. So verschmelzen in Deutschland die Gemeinfreien mit den ehemaligen Hörigen zu der wirtschaftlich und rechtlich einheitlichen Schicht der »Grundholden«. [35]

Die Hebung der ehemaligen »Untertanen«, nennen wir sie der Kürze halber die »Plebs«, folgt mit der gleichen Konsequenz, wie der Niedergang der Freien, aus der Grundvoraussetzung, auf der diese ganze Staatsordnung beruht, aus der Agglomeration des Grundvermögens in immer wenigeren Händen.

Die Plebs ist der natürliche Gegner der Zentralgewalt - denn diese ist ihr Besieger und Besteuerer -; und der Gemeinfreien - denn sie wird von ihnen verachtet und politisch unterdrückt, wie wirtschaftlich zurückgedrängt. Der große Magnat ist ebenfalls der natürliche Gegner der Zentralgewalt - denn sie ist das Hindernis auf seinem Wege zur staatlichen Unabhängigkeit; und ist ebenfalls der natürliche Gegner der Gemeinfreien, die nicht nur die Stützen der Zentralgewalt bilden, sondern auch mit ihrem Besitz räumlich die Ausdehnung seiner Herrschaft hindern und mit ihrem Anspruch auf Gleichheit der Rechte seinem Fürstenstolz unbequem sind. Übereinstimmung der politischen und sozialen Interessen muß den Landesfürsten und die Plebs zu Bundesgenossen machen; jener kann nur zur vollen Unabhängigkeit kommen, wenn er bei seinen Machtkämpfen gegen Krone und Gemeinfreie über zuverlässige Krieger und willige Steuerzahler verfügt; die Plebs kann wirtschaftlich und gesellschaftlich nur dann aus ihrer Pariahstellung erlöst werden, wenn die verhaßten, übermütigen Freien niedergerissen werden.

Es ist die Solidarität zwischen dem Fürsten und seinen Untertanen, der wir hier zum andernmal begegnen. Das erstemal fanden wir sie schwach angedeutet schon in unserem zweiten Stadium der Staatsbildung. Diese Solidarität veranlaßt den Halbfürsten, seine hörigen Hintersassen mit ehensoviel Milde zu behandeln, wie die Freien seines Gebietes mit Härte: um so williger werden sie für ihn fechten und steuern, und um so williger werden die geplackten Freien seinem Druck nachgeben, namentlich da ihre Teilsouveränität mit dem Verfall [S. 106] der Zentralgewalt doch nur der Schatten eines Wortes geworden ist. Hier und da - in Deutschland gegen das Ende des zehnten Jahrhunderts geschah es mit vollem Bewußtsein [36] - übt der Landesfürst ein besonders »mildes« Regiment, um die Untertanen benachbarter Machthaber zu sich herüberzuziehen und sich selbst dadurch an militärischer und steuerlicher Kraft um ebensoviel zu stärken, wie jene, seine natürlichen Gegner, zu schwächen. So erhält die Plebs formell oder faktisch mehr und mehr Rechte, besseres Besitzrecht, wohl auch Selbstverwaltung und eigene Gerichtsbarkeit in Gemeindeangelegenheiten, und steigt derart in gleichem Schrittmaß aufwärts, wie die Gemeinfreien abwärts, bis beide sich unterwegs treffen und zu einer rechtlich und wirtschaftlich ungefähr gleichen Schicht verschmelzen. Halb Hörige, halb Staatsuntertanen, bilden sie eine charakteristische Bildung des Feudalstaates, der noch keine klare Scheidung zwischen Staats- und Privatrecht kennt: eine unmittelbare Folge aus seiner historischen Entstehung, die staatliche Herrschaft um ökonomischer Privatrechte halber setzte.

d) Die ethnische Verschmelzung

Die rechtliche und soziale Verschmelzung der gesunkenen Freien und der gehobenen Plebs wird nun selbstverständlich auch zur ethnischen Durchdringung. Wurde zuerst dem Unterworfenen das commercium und connubium streng verwehrt, so findet die Mischung jetzt kein Hindernis mehr; im Dorfe entscheidet nicht mehr das Herrenblut, sondern der Reichtum über die soziale Klasse. Und oft genug mag der reinblütige Abkömmling der Hirtenkrieger bei einem ebenso reinblütigen Nachkommen der Leibeigenen den Ackerknecht spielen müssen. Die soziale Gruppe der Untertanen ist jetzt zusammengesetzt aus einem Teil der alten ethnischen Herrengruppe und einem Teil der alten Untertanengruppe.

