Theorie des Arbeitslohnes

Erstveröffentlichung in: Deutsche Wirtschaftszeitung, Berlin, Bd. 5, 1909, Spalte 825 - 830 und 878 - 883.

[Alte Rechtschreibung wie im Original beibehalten.]

Industrielle Revolution, Arbeitslöhne, Migration, Profitrate, soziale Frage, Wanderarbeit

Abstract: Oppenheimer entwickelt in seinem 1909 verfaßten Beitrag die These, daß die Lohnhöhe der verschiedenen Lohnklassen auf einem, in freier Konkurrenz befindlichen, internationalen Arbeitsmarkt geknüpft ist an (a) die relative Seltenheit des nachgefragten Talentes (= innere Differenzierung) und (b) an den Sockelbetrag für unqualifizierte Arbeit plus Migrationskosten ferner Gebiete. Auf heutige Zeit übertragen läßt die angestrebte Freizügigkeit der europäischen Wirtschaftsunion einen Anstieg der Einkommen aus Kapitalvermögen und ein Sinken der Einkommen aus abhängiger Beschäftigung in den industriellen Zentren (und umgekehrt in der Peripherie) erwarten.

[Sp. 825] Normaler Weise sollte der Lohn der Arbeit in ihrem ganzen Ertrage bestehen. Das ist aber nur auf primitiven Gesellschaftsstufen der Fall: die Jäger und Fischer, die freien Hackbauern verfügen über den unverkürzten Ertrag ihrer Arbeitsanstrengung.

Auf allen höheren Stufen hat der Arbeiter Teile seines Arbeitsertrages abzugeben: der Sklave an seinen Eigentümer, der Hörige an seinen Grundherrn, der Arbeiter der kapitalistischen Gesellschaftsordnung an seinen Arbeitgeber. Die Abgabe heißt »Herreneinkommen« auf den präkapitalistischen Stufen, heißt »Mehrwert« in der kapitalistischen Ordnung.

Die Bestimmgründe des präkapitalistischen Lohnes liegen klar auf der Hand. Kraft Staatsrechtes, kraft Gesetzes ist der Herr berechtigt, einen Anteil zu fordern, ist der Sklave oder Hörige verpflichtet, ihn zu leisten.

Dagegen ist die Bestimmung des Lohnes in der kapitalistischen Gesellschaft ein bisher ungelöstes Problem. Der Arbeiter ist frei; kein Gesetz verpflichtet ihn, Teile seines Arbeitsertrages abzugeben: aus welchem Grunde ist er dennoch gezwungen, es zu tun?

Grundsätzlich stimmen von jeher alle Schulen der Ökonomik in der Erklärung überein: nur die Tatsache, daß sich die Arbeiter in der Regel konkurrierend unterbieten, kann es erklären, daß ihren Anwendern Mehrwert übrig bleibt.

Aber woher stammt dieses dauernde Überangebot kapitalloser Arbeiter? Bei dieser Frage scheiden sich die Geister.

Die bürgerliche Wissenschaft erklärt es aus dem Malthus'schen Bevölkerungsgesetz. Danach werden zu viele Kinder der proletarischen Klasse geboren. Die Erklärung ist unhaltbar, das Gesetz existiert nicht; sein Beweis ist ein gröblicher Trugschluß; und es widerspricht allen Tatsachen.[1]

Marx erklärt das dauernde Überangebot freier Arbeiter aus der »Freisetzung« des Arbeiters durch das Kapital in seiner Gestalt als Maschinerie. Auch diese Erklärung ist nicht zu halten.[2]

Sondern die Ursache des dauernden Überangebots kapitalloser Arbeiter auf dem Arbeitsmarkte ist die massenhafte Zuwanderung der Landproletarier in die Industriebezirke. Das ist eine Tatsache, die jedermann geläufig ist und die man gar nicht näher zu belegen braucht.

Und zwar stammen diese Massen fast ausschließlich aus den Bezirken des Großgrundeigentums. [Sp. 826] Während sich in bäuerlichen Bezirken die Bevölkerung regelmäßig stark verdichtet und durch ihre stark wachsende Nachfrage nach Industrieprodukten außerdem noch die im Bezirk selbst gelegenen kleineren städtischen Zentren in steigendem Maße entfaltet, ist im Großgrundbesitzbezirk der gesamte Nachwuchs überzählig, da er auf den Großgütern keine bleibende Stelle findet und da aus diesem Grunde die Städte nicht wachsen können.

Somit ist die Fortdauer des ursprünglich feudalen Institutes des Großgrundeigentums in der Wirtschaft des freien Verkehrs die letzte Ursache dessen, was Karl Marx das »Kapitalverhältnis« nennt: "Ein Neger ist ein Neger; unter bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen wird er zum Sklaven; Produktionsmittel sind Produktionsmittel; unter bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen werden sie Kapital".

