Praktische Ökonomik und Volkswirtschaftspolitik
In: Annalen der Naturphilosophie, 1913, S. 307 - 351.
Abstract: In seinem 1913 veröffentlichten Vorlesungstext definiert Oppenheimer das Gebiet der praktischen Ökonomik und Volkswirtschaftspolitik: sie ist die Wissenschaft von der gemeinnützigen Wirtschaftskunst. Ihre Aufgabe besteht darin, die politische Ökonomie eines Volkes zur höchsten Blüte zu führen und ist überall da einzusetzen, wo Leistungen vollzogen werden müssen, die das Selbstinteresse und die privatwirtschaftliche Initiative nicht übernehmen kann, will, darf oder soll. Der weitere Beitrag behandelt die notwendigerweise zugrundeliegende Wertnorm und Instrumente der Volkswirtschaftspolitik. Er wird von der Wissenschaft als erstes Dokument einer Theorie der Sozialen Marktwirtschaft anerkannt werden müssen, wie sie in Deutschland durch Oppenheimers Schüler Ludwig Erhard zur Anwendung gebracht wurde.
[S. 307]Wir haben in dem Gebiete, das im allgemeinen als »praktische« oder »praktische und spezielle Nationalökonomie« bezeichnet zu werden pflegt, zwei Dinge streng zu unterscheiden, die zwar eine gewisse Verwandtschaft haben, aber nicht im mindesten identisch sind: die praktische Ökonomik einerseits und die Volkswirtschaftspolitik andererseits. Diese ist eine Kunst, jene eine Kunstlehre.
A. Die praktische Ökonomik, ihr Gebiet und ihre Grenzen.
Die praktische Ökonomik ist die wissenschaftliche Kunstlehre der Ökonomik. Die praktische verhält sich zur theoretischen Ökonomik wie etwa die wissenschaftliche Technologie zu den theoretischen Wissenschaften der Mathematik, Physik und Chemie, wie die Agrarwissenschaft zu den theoretischen Wissenschaften der Zoologie, Botanik und wieder der Chemie und Physik, wie die wissenschaftliche Medizin zur Anatomie, Physiologie usw.
Welches ist das Gebiet dieser angewandten Wissenschaft? Nun, es kann kein anderes sein als das Gebiet der theoretischen Wissenschaft selbst. Die theoretische Ökonomik beschäftigt sich nach meiner Begriffsbestimmung, die zwar noch nicht anerkannt ist, aber kaum je bestritten werden wird, mit der Gesellschaftswirtschaft der entfalteten Wirtschaftsgesellschaft. Sie ist eine soziale Wissenschaft, ihr Blick bleibt immer auf das Gesellschaftliche gerichtet, auf den Personenkreis der societas oeconomica, und die Funktion, die diesen Personenkreis verknüpft, die oeconomia socialis.
Aus diesem Grunde ist die praktische Ökonomik streng zu unterscheiden von einer anderen Kunstlehre, die ihr nahe verwandt und doch [S. 308] von ihr völlig verschieden ist, weil sie das gleiche Gesamtgebiet, aber von einem ganz anderen Gesichtspunkte aus, betrachtet. Es ist das die Privatökonomik oder Privatwirtschaftslehre, die ihren Blickpunkt nicht auf die Gesellschaft und ihre Wirtschaft, sondern umgekehrt auf die einzelne ökonomische Person und ihre Wirtschaft geheftet hält. Sie ist diejenige wissenschaftliche Kunstlehre, die den einzelnen wirtschaftenden Menschen befähigen will, seine eigene Einzelwirtschaft so ökonomisch wie möglich zu betreiben, d. h. die Wertdinge seines Bedarfs mit dem geringsten Aufwand zu beschaffen und so zu verwalten, daß der höchste Erfolg der Bedarfsdeckung erzielt wird. Wir werden ungefähr das richtige treffen, wenn wir sagen, überall da sei Privatwirtschaftslehre, wo es sich um die Kategorie der Rentabilität vom Standpunkt nicht der Gesamtheit, sondern einer einzelnen ökonomischen Person aus handelt. Alle diese Erscheinungen und die wissenschaftliche Kunstlehre davon bleiben außerhalb unseres Betrachtungsgebietes.