Nur aus einem Teil der letztgenannten! Denn ihr anderer Teil ist jetzt mit dem anderen Teil der alten ethnischen Herrengruppe ebenfalls zu einer einheitlichen sozialen Gruppe verschmolzen. Das heißt: ein Teil der Plebs ist nicht nur bis zu dem Punkte aufgestiegen, bis zu [S. 107] dem die Masse der Gemeinfreien absank, sondern, weit darüber hinaus, bis sie die volle Rezeption in die jetzt ebenso ungeheuer gehobene wie an Zahl verminderte Herrengruppe erlangte.

Auch das ist ein universalgeschichtlich allgemeiner Vorgang, weil er überall mit gleicher zwingender Gewalt aus den Bedingungen der feudalen Herrschaftsordnung folgt. Der primus inter pares, der, sei es als Inhaber der Zentralgewalt, sei es als örtlicher Machthaber, die Fürstenstellung innehat, braucht gefügigere Werkzeuge seiner Herrschaft als seine »Pairs« es sind. Diese vertreten eine Klasse, die er herabdrücken muß, wenn er selbst steigen will, und das will jeder, muß jeder wollen, denn Machtstreben ist hier identisch mit Selbsterhaltungsstreben. In diesem Streben stehen ihm die widerhaarigen, steifnackigen Vettern und Edelinge im Wege - und darum finden wir an jeder Hofhaltung, vom Großkönig des mächtigsten Feudalreiches bis herab zum Herrn einer fast rein privaten ,,Grossoikenwirtschaft«, Männer dunkler Herkunft als vertraute Beamte neben den Vertretern der Herrengruppe, die häufig unter der Maske fürstlicher Beamten eigentlich »Ephoren« sind, Mitinhaber der Fürstenmacht als Bevollmächtigte ihrer Gruppe. Ich erinnere an die Induna am Hofe des Bantukönigs. Kein Wunder, wenn der Fürst sich, lieber als diesen lästigen und anspruchsvollen Ratgebern, Männern anvertraut, die ganz seine Geschöpfe sind, deren ganze Stellung unlösbar mit der seinen verknüpft ist, die sein Sturz mit ins Verderben reißen muß.

Auch hier wieder sind historische Belege fast überflüssig. Jedermann weiß, daß an den Höfen der westeuropäischen Feudalreiche neben Verwandten des Königs und einigen edlen Vasallen auch Elemente der Untergruppe in hohe Stellungen einrückten: Geistliche, [37] schwertgewandte Plebejer. Zu den Antrustiones Karls des Großen stellten alle Rassen und Völker seines Reiches ihr Kontingent. Auch in der Dietrichssage spiegelt sich dieses Emporkommen tapferer Söhne der unterworfenen Völker. Ich bringe auch hier einige, weniger bekannte Belege:

Im Pharaonenland fand sich bereits im alten Reiche neben der Reichsbeamtenschaft aus dem feudalen Adel der Hirten-Eroberer, die die Gaue als Vertreter der Krone mit der ganzen Machtfülle von [S. 108] Statthaltern verwalteten, »eine für die einzelnen Regierungsfunktionen bestimmte Hofbeamtenschaft«. Diese »ist aus der Zahl der an den Höfen der Herrenfürsten eingestellten Dienerschaft - Kriegsgefangenen, Flüchtlingen usw. - hervorgegangen« [38]. Noch die Josefssage zeigt als eine diesem Zeitalter geläufige Erscheinung das Aufsteigen eines Sklaven zum allmächtigen Minister. Ganz ebenso war es im kaiserlichen Rom.