Ich kann hier auf diese Dinge nicht näher eingehen, Sie sind in meinen angeführten Monographien und in meinem Werk »Großgrundeigentum und soziale Frage« aufs ausführlichste Bewiesen.

Jedenfalls reicht schon diese noch sehr allgemeine Formel hin, um ein Teilproblem der Lohnfrage zu lösen, dem die heutige nationalökonomische Theorie in hoffnungsloser Resignation gegenübersteht.

I. Das Problem der modernen Lohnbewegung

Die heutige Wissenschaft hat überhaupt keine Lohntheorie mehr, seit sie gezwungen gewesen ist, die auf dem Bevölkerungsgesetz aufbauende »Lohnfondstheorie« aufzugeben. Und so ist sie völlig außer Stande, das dringendste Problem der Gegenwart zu beantworten, das folgendermaßen lautet: wie ist es zu erklären, daß die industriellen Löhne, mindestens die Nominallöhne, trotz aller Rückschläge in Krisenzeiten, auf die Dauer eine steigende Tendenz haben, obgleich doch das Angebot auf dem Arbeitsmarkte in der Regel, von einzelnen Momenten exaltierter Hausseperioden abgesehen, die Nachfrage übersteigt?

Daß Arbeitskraft eine »Ware« ist, d. h. daß ihr Preis durch das Verhältnis von Angebot und Nachfrage bestimmt wird, läßt sich unmöglich bestreiten. Und dennoch steigt dieser Preis bei dauernd vorhandenem Überangebot der Ware?! Unbegreiflich! Die ganze Konkurrenztheorie kommt ins Schwanken.

Chevallier behauptet, vielleicht in Anlehnung an Carey-Bastiat, daß der Lohn mit der Produktivität der Arbeit steige. Bei Licht besehen ist seine Behauptung nichts besseres, als eine etwas anspruchsvoll auftretende Umschreibung der Tatsachen, wie die neueste Industrieentwicklung darbietet. Er stößt sich nicht daran, daß wir Zeiten steigender Produktivität und dennoch scharf fallender Industrielöhne kennen - ich erinnere [Sp. 827] nur an die deutsche Entwicklung nach ca. 1450 oder an den Anfang der kapitalistischen Epoche in Großbritannien - und er gibt vor allem keinerlei Andeutung, wie sich die Parallelität: Produktivität = Lohn im Getriebe des Preiskampfes durchsetzen sollte.

Die deutschen Nationalökonomen, so weit sie sich nicht mit Maltus'schen Trugschlüssen abfinden, ziehen sich auf die Behauptung zurück, es gebe gar kein einheitliches Lohnniveau, sondern unzählige ganz verschiedene Lohnklassen, jede mit ihrem eigenen Arbeitsmarkte, mit ihren eigenen Ansprüchen und historisch gegebenen Gewohnheiten. Daher sei das suchen nach einer Theorie »des« Lohnes gegenstandslos, denn es gebe gar nicht »den« Lohn!

Ich habe diese Ausflucht einmal gegen Ed. Bernstein als "einen Verzweiflungsakt der dekadentesten Vulgärökonomik" bezeichnet und will dieses Urteil hier begründen.

Daß es verschiedene Lohnklassen gibt, war wahrlich keine Entdeckung, die Ad. Smith, Ricardo und Marx zu machen versäumen konnten. Hat doch Smith aufs glücklichste und ausführlichste die Bedingungen entwickelt, die zur Differenzierung der Lohnklassen führen: Schwierigkeit, Gefährlichkeit, lange Lehrzeit usw. Aber sie waren denn doch zu gute Köpfe, als daß sie über den Verschiedenheiten die Einheit hätten übersehen können: sie sahen den Wald trotz der Bäume.

Wenn wir die Skala der Lohnklassen in einem gegebenen Augenblick betrachten, so finden wir, daß die Unterschiede ihres Lohnniveaus in der Hauptsache bestimmt sind durch die relative Seltenheit der für die Ausübung der verschiedenen Berufe erforderlichen Eigenschaften: Begabung des Körpers, des Geistes oder Willens - und materielle Ausstattung: lange Lehrzeit, Kapital usw. Das ist sozusagen die Statik der Lohnklassen.

Die gegenseitigen Beziehungen der Lohnklassen werden aber fortwährend gestört durch Veränderungen in der relativen Seltenheit der persönlichen Vorbedingungen, sei es, daß die Nachfrage nach einem Berufe stärker oder schwächer zunimmt, als die Bevölkerung selbst, sei es, daß gewisse Eigenschaften im Durchschnitt seltener oder häufiger werden, z. B. durch die öffentliche Schulbildung. Diese Gleichgewichtsstörungen tendieren nun immer sofort, und zwar durch das Spiel der freien Konkurrenz, auf Ausgleichung, auf Rückkehr zum statischen Gleichgewicht.