Aus diesem Grunde fällt insbesondere auch die gesamte Finanzwissenschaft außerhalb unseres jetzigen Gesichtskreises. Denn die Finanzwissenschaft ist die wissenschaftliche Kunstlehre von der Privatwirtschaft des Staates und der ihm untergeordneten öffentlichen Korporationen, der Provinzen, Kreise, Gemeinden etc. Denn alle diese Körperschaften sind, von der einen Seite gesehen, ökonomische Personen, und zwar Kollektivpersonen öffentlichen Rechtes, um die Terminologie meines Lehrbuches anzuwenden. Sie beschaffen und verwalten sämtlich Wertdinge, nämlich Güter und Dienste, und haben dabei dem Ideal der privaten Wirtschaftlichkeit so nahe wie möglich zu kommen. Sie sollen nicht mehr Steuern und persönliche Dienste von ihren Bürgern fordern als unerläßlich, und sollen sie so verwalten, daß die Bedürfnisse der Allgemeinheit so vollkommen wie möglich befriedigt werden. Zu dem Zwecke sollen die Beamten dieser Körperschaften genau so mit dem Gute der Steuerzahler »wirtschaften« wie ein guter Hausvater mit seinem eigenen Gute. Dazu weist sie eine wissenschaftliche Kunstlehre an, eben die Finanzwissenschaft, die, von dieser Seite aus gesehen, ein Teil der Privatwirtschaftslehre ist; und darum ist es aus inneren Gründen gerechtfertigt, geschieht nicht nur aus äußeren Gründen der Stoffverteilung, daß nach dem deutschen Vorgang seit Rau überall in der Welt die Finanzwissenschaft nicht als Teil der praktischen oder angewandten Nationalökonomie, sondern als eigene Disziplin vorgetragen wird.
[S. 309] Auf der anderen Seite ist es freilich ebenso gerechtfertigt, wenn diese Disziplin der Finanzwissenschaft dennoch nicht als Privatwirtschaftslehre den besonderen Fachschulen, sondern als dritter Hauptteil der Ökonomik der Universitas literarum vorbehalten bleibt. Denn die Fisci wirtschaften zwar wie ökonomische Privatpersonen, sind aber etwas anderes, haben ein anderes Ziel vor Augen, nicht das Ziel der persönlichen, sondern der allgemeinen Wohlfahrt. Sie sind in meiner Terminologie »öffentlich-rechtliche Personen des gemeinen Nutzens«. Die Beamten wirtschaften nicht für sich, sondern für die Gesellschaft. Darum gehört diese Kunstlehre in das System der Ökonomik; denn die Ökonomik ist ja die Lehre von der Gesellschaftswirtschaft einer Wirtschaftsgesellschaft.
Mit dieser Grenzbestimmung sind wir unserem Ziele, das Gebiet unserer Studien festzulegen, einen Schritt näher gekommen. Wir dürfen sagen: alle wissenschaftliche Lehre von der Wirtschaftskunst, die weder den Staatshaushalt noch den Privathaushalt betrifft, ist das Gebiet der praktischen Ökonomik. Wir haben all das Wissen zu vermitteln, das der praktische Volkswirt als Grundlage seiner Entschlüsse und Handlungen brauchen wird, wenn er weder als Privatmann in seinem eigenen, noch als Finanzpolitiker im fiskalisch-finanzpolitischen Interesse tätig ist.
Das ist zunächst nur eine negative Definition. Aber sie füllt sich doch sogleich mit positivem Inhalt, wenn wir sie genauer betrachten. Wenn wir nämlich sowohl das privatwirtschaftliche wie das finanzpolitisch-fiskalische Interesse ausschließen, bleibt als das Gebiet unserer Studien nur noch das wirtschaftliche Gemeininteresse übrig. Danach können wir die praktische Ökonomik definieren als die Wissenschaft von der gemeinnützigen Wirtschaftskunst.
Diese Kunst pflegt man herkömmlicherweise als Volkswirtschaftspolitik zu bezeichnen. Freilich, die meisten Autoren nennen nicht bloß die Kunst, sondern auch die Kunstlehre mit diesem Namen, wie man ja wohl auch sowohl die Staatskunst wie auch die Wissenschaft von der Staatskunst als »Politik« bezeichnet. Wir werden diesen Mißbrauch um der Klarheit willen vermeiden; eine Kunst und eine Wissenschaft von dieser Kunst sind sehr verschiedene Dinge. Jene ist ein Wissen, und diese ist ein Können. Es kann jemand die ganze Wissenschaft einer Kunst am Schnürchen haben, ein Musiker z. B. Harmonik und Kontrapunkt, und ist doch ein stümperhafter Komponist; [S. 310] und es kann ein anderer keine Ahnung von der Wissenschaft seiner Kunst haben und ist doch ein Weltgenie, wie der junge Mozart.
Darum werden wir den Namen: »praktische Ökonomik« für die Kunstlehre beibehalten; die Kunst der gemeinnützigen Wirtschaft selbst aber als Volkswirtschaftspolitik bezeichnen.
B. Die Volkswirtschaftspolitik
a) Die Träger der Kunst
Wer ist oder wer sind die Träger, die Ausübenden dieser Kunst der gemeinnützigen Wirtschaft? Nun, vor allem der Staat!