Und auch heute noch ist solche Karriere an allen orientalischen Höfen, in Persien, der Türkei, Marokko usw. durchaus nichts Unerhörtes. Der alte Derfflinger mag aus viel späterer Zeit und aus einem Stadium des Überganges vom entfalteten Feudal- zum Ständestaat ein Beispiel geben, dem unzählige andere tapfere Haudegen an die Seite zu stellen wären.

Und noch einige Belege von den »Geschichtslosen«. Ratzel berichtet vom Bornu-Reich: »Die Freien haben das Bewußtsein ihrer freien Herkunft den Sklaven des Scheichs gegenüber nicht verloren, aber die Herrscher hegen zu den Sklaven mehr Vertrauen als zu ihren eigenen Verwandten und freien Stammesgenossen und rechnen auf ihre Ergebenheit. Nicht nur Hofämter, sondern auch die Verteidigung des Landes wurde von alters her vorzugsweise Sklaven anvertraut. Die Brüder des Fürsten, wie auch die ehrgeizigeren oder tatkräftigeren Söhne werden mit Argwohn betrachtet; während man die wichtigsten Hofämter in den Händen von Sklaven findet, sind die Posten fern vom Regierungssitz in denen der Prinzen. Die Einkünfte der Ämter und Provinzen müssen für die Gehälter aufkommen.« [39]

Bei den Fulbe »teilt sich die Gesellschaft in Fürsten, Häuptlinge, Gemeine und Sklaven. Eine große Rolle spielen die Sklaven der Könige, die Soldaten und Beamte sind und auf die höchsten Stellen im Staate Anspruch machen dürfen.« [40]

Dieser Hofadel kann unter Umständen auch zur Reichsbeamtenschaft zugelassen werden, so daß ihm der geschilderte Weg zum Landesfürstentum offen steht; er stellt dann im entfalteten Feudalstaat den hohen Adel dar und pflegt seinen Rang selbst dann zu bewahren, wenn er durch Verschlucken seitens eines mächtigeren [S. 109] Nachbarn mediatisiert worden ist. Der fränkische Hochadel enthält sicher solche Elemente aus der ursprünglichen Untergruppe [41]; und da aus seinem Stamm der Hochadel des ganzen europäischen Kulturkreises zum großen Teil hervorgegangen ist, mindestens in indirekter Linie durch Verschwägerung, so finden wir die ethnische Verschmelzung, wie in der jetzigen Untertanengruppe, so auch in der höchsten Schicht der Herrengruppe. Dasselbe gilt für Ägypten: »Beim Sinken der königlichen Autorität in der Verfallszeit nützen die höheren Beamten ihre Macht für persönliche Zwecke, um ihre Ämter in ihren Familien erblich zu machen und so einen ethnisch nicht von der übrigen Bevölkerung sich abhebenden Beamtenadel zu schaffen.« [42]

Und schließlich ergreift der gleiche Prozeß aus den gleichen Gründen die jetzige Mittelklasse, die Unterschicht der Herrengruppe, die Beamten und Offiziere der großen Lehenträger. Zuerst besteht noch ein gesellschaftlicher Unterschied zwischen den freien Vasallen, die der große Grundherr mit Unterlehen begabt hat: Verwandten, jüngeren Söhnen anderer adliger Familien, verarmten Bezirksgenossen, einzelnen freigeborenen Bauernsöhnen, freien Flüchtlingen und berufsmäßigen Raufbolden freier Abkunft, - und den sozusagen subalternen Offizieren der Garde, die aus der Plebs stammen. Aber die Unfreiheit steigt, und die Freiheit sinkt im sozialen Werte, und auch hier verläßt sich der Fürst sicherer auf seine Geschöpfe als auf seine pares. Und so kommt es auch hier früher oder später zur vollen Verschmelzung. In Deutschland steht der hörige Hofadel noch 1085 im Range zwischen servi et litones, aber hundert Jahre später bereits bei den liberi et nobiles [43]. Im Laufe des dreizehnten Jahrhunderts verwächst er völlig mit der freien Vasallität zum ritterschaftlichen Adel, dem er inzwischen wirtschaftlich gleichgestellt ist: beide haben Unterlehen, Dienstlehen, gegen Verpflichtung zur Heeresfolge; und die Dienstlehen der Hörigen, der »Ministerialen«, sind inzwischen ebenso erblich geworden, wie die der freien Vasallen, und wie es die Erbgüter der wenigen noch aufrechten, der Umklammerung durch [S. 110] das Landesfürstentum noch nicht verfallenen, kleineren Grundherren des alten Adels von jeher waren.