Fortwährend drängt gegen jedes Lohnniveau der Wettbewerb der nächsten unteren Klassen, schon unter gewöhnlichen Umständen. Wenn aber, durch irgend eine Veränderung der »relativen Seltenheit«, ein höheres Lohnniveau steigt, dann ziehen die unteren Klassen es durch ihren sofort stärker einsetzenden Wettbewerb auf die »natürliche Distanz« herab, indem entweder erwachsene Angehörige dieser Klasse einen höheren Impuls zu größerer Energiespannung erhalten, oder indem [Sp. 828] der Nachwuchs bei der Berufswahl sich der begünstigten Lohnklasse besonders zahlreich zuwendet. Diese Bewegung macht die Gesamtheit aller Lohnklassen zu einem fein differenzierten, aber nichtsdestoweniger einheitlichen Gebilde, das sein dynamisches Gleichgewicht durch alle Störungen hindurch bewahrt. Das ist die Dynamik der Lohnklassen.

Es ist demnach unmöglich, daß irgend eine Lohnklasse falle oder steige, ohne daß alle anderen Lohnklassen in gleicher Richtung beeinflußt werden. Der Sporn des Wettbewerbes wird je nachdem schärfer oder stumpfer, und so stellt sich die natürliche Distanz auf einem tieferen oder höheren Durchschnitt wieder ein.

Je höher eine einzelne Lohnklasse durch eine besondere Gunst der Konjunktur steigt, um so eifriger streben die unteren Schichten, sich dazu emporzuarbeiten. Wenn z. B. plötzlich eine starke Nachfrage nach Chauffeuren ihre Löhne sehr treibt, dann bemühen sich alle energischen und tüchtigen Schlosser und Maschinenbauer, das Examen zu bestehen. Das hat, ich bitte das festzuhalten, einen Prozeß der Ausgleichung zur Folge. Der Lohn der Chauffeure sinkt, und der der Schlosser usw. steigt, weil die Konkurrenz oben stärker und unten schwächer wurde. Ganz der gleiche Prozeß vollzieht sich fortwährend ausgleichend zwischen allen Lohnniveaus; immer greift die Konkurrenz niederziehend nach oben, vor allem auch dadurch, daß die meisten Eltern ihre Kinder eine Stufe höher zu schieben versuchen, und dadurch wirkt sie hebend nach unten.

Dieser Einfluß einer Lohnklasse auf alle anderen ist aus klaren Gründen um so geringer, je höher sie in der Skala steht. Denn um so weniger zahlreich ist sie auch, und so wird der Einfluß, namentlich nach unten, auf die großen Massen hin, schnell minimal, bis zur Unmerklichkeit. Je tiefer aber eine Klasse in der Lohnskala steht, um so größer wird der Einfluß, der durch Veränderungen ihres Lohnniveaus auf die anderen Lohnklassen ausgeübt wird. Denn um so zahlreicher ist sie auch, und eine starke Vermehrung oder Verminderung des von ihr ausgehenden konkurrierenden Drängens nach oben wird bedeutende Verschiebungen in den Nachbarklassen hervorrufen, ehe die natürliche Distanz hergestellt ist.

Den größten Einfluß werden also Veränderungen im Lohnniveau der tiefsten, zahlreichsten Lohnklasse ausüben müssen. Man stelle sich vor, durch irgend ein Wunder erhöhe sich der Lohn unqualifizierter städtischer Tagelöhner plötzlich auf 3000 Mk. jährlich, zunächst ohne eine Beteiligung der übrigen Klassen. Dann wird aus allen oberen Lohnklassen bis zu denen über 3000 Mk. ein so enormer Zudrang in die frühere Unterklasse eintreten, daß hier der Lohn gedrückt und dort - durch Verminderung des Angebots - gehoben wird, bis sich allmählich - nach einem so plötzlichen Ereignis vielleicht erst nach Jahrzehnten - [Sp. 829] die natürliche Distanz entsprechend der Seltenheit der Vorbedingungen wiederhergestellt hätte, und zwar auf einem bedeutend erhöhten Durchschnittsniveau. Umgekehrt muß jede Senkung des Lohnniveaus der untersten Klasse eine Senkung der oberen Lohnstufen erzwingen, weil dann die Konkurrenz schärfer nach oben greift.

Dieses Durchschnittsniveau aller Lohnklassen in ihrer natürlichen Distanz von einander, dieser organische, elastische und doch enge Zusammenhang, das ist dasjenige, was die großen Theoretiker A. Smith, Ricardo und Marx als »das« Lohnniveau betrachtet haben. Wenn sie vom Steigen oder Fallen des Lohnes sprachen, so meinten sie das Steigen und fallen dieser Pyramide von Lohnstufen, wie sie auch vom Steigen und fallen des »Profits« sprachen, obgleich ihnen wahrlich nicht entging, daß es sehr verschiedene »Profitstufen« oder »Profitklassen« gab, je nach Risiko, Unternehmerbegabung, Bequemlichkeit, sozialer Ehre einer Unternehmung usw.