Eine terminologische Bemerkung voraus. Wenn wir hier vom »Staat« sprechen, so wollen wir unter dem Begriffe ein für alle Male verstehen nicht nur den »Staat« im engeren staatsrechtlichen Sinne, also z. B. den Staat Preußen, sondern den »Staat« in seiner ökonomischen Bedeutung als »öffentlich-rechtliche ökonomische Kollektivperson des gemeinen Nutzens«, um die Bezeichnung meiner »Theorie« zu gebrauchen. Das ist der Staat selbst und seine administrativen Unterglieder und Bestandteile mit ihren Zwangsrechten auf Steuerleistung, Dienstleistung und Gehorsam gegen die von ihnen erlassenen Gesetze und Verordnungen innerhalb des Kreises ihrer Zuständigkeit. Unter dem Worte »Staat« verstehen wir also die Reiche, die ihnen eingegliederten Bundesstaaten und deren untergeordnete Verwaltungseinheiten bzw. deren Behörden, also z. B. in Preußen die Provinzen, Regierungsbezirke, Kreise, Amts- und Gutsbezirke und Gemeinden.
In diesem Sinne ist der Staat der vornehmste Träger der gemeinnützigen Wirtschaftskunst. Ist er doch die Zusammenfassung ganz des gleichen Personenkreises zu politischer Kooperation, der in der Volkswirtschaftsgesellschaft zu wirtschaftlicher Kooperation verbunden ist! Und ist doch der Staat, soweit er »ökonomische Person des gemeinen Nutzens« ist, - er ist außerdem noch ökonomische Person des Klassennutzens der herrschenden Klasse - auf jeder höheren Stufe seiner Entwicklung eine Institution zur Beförderung der Wohlfahrt seiner Bürger! Dazu gehört außer dem Schutze des Friedens nach außen und des Rechts und der Ordnung nach innen, außer der Sorge für die öffentliche Gesundheit, die öffentliche Erziehung usw., vor allem auch die Sorge für die wirtschaftliche Wohlfahrt der Gesamtheit.
[S. 311] Auf den Schultern des »Staates« in diesem Sinne lag in früheren Zeiten die Sorge für die gemeinnützige wirtschaftliche Tätigkeit fast allein. Die kleinsten Aufgaben fielen den kleinsten Verbänden, den Gemeinden und Gauen, die größeren den größeren, die größten Aufgaben der politischen Gesamtheit im ganzen zu. Neben dem Staate stand für einzelne Aufgaben der wirtschaftlichen Wohlfahrt eigentlich nur noch eine einzige halbstaatliche Organisation ein, die Kirche, deren Hauptarbeitsgebiet auf diesem Felde die Armenpolitik war. Noch heute überwiegt der Einfluß und die Tätigkeit des Staates in der gemeinnützigen Wirtschaftskunst alle anderen Einflüsse, überwiegt sie so stark, daß immer noch manche Forscher die praktische Nationalökonomie mit der staatlichen Volkswirtschaftspolitik identifizieren. Aber, was einst annähernd richtig war, ist heute viel zu eng geworden. Mit der Ausweitung der Wirtschaftskreise von der Stadt- zur Volkswirtschaft und dann zur Internationalwirtschaft, mit der Verdichtung der Bevölkerung auf der Fläche, hat sich die gesellschaftliche Arbeitsteilung und -Vereinigung in ungeheurem Maße vermehrt und verfeinert, sind die wirtschaftlichen Kräfte ins Ungeheure gewachsen, während gleichzeitig die früher fast unbeschränkte Macht des Staates über das Wirtschaftsleben seiner Bürger aus den gleichen Ursachen immer mehr eingeengt wurde. Immer mehr Freiheit mußte man der privatwirtschaftlichen Initiative der einzelnen Bürger lassen, immer mehr staatliche Funktionen den eigentlichen Beamten-Behörden abnehmen und der Selbstverwaltung zuweisen. So entstanden gleichsam Staaten im Staate, gewaltige private Organisationen der Interessenvertretung und nicht minder gewaltige private Organisationen für die Beförderung des gemeinen Nutzens im allgemeinen und der wirtschaftlichen Wohlfahrt im besonderen.