Ganz analog ist der Prozeß in allen anderen Feudalstaaten Westeuropas verlaufen, und sein genaues Gegenstück findet sich im äußersten Osten der eurasischen Landmasse, in Japan. Die Daimio sind der Hochadel, die Samurai die Ritterschaft, der Schwertadel.

e) Der entfaltete Feudalstaat

Damit ist der Feudalstaat völlig zur Entfaltung gelangt. Er bildet politisch-sozial eine Hierarchie von zahlreichen Schichten, von denen immer die untere der nächst oberen leistungsverpflichtet, die obere der nächst unteren schutzverpflichtet ist. Die Grundlage unten bildet das arbeitende Volk, immer noch zum Hauptteil aus Bauern bestehend; der Überschuß ihrer Arbeit, die Grundrente, der gesamte »Mehrwert« des ökonomischen Mittels, dient dem Unterhalt der oberen Schichten. Diese Grundrente fließt von der Mehrzahl der Grundstücke, soweit sie nicht mehr unmittelbarer, unverlehnter Besitz des Landesherren oder des Kronenträgers sind, an die kleinen Lehensträger; diese haben dafür ihre vertragsmäßige Heeresfolge zu leisten und auch in gewissen Fällen wirtschaftliche Leistungen zu erfüllen; der größere Lehensträger ist in gleicher Weise dem großen, dieser wenigstens formell-rechtlich dem Träger der Zentralgewalt verpflichtet; und der Kaiser, König, Sultan, Schah, Pharao gilt wieder als Vasall des Stammgottes: so steigt vom Ackerboden, dessen Bebauer alles trägt und nährt, bis zum »Himmelskönig« eine kunstvoll gestaffelte Rangordnung auf, die das ganze Staatsleben so umklammert, daß der Sitte und dem Rechte nach kein Stück Land und kein Mensch sich ihr entziehen kann. Sind doch alle ursprünglich für die Gemeinfreien geschaffenen Rechte verfallen oder durch den Sieg des Landesfürstentums zweckwidrig umgebogen worden; wer nicht im Lehnswesen steht, ist in der Tat vogelfrei, ohne Schutz und ohne »Recht«, d.h. ohne die Macht, die allein Recht schafft. Und so war das Gesetz, das uns so leicht als Ausfluß junkerlichen Übermuts erscheint: »nulle terre sans seigneur« in Wirklichkeit nichts anderes, als die Kodifikation eines fertigen neuen Rechtszustandes und allenfalls die Forträumung einiger veralteter, nicht mehr zu duldender Reste des völlig überwundenen primitiven Eroberungsstaates.

Was haben nicht die Verfechter der Rassenlehre als eines geschichtsphilosophischen Hauptschlüssels für Schlüsse aus der angeblichen [S. 111] Tatsache gezogen, daß nur die Germanen kraft ihrer überlegenen »Staatsbegabung« den kunstvollen Bau des entfalteten Feudalstaates zustande gebracht haben! Dies Argument hat schon viel an Kredit verloren, seit man sich davon überzeugen mußte, daß auch die mongolische Rasse in Japan ganz das gleiche geleistet hat. Vielleicht hätte der Neger es auch dann nicht so weit gebracht, wenn ihm nicht die Invasion stärkerer Kulturen den Weg abgeschnitten hätte, obgleich sich Uganda z. B. nicht gar so sehr von dem Reiche der Karolinger oder des roten Boleslaw unterscheidet, mit Ausnahme der »Traditionswerte« aus der mittelländischen Kultur: und die waren nicht ein Verdienst der germanischen Rasse, sondern ein Geschenk, das sie vom Geschick als Mitgift erhielt.