Man hat sich lange damit getröstet, daß der Reallohn der untersten städtischen Lohnklasse, der »Ungelernten«, nicht steigt. Für sie sollte, so meinte z. B. v. Schönberg, das »eherne Lohngesetz« seine Richtigkeit haben. In den höheren Lohnklassen aber wüchse die »relative Seltenheit« und so stiege der Lohn.

Der Trost war von kurzer Dauer! Niemand kann mehr daran zweifeln, daß in Großbritannien der Reallohn auch der Ungelernten sehr beträchtlich gestiegen ist: Giffens Untersuchungen lassen kaum Widerspruch zu. Und auch in Deutschland läßt sich die Tatsache kaum noch bestreiten. Es ist also nichts mit dem ehernen Lohngesetz für die Ungelernten! Und dennoch herrscht fast immer ein Überangebot auf ihrem Teilmarkte?!

Nun: das Problem ist nur für den Industriezentristen unlösbar. Für die »geozentristische« Auffassung bietet es nicht die mindeste Schwierigkeit.

Die niedere Lohnklasse, die zahlreichste und schlechtest gestellte, diejenige, deren Konkurrenz das Emporstreben aller anderen Klassen zurückhält, wird nämlich nicht durch die »Ungelernten« der Industrie gebildet, sondern in jeder Volkswirtschaft mit der Freizügigkeit durch die Landarbeiter!

Der ländliche Arbeitsmarkt ist nun aber nicht [überfüllt][*], sondern [unterfüllt]! Die Nachfrage nach Arbeitskraft wird hier, dank der Massenfortwanderung, durch das Angebot nicht nur nicht übertroffen, sondern bleibt in einem steigenden Maße unbefriedigt, je mehr die intensive, kapitalistische Agrikultur sich verbreitet. Darum muß auf diesem Teilmarkte der Preis der Ware Arbeitskraft regelmäßig steigen - und darum steigt die Lohnklasse der städtischen Ungelernten trotz dem ehernen Lohngesetz, und die höheren Lohnklassen trotz dem Überangebot von Arbeit auf ihren Teilmärkten. Die Basis der Lohnpyramide hebt sich und mit ihr heben sich alle höheren Stockwerke.

[Sp. 830] Das ist des Rätsels einfache Lösung! Wer Schwierigkeiten hat, sich in abstrakten Formeln zurecht zu finden, kann sich den Vorgang ebenso einfach durch folgende praktische Überlegung klar machen: die Industrie braucht fortwährend Zuzug ländlicher Arbeitskräfte, um ihren Bedarf an »Händen« zu decken. Sie muß daher den Landproletariern immer ein Einkommen anbieten, das ihr bisheriges Lohnniveau übersteigt, um sie zum Fortwandern zu bewegen, wobei übrigens die Industrie auch häufig die Konkurrenz überseeischer Kolonialgebiete zu schlagen hat. Dadurch steigt der Landarbeiterlohn auf ein höheres Niveau, da das Angebot auf diesem Teilmarkte mit der Abwanderung sinkt, und die Grundherren gezwungen sind, höhere Löhne zu bewilligen. Dieses höhere Landlohnniveau muß die Industrie beim nächsten Bedarf wieder überbieten, und so steigt langsam in Stadt und Land der durchschnittliche Lohn aller Stufen, die ihren »natürlichen« Abstand bewahren.

Das gilt, wohlgemerkt, nur von Wirtschaftsgebieten mit voller Freizügigkeit. Wo aber der freie Zug vom Lande durch die Schollenpflichtigkeit oder der freie Zug in die Städte durch »Kirchspiel«- und Armengesetze oder zünftlerische Privilegien gehemmt ist, da bilden die Landproletarier eine abgesonderte Lohnklasse für sich, ohne Verbindung mit den städtischen Lohnarbeitern, deren Lohnpyramide unter diesen Umständen wirklich die Klasse der städtischen Ungelernten zur Grundlage hat. Dann kann das Rentenrecht des Großgrundeigentums seine Hintersassen, die hier dem Drucke nicht auszuweichen vermögen, allerdings bis auf oder unter das absolute Existenzminimum herabpressen, wie es z. B. in Irland geschah.

Wenn nun die städtische Entwicklung, der »Kapitalismus«, die Fesseln des freien Zuges sprengt, dann vollzieht sich die Ausgleichung zwischen den beiden bisher geschiedenen Lohnklassen mit einem Schlage, explosiv; der gestaute Strom des Landproletariats überschwemmt die Industrie mit seinem Hungerangebot, bietet seine Arbeitskraft zu einem Preise an, der seinen unendlich niederen »historisch gegebenen Lebensansprüchen« genügt und reißt dadurch fürs erste die städtischen Löhne plötzlich in die Tiefe.

II. Der Arbeitslohn und die freie Konkurrenz

[Sp. 878] Aus dieser Betrachtung läßt sich ein wichtiger Schluß ziehen auf die sozialethische Bewertung, die der politische und wirtschaftliche Liberalismus, und namentlich ihre vornehmste Schöpfung, die freie Konkurrenz, verdient. Wir wissen, daß man den Liberalismus auf das härteste angeklagt hat, weil er es war, der diese angeblich höllische Macht entfesselt hat, die an dem ganzen Elend der kapitalistischen Anfänge allein die Schuld trage. Bei dieser Gelegenheit empfing regelmäßig das »Kapital« im engeren Sinne, das Handels- und Gewerbskapital, die härtesten Stöße der sittlichen Entrüstung, während die Landwirtschaft und gar die Großlandwirtschaft sich gern in der bengalischen Beleuchtung des Unschuldskindes, kein Engel ist so rein, darstellte. Nun, so viel wissen wir jetzt, daß hier die Fabel von Wolf und Lamm wieder einmal Wirklichkeit geworden ist: der Wolf, der oben am Strom der Wanderbewegung steht, klagt das Lamm an, ihm das Wasser zu trüben, und er würde es mit vergnügen fressen, wenn er nur könnte.

Aber ich denke noch mehr beweisen zu können, als nur das, daß der Liberalismus und die freie Konkurrenz an allen jenen Greueltaten unschuldig ist. Sie sind im Gegenteil die Kräfte des Segens, die ganz allein das durch die feudale Gewaltpolitik geschaffene Massenelend bereits unmeßbar gemildert haben; und es erscheint mir zweifellos, daß sie in absehbarer Zeit dahin gelangen werden, es ganz aufzuheben.

Nicht wahr, das klingt bis ins Ungeheuerliche paradox? Und doch werden wir sofort erkennen, daß es buchstäbliche Wahrheit ist, wenn wir uns nur erinnern wollen, was wir über die Zusammenhänge der einzelnen Lohnklassen festgestellt haben. [Sp. 879] Wir sahen dort, daß durch die freie Konkurrenz der Arbeiter untereinander ein Prozeß der Ausgleichung sich vollzieht, derart, daß der Lohn der oberen Klassen herabgezogen, der der unteren aber gehoben wird. Wenden wir diesen allgemeinen Satz auf die Verhältnisse der frühkapitalistischen Periode an. Orientieren wir uns an dem berühmtesten Beispiel, an Großbritannien. Hier haben wir in der vorkapitalistischen Zeit in den Städten den Stand von Handwerkern, die ihr bescheidenes Brot haben. Das Gewerbe entfaltet sich langsam; je länger, je mehr fühlt es sich unerträglich beengt und gehemmt durch die Fesseln des Feudalsystems, und nach langen schweren Kämpfen gelingt es dem Liberalismus, die Burg der Gegner zu brechen. Der freie Zug der Bevölkerung wird mit manchen anderen Rechten gewonnen. Die Abwanderung setzt ein, erst tröpfelnd, dann in dem Maße, wie die städtischen Gewerbe Brotstellen erschließen, immer mächtiger. Die Hungerkonkurrenz reißt die Löhne und Arbeitseinkommen der alten städtischen Handwerker und Arbeiter in die Tiefe, und alle Pforten der Hölle scheinen sich aufgetan zu haben. Den ersten Beobachtern, den Malthus, Ricardo und ihren sozialistischen Zeitgenossen, erschienen diese furchtbaren Erscheinungen als ein wirtschaftsgeschichtliches Novum, als etwas noch nie Dagewesenes, das jetzt mit einem Mal, wie aus dem Nichts gestampft, in den Gewerbszentren selbst entstanden sei. Und auch heute noch blendet dieser alte Irrtum die Augen fast aller Volkswirte. Es war aber ein Irrtum! All diese himmelschreiende Not, all dieses schmutzige Elend, all diese grauenhafte Erniedrigung ganzer Volksmassen waren nicht im mindesten Nova, sondern uralte Tatsachen; und sie waren nicht erst soeben in den Städten entstanden, sondern sie waren nur soeben auf dem städtischen Schauplatz erschienen, nachdem sie all die Zeit an einer Stelle zusammengedrängt waren, auf die die Blicke der städtischen Volkswirte nie gefallen waren.