Aber lassen wir den Neger beiseite! Auch der »Semit«, dem angeblich die Staatsfähigkeit so ganz abgehen soll, hat vor Jahrtausenden ganz dasselbe Feudalsystem aufgebaut, wenigstens wenn die Gründer des ägyptischen Reiches Semiten waren. Klingt es nicht wie eine Schilderung aus der Stauferzeit, wenn Thurnwald berichtet [44]: »Wer sich in die Gefolgschaft eines Machthabers begab, stellte sich dadurch unter dessen Schutz, wie unter den eines Familienhauptes. Dieses Verhältnis (...) bezeichnet ein der Vasallität ähnliches Treue-Verhältnis. Dieses Schutz- gegen Treue-Verhältnis wird zur Basis der gesamten Gesellschaftsorganisation Ägyptens. Es liegt ebenso den Beziehungen des Feudalherren zu seinen Dienstmannen oder Bauern, wie des Pharao zu seinen Beamten zugrunde. Auf dieser Form beruht der Zusammenschluß der Einzelnen zu Gruppen unter gemeinsame Schutzherren bis hinauf zum Gipfel der Gesellschaftspyramide, zum König, der selbst als »Platzhalter seiner Väter«, als Vasall der Götter auf Erden gilt. (...) Wer außerhalb dieser sozialen Klammerung lebt, der »Mann ohne Meister« (= Schutzherr), ist schutzlos und daher rechtlos.«

Wir haben bisher die Hypothese einer besonderen Rassenbegabung nicht gebraucht und werden sie auch in Zukunft nicht brauchen. Sie ist, wie Spencer sagt, der dümmste Versuch einer Geschichtsphilosophie, der denkbar ist.

Die vielfache Staffelung der Stände in einer einzigen Pyramide gegenseitiger Abhängigkeit ist das erste Kennzeichen des entfalteten [S. 112] Feudalstaates. Die Verschmelzung der ursprünglich gesonderten ethnischen Gruppen zu einem Volkstum ist sein zweites Kennzeichen.

Das Bewußtsein der einstigen Rassenverschiedenheit ist völlig verschwunden. Nichts bleibt als die Klassenverschiedenheit.

Fortan haben wir es nicht mehr mit ethnischen Gruppen, sondern mit sozialen Klassen zu tun. Der soziale Gegensatz beherrscht allein das Leben des Staates. Und entsprechend wandelt sich das ethnische Gruppenbewußtsein zum Klassenbewußtsein, die Gruppentheorie zur Klassentheorie. Sie ändert ihr Wesen dabei nicht im mindesten. Die neuen Herrenklassen sind genau so legitimistisch-rassenstolz, wie die alte Herrengruppe es war; auch der neue Schwertadel versteht es, seinen Ursprung aus der besiegten Gruppe schnell und gründlich zu vergessen. Und auf der anderen Seite schwört der deklassierte Freie oder der gesunkene Edeling genau so auf das »Naturrecht«, wie früher nur die Unterworfenen.

Und ebenso ist der entfaltete Feudalstaat noch immer grundsätzlich genau dasselbe Wesen, das er bereits im zweiten Stadium der primitiven Staatsbildung war. Seine Form ist die Herrschaft, sein Wesen die politische Ausbeutung des ökonomischen Mittels, begrenzt durch ein Staatsrecht, das den Berechtigten des politischen Mittels die Schutzpflicht auferlegt und das Recht des Verpflichteten des politischen Mittels auf Erhaltung bei der Prästationsfähigkeit gewährleistet. Am Wesen der Herrschaft hat sich nichts geändert, sie ist nur vielfältiger abgestuft, und das gleiche gilt für die Ausbeutung oder das, was jetzt die ökonomische Theorie als »Verteilung« bezeichnet.

Nach wie vor kreist die Innenpolitik des Staates in derjenigen Bahn, die ihm das Parallelogramm aus der zentrifugalen Kraft des jetzt zum Klassenkampf gewandelten Gruppenkampfes - und aus der zentripetalen Kraft des Gemeininteresses vorschreibt. Und nach wie vor wird seine Außenpolitik bestimmt durch das Streben seiner Herrenklasse nach neuem Land und Leuten: ein Streben auf Erweiterung, das gleichzeitig noch immer Trieb der Selbsterhaltung ist.