Diese Stelle war das platte Land! Hier, auf den Besitzungen der großen Feudalherren, in den Höhlen der hörigen Bauern, fern von den Stätten, auf die die Augen der ersten Beobachter des Wirtschaftslebens wie hypnotisiert gerichtet waren, hatte menschliches Elend längst den höchsten Grad erreicht, der denkbar ist, bis zur Vernichtung der Reproduktionskräfte der Rasse. Denken wir an die Schilderungen, die Labruyère von den französischen Bauern, die Gray von den irischen, E. M. Arndt von den deutschen, und die Kropotkin von den russischen Bauern der präkapitalistischen Zeit gibt, von jenen menschenähnlichen Tieren, die in Erdhöhlen wohnen, schwarzes Brot essen und den Acker ihres Herrn umwühlen, denken wir an jene »Wilden«, von denen Taine erzählt, an jene zottigen Bauern der Auvergne, die herabsteigen von ihren Berghöhlen, blutgierig, verelendet, wie hungrige Wölfe!

[Sp. 880] Bis die Revolution ihnen das Recht der Freizügigkeit gab, hatten diese Ackersklaven ihr eigenes Dasein geführt, fern jeder Kultur, gelöst aus dem Zusammenhang mit dem übrigen Volke. Niemand hatte ihrer Acht, niemand wußte etwas von ihren Leiden, die wie in einem verborgenen Reservoir Jahrhunderte hindurch aufgesammelt wurden. Als dann aber der trennende Deich durch die städtische Revolution durchbrochen wurde, als die Freizügigkeit erkämpft war, da ergoß sich mit einem Male diese ganze ungeheure Masse alten, aufgehäuften Elends über die Städte und ihre unglücklichen Bewohner. Und nun freilich riß die Hungerkonkurrenz dieser auf das äußerste denkbare Maß menschlicher Entwürdigung herabgedrückten Unglücklichen auch die Löhne der alten städtischen Arbeiter in die Tiefe; hatten sie vorher in anständigen Häusern gelebt, so mußten sie sich jetzt mit denselben Schweineställen begnügen, an die ihre Wettbewerber von Jugend an gewöhnt waren, und hatten sie bis jetzt von Rindfleisch und Weißbrot gelebt, so mußten sie sich jetzt ebenso wie sie mit Kartoffeln und Schwarzbrot ernähren, und furchtbar war für sie der Sturz. Aber man darf doch dabei nicht, wie es regelmäßig geschieht, übersehen, daß ganz der gleiche Prozeß, der Hunderttausende in das tiefste Elend stürzte, andere Hunderttausende aus dem tiefsten Elend erlöste. Denn für jene feudalen Hintersassen, die ihrem Kerker entronnen waren, war das Elend von Manchester und Liverpool immer noch ein Emporstieg.

Kurz und gut, was den Beobachtern bis jetzt regelmäßig als ein Prozeß erschien, der nichts als Elend und Not über die Welt brachte, das war in der Tat ein Prozeß der Ausgleichung zwischen zwei, bis dahin durch eine unüberschreitbare Grenze geschiedenen Klassen der Bevölkerung, einer relativ hoch, und einer unglaublich tief stehenden, die plötzlich mit einander in Verbindung gebracht wurden. Man hat bis jetzt immer nur die eine Seite gesehen, den Niedergang der höheren Klasse, aber man kann dem Vorgang nur gerecht werden, wenn man auch die Rückseite der Medaille ansieht, nämlich den Aufstieg der unteren Klasse. Für die Einwanderer war der Prozeß der Ausgleichung ein Segen, wie er für die alten Städter ein Fluch war. Dieser Prozeß der Ausgleichung erfolgte zuerst mit ungeheurer Gewalt, so lange, bis der Überschuß der in den Großgrundbezirken aufgestauten Proletariermassen abgeströmt war. Dann begann unter der Wirkung der freien Konkurrenz, dank der durch die Abwanderung sich immer mehr verschärfenden Leutenot, die Hebung der Landarbeiterlöhne, die seitdem ohne Ende fortgeschritten ist, und mit der sich der Lohn der städtischen Arbeiter regelmäßig mitgehoben hat. Diesem Prozeß ist kein Ende abzusehen. Die Löhne werden immer weiter steigen, zunächst durch den immer höheren Aufschlag von Transportkosten, den die Heranführung der Wanderarbeiter aus [Sp. 881] immer größerer Entfernung bedingt, und dann hoffentlich in nicht allzu ferner Zeit durch eine Umwälzung der Eigentumsverhältnisse in den Grenzgebieten des sozialen Druckes im äußersten Osten. Und auch dieser letzte Hammerschlag, der die Fesseln der mündig gewordenen Menschheit ganz zerbrechen wird, wird geführt werden von dem arg verlästerten Liberalismus, dem Widerpart und Besieger des Feudalstaates.

Wir sehen also, die freie Konkurrenz ist völlig unschuldig. Sie hat vom ersten Tage ihres Wirkens an den Durchschnittslohn der menschlichen Arbeit in immer steigendem Maße erhöht: es war nicht ihre Schuld, daß der Durchschnitt im Anfang viel niedriger sein mußte, als das bisherige Einkommen der städtischen Arbeiterschaft, so daß sie Jahrzehnte lang in schwere Not geriet, bis die freie Konkurrenz das Durchschnittslohnniveau wieder so hoch hatte heben können, wie ihr Sonderlohnniveau vor der großen Ausgleichung gestanden hatte. Um die ganze Menschheit zu erlösen, mußte der Liberalismus vor allem die entwürdigten Sklaven des Großgrundeigentums erlösen. Der städtische Arbeiter jener Zeit mußte die Zeche bezahlen. Und das war gewiß traurig für ihn. Aber was bedeutet das Leid einer Generation gegen den Fortschritt eines ganzen Volkes? Eine Generation ist nur ein Laubkleid am Stamme des Volkstumes; der Frühling bringt es, der Herbst wirft es nieder. Was macht es aus, wenn ein Sommersturm einen Teil der Zweige und Blätter vorzeitig vom Stamme schleudert? Wenn nur der Stamm selbst, der eigentlich lebende, der ewige Erneuerer, durch den Sturm der Todfeinde ledig wird, die sein Mark bedrohen.

III. Die absolute Lohnhöhe

Die gewonnenen allgemeinen Gesetze der Lohnbildung gestatten es uns nun, die absolute Lohnhöhe für jeden einzelnen lokalen Arbeitsmarkt und auf jedem einzelnen Arbeitsmarkte für die einzelnen Lohnklassen mit annähernder Sicherheit zu bestimmen.

Zu diesem Zwecke müssen wir uns aber von der heute immer noch geltenden volkswirtschaftlichen Auffassung emanzipieren. Wir dürfen uns durch die politischen Grenzen der einzelnen Nationalwirtschaften nicht irre machen lassen, sondern haben in weltwirtschaftlicher Betrachtung den Gesamtweltarbeitsmarkt ins Auge zu fassen.

Methodologisch muß vorher noch bemerkt werden, daß wir hier von der Konstruktion einer »stationären« störungsfreien Wirtschaft ausgehen, in der die sämtlichen Löhne in ihrer »natürlichen Distanz«, entsprechend der Seltenheit der relativen Vorbedingungen zu einander stehen.

Wir abstrahieren von allen Störungen durch das Wachstum der Bevölkerung durch Krisen, durch Erntedifferenzen, durch falsche Berechnungen oder unbewußt unwirtschaftliche Handlungen Einzelner, durch politische Einflüsse (Zölle, Kriege usw.). Wir unterstellen eine kapitalistische Volkswirtschaft [Sp. 882] im Beharrungszustande, zusammengesetzt aus lauter Subjekten mit der Psychologie von Lombardstreet, die ihr Interesse kennen und verfolgen "wollen, können und dürfen", ungehindert durch eine störende Rechtsordnung, unbeirrt durch Haß, Liebe oder Patriotismus.

Wir sind uns dabei durchaus bewußt, keine Formel entwickeln zu können, die sich jemals an realen Größen des täglichen Wirtschaftslebens buchstäblich wird verifizieren lassen. Wir wollen nichts anderes, als was die klassische Theoretik wolle: Die »Tendenz« bestimmen, die gewisse Größen haben, einen bestimmten Gleichgewichtszustand zu erreichen. Wir bleiben uns ferner völlig der Tatsache bewußt, daß diese Tendenz fortwährend von unzähligen Störungen gekreuzt wird, die immer neue sekundäre Anpassungen erzwingen. Wir rechnen sozusagen mit dem luftleeren Raume, wie ein Physiker, der die Parabel einer Geschoßbahn berechnet, ohne sich vorläufig um Luftwiderstand, Winddruck, Eigenschwingung des Geschützrohres zu kümmern. Wenn die Rechnung fertig ist, wird er die »Störungen« in sie einführen, um berechnetes und beobachtetes Ergebnis möglichst einander anzunähern. Ganz wird das nie gelingen, und trotzdem wird kein praktischer Artillerist sagen wollen, daß die Parabelrechnung überflüssig ist. Sie ist im Gegenteil die Grundlage seiner Praxis.

Die Basis der Löhne wird gebildet durch den Lohn des »Grenzkuli«. Darunter verstehe ich denjenigen freizügigen Hintersassen des feudalen Großgrundeigentums Osteuropas, den gerade eben noch, als letzten, die westliche Nachfrage nach Arbeit von seiner Heimat loslösen kann. Dieser Grenzkulilohn ist nahezu mathematisch bestimmbar; hier ist Lassalles ehernes Lohngesetz furchtbarste Wirklichkeit; hier hat das Monopol des Grundeigentums das Einkommen des Landarbeiters bis ungefähr auf das physiologische und gewiß auf das soziale Minimum gepreßt. Denn hier ist der Arbeitsmarkt noch stark überfüllt, weil die Aus- und Abwanderung ihn noch nicht entlastet hat; und hier ist darum der Grundherr in der Lage, bei dem Überangebot der Arbeiter, den Lohn auf den niedrigsten Satz herabzupressen.