Viel feiner differenziert, viel mächtiger integriert, ist der entfaltete Feudalstaat mithin nichts anderes als der zu seiner Reife gelangte primitive Staat.

Fußnoten
[1]
Ratzel, l. c. I, p. 263.
[2]
Großgrundeigentum und soziale Frage. 2. Buch. 1. Kapitel. Berlin 1898.
[3]
»Gerade der Nomadismus ist ausgezeichnet durch die Leichtigkeit, womit er aus dem patriarchalischen Zusammenhang despotische Gewalten von weitreichendster Macht entwickelt.« (Ratzel, l. c. II, p. 388/9.)
[4]
Ratzel, l. c. I, p. 408.
[5]
Cunow, l. c., p. 66/7. Vergleichbar bei den Ozeaniern, vielfach so z.B. in Radak. (Ratzel, l. c. I, p. 267.) Ähnlich finden wir in Ägypten neben dem bigotten Amenhotep IV den Hausmeier Haremheb, der »die höchsten kriegerischen und Verwaltungsstellen des Reiches auf seinem Haupt zu vereinigen wußte, bis er die Machtfülle eines Reichsverwesers besaß« (Schneider, Kultur u. Denken der alten Ägypter, Leipzig 1907, p. 22).
[6]
Buhl, l. c., p. 17.
[7]
Ratzel, l. c. II, p. 66.
[8]
Ratzel, l. c. II, p. 118.
[9]
Ratzel, l. c. II, p. 167.
[10]
Ratzel, l. c. II, p. 218.
[11]
Ratzel, l. c. I, p. 125.
[12]
Ratzel, l. c. I, p. 124.
[13]
Ratzel, l. c. I, p. 118.
[14]
Ratzel, l. c. I, p. 125.
[15]
Ratzel, l. c. I, p. 346.
[16]
Ratzel, l. c. II, p. 245.
[17]
Ratzel, l. c. I, p. 267/8.
[18]
Mommsen, l. c., Bd. III, p. 234/5.
[19]
Ratzel, l. c. II, p. 167.
[20]
Ratzel, l. c. II, p. 229.
[21]
Ratzel, l. c. I, p. 128.
[22]
Webers Weltgeschichte, Bd. III, p. 163.
[23]
Thurnwald, l. c., p. 702/3.
[24]
Thurnwald, l. c., p. 712. Vgl. Schneider, Kultur und Denken der alten Ägypter. Leipzig 1907, p. 38.
[25]
Ratzel, l. c. II, p. 599.
[26]
Ratzel II, p. 362.
[27]
Ratzel, l. c. II, p. 344.
[28]
Meitzen, l. c. II, p. 633.
[29]
Inama-Sternegg, l. c. I, p. 140/1.
[30]
Mommsen, l. c. V, p. 84.
[31]
Vgl. die ausführliche Darstellung in meinem »Großgrundeigentum u. soz. Frage«, Buch II, Kap. 3.
[32]
Mommsen, l. c. III, p. 234/5.
[33]
Thurnwald, l. c., p. 771.
[34]
Meitzen, l. c. I, p. 362 f.
[35]
Inama-Sternegg, l. c. I, p. 373, 386.
[36]
Vgl. mein »Großgrundeigentum«, p. 272.
[37]
Es gehört in diesen Zusammenhang, daß sich die Fürsten gern fremde Religionen holen. Die Geistlichen sind wenigstens im Anfang ihre natürlichen, und dank der Geisterfurcht, sehr wirksame Verbündete.
[38]
Thurnwald, l. c. I, p. 706.
[39]
Ratzel, l. c. II, p. 503.
[40]
Ratzel, l. c. II, p. 518.
[41]
Meitzen, l. c. I, p. 579: »Bei Erlaß der lex salica ist der alte Geschlechtsadel bereits zu Gemeinfreien herabgedrückt oder vernichtet. Aber die Beamten haben schon dreifaches Wergeld (600 solidi, und wenn er »puer regis« ist, 300).«
[42]
Thurnwald, l. c., p. 712.
[43]
Inama-Sternegg, l. c. II, p. 61.
[44]
Thurnwald, l. c., p. 705.

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