Dieser Minimallohn des Grenzkuli bestimmt nun den Lohn jedes weiter westlich sitzenden Landarbeiters, und zwar durch die Konkurrenz der zuwandernden Grenzkuli. Der Grundbesitzer des Westens zahlt seinem Landarbeiter nicht mehr für die gleiche Leistung, als ihn der Grenzkuli an Lohn und Transportspesen kostet. Verlangt jener mehr, so wird dieser herangezogen.

All das ist cum grano salis aufzufassen. Ich weiß natürlich, daß diese Darstellung nur eine »Tendenz« zeichnet, die sich nicht immer sofort durchsetzt. Andere Motive (Patriarchalbewußtsein, Nationalgefühl, Widerwille gegen fremde Sprache und Unart) können ihre Wirkung verzögern, vielleicht im einzelnen Falle verhindern. Aber im [Sp. 883] ganzen und auf die Dauer setzt sich eben doch [die][**] Regel durch, wie die Erfahrung zeigt, und eine Theorie leistet alles, was man von ihr fordern kann, wenn sie die Regel entdeckt.

Der auf diese Weise bestimmte Landarbeiterlohn ist nun wieder die Basis aller höheren Löhne loco, die durch die Konkurrenz des in die Industriebezirke abwandernden Landarbeiters bestimmt werden.

Das ist sozusagen die Statik der Lohnpyramide: den Nullpunkt der Skala bildet das Einkommen des Grenzkuli am Orte des höchsten sozialen Druckes. Der Landarbeiterlohn jedes Punktes im ganzen Weltarbeitsmarkt ist gleich diesem Lohn zuzüglich der Transportspesen -; immer unter der Voraussetzung gleicher Leistung - und das ist immer wieder der Nullpunkt einer örtlichen Sonderskala der Löhne, über dem sich die Löhne der qualifizierten Arbeiter "je nach der relativen Seltenheit der Vorbedingungen" aufbauen.

Sehen wir von anderen Einflüssen ab, die diesen Gleichgewichtszustand stören und zu immer neuer Anpassung an neu geschaffene Verhältnisse führen, und betrachten wir nur den Einfluß, den die Ansaugung der Landarbeiter in die westeuropäischen und überseeischen Ackergebiete und die Industriebezirke ausübt: also die Dynamik der Lohnbewegung.

Der Anstoß braucht nicht immer vom überseeischen Ackerbezirk oder von der Industrie auszugehen, wie es im ersten Anfang weitaus überwiegend der Fall war: auch der westlicher sitzende kontinentale Unternehmer der Landwirtschaft kann, auch ohne daß ihm Leute wegwanderten, neuer Hände bedürfen, wenn er zu intensiverer Kultur übergeht (Rübenwirtschaft).

Aber jedenfalls bedeutet jede erhöhte Nachfrage erhöhte Löhne. Denn jede neue Nachfrage schließt gerade so neue entferntere Produktionsstätten von Ackerkulis dem Arbeitsmarkte an, wie jede neue Nachfrage nach Korn neue entferntere Produktionsstätten von Getreide dem Getreidemarkte. Die Wanderbewegung ergreift eine neue Zone, das »Grenzgebiet des höchsten Druckes« ist ostwärts verschoben, die Transportkosten wachsen, und mit ihnen der Lohn jedes Punktes weiter westwärts.

Das ist die Dynamik der Lohnbewegung. Zwischen den ruthenischen Ackerknechten und dem höchst qualifizierten Mechaniker des Steeltrust besteht ein elastischer, aber unzerreißbarer Zusammenhang der Löhne. Wenn dieser steigt, zieht er jenen mit; aber umgekehrt hängt auch der Grenzkuli als regulierendes Schwergewicht an den Füßen des emporstrebenden Westlers und läßt ihn nur langsam empor.

So ist also die Höhe jedes besonderen Arbeitslohnes zu gegebener Zeit und an gegebenem Ort bestimmt.

Fußnoten
[1]
Vergl. mein »Bevölkerungsgesetz des T. R. Malthus«. Berlin-Bern 1900.
[2]
Vergl. mein »Grundgesetz der Marx'schen Gesellschaftslehre«. Berlin 1903.
[*]
Vermuteter Setzfehler. Im Original steht an diesen Stellen »überführt« und »unterführt«.
[**]
Vermuteter Setzfehler. Im Original steht an dieser Stelle »in der«.