Von den leitenden Beamten der letztgenannten Organisationen gilt unser Kennzeichen durchaus, daß sie mit ihrer Tätigkeit weder privatwirtschaftliche noch finanzpolitische Absichten verfolgen. Sie treiben gemeinnützige Wirtschaftskunst, ihre Absicht ist auf die Beförderung der gemeinen wirtschaftlichen Wohlfahrt gerichtet. Das gilt z. B. für die freien Vereinigungen »gegen Verarmung und Bettelei«, die nicht nur Almosen geben, sondern bestrebt sind, durch zweckentsprechende Maßnahmen der Arbeitsbeschaffung, der Darlehnsbeschaffung usw. Verarmende oder Verarmte wieder in den Sattel zu heben. Sie treiben »Armenpolitik«, und treiben sie, wenn sie gut geleitet sind, nach den Grundsätzen, die ihnen die wissenschaftliche Kunstlehre der praktischen [S. 312] Ökonomik an die Hand gegeben hat. Dasselbe gilt von den Gründern und Leitern mancher Genossenschaft, die, ohne im mindesten selbst der Stütze durch andere zu bedürfen, der Organisation der Kleinen und Schwachen dasjenige darboten, was unser großer Volksfreund Aime Huber die »aristokratische Hilfe« nannte: Rat und Tat durch Mitarbeit und hier und da durch Darlehen. Wenn »Vater Raiffeisen« aus rein gemeinnützigen Beweggründen seine ländlichen Kreditkassen schuf, um dem Vieh- und Landwucher ein Ende zu machen, der die Bauern vernichtete, dann trieb er »Sozialpolitik«.
Aber selbst wenn diejenigen Verbände, die lediglich den egoistischen Privatinteressen der Wirtschaft ihrer Mitglieder dienen wollen und sollen, selbst sie können, sobald sie eine gewisse Größe erreicht haben, nicht mehr rein privatwirtschaftlichen Erwägungen folgen. Die großen Kapitalistenverbände, die Vereine der Industriellen, die Kartelle und Trusts, die ungeheuer zahlreichen Gewerkschaften der Arbeiter, die Verbände der Genossenschaften in Stadt und Land haben zwar keine öffentliche Stellung wie Behörden, aber sie haben oft mehr Macht und Einfluß, als kleine Staaten im Ganzen besitzen, und sie müssen bald erkennen, daß ihrer Macht auch eine steigende Verantwortung gegenüber der Gesamtheit, dem gemeinen Nutzen, entspricht. Der Schuhmachermeister Krause kann seinen einen Gesellen entlassen und seine Werkstatt auf eine ihm beliebige Zeit zusperren, wenn seine Verhältnisse es ihm gestatten. Und der Eisenbahnarbeiter Müller kann wegen Differenzen mit seinem Bahnmeister die Arbeit plötzlich niederlegen: in beiden Fällen wird das gemeine Wohl nicht im mindesten betroffen. Wenn aber die sämtlichen Kohlegruben Deutschlands ihre Arbeiter entlassen, oder sämtliche Eisenbahner in den Streik treten, so wird die allgemeine Wohlfahrt auf das Tiefste erschüttert. Und darum müssen die leitenden Männer, die solche Entscheidungen zu treffen haben, bis herab zum letzten Arbeiter, der über die Erklärung oder die Beendigung eines Ausstandes mitzubestimmen hat, sich nicht nur von privatwirtschaftlichen, sondern auch, und je länger je mehr, von volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten leiten lassen. Sie dürfen z. B. oftmals nicht von einer zur Zeit bestehenden Übermacht allzu rücksichtslos Gebrauch machen, dürfen den Gegner nicht »bis zur Leichenblässe zur Ader lassen«, sondern sie müssen den Rückschlag ihrer Handlung auf andere Zweige der Volkswirtschaft, die Reaktion der öffentlichen Meinung, die politische Lage nach außen, oft genug auch die wahlpolitische [S. 313] Lage im Inneren usw. mit in Rechnung setzen; kurz, sie haben Volkswirtschaftspolitik, d. h. gemeinnützige Wirtschaftstätigkeit zu treiben, haben das Allgemein-Interesse so weit wie möglich mit ihrem Privatinteresse am höchsten Lohne oder der höchsten Dividende auszugleichen und abzustimmen. Sie treiben Lohnpolitik.
Ganz das Gleiche gilt für die loseren Interessenverbände, die nicht im wirtschaftlichen, sondern im politischen Gewande auf der öffentlichen Bühne agieren, für die Parteien und ihre Organe, die Presse. Eine Partei ist selten, wenn je, auf die Dauer etwas anderes als ein Verband zur Durchsetzung wirtschaftlicher Ziele mit politischen Mitteln, und eine politische Zeitung ist immer das Organ einer Partei, wenn auch oft genug einer erst sich bildenden, neuen, und zuweilen das einer schon abgestorbenen, toten. Auch in der Partei und in der Parteipresse dürfen die speziellen wirtschaftlichen Interessen der Gruppe nicht allzu einseitig, privatwirtschaftlich, vertreten werden. Selbst die schlimmsten Fanatiker müssen wenigstens so tun, als verföchten sie nicht den Gruppennutzen, sondern das Gemeinwohl, und das können sie nur, wenn sie mit einem Zerrbild der praktischen Ökonomik ein Mäntelchen über ihre privatwirtschaftliche Blöße hängen. Die ernsteren Parteimänner und Parteiblätter werden sich, gerade wie die Kartell-Leiter oder Gewerkschaftsführer, nicht nur dem Schein nach, sondern allen Ernstes so weit von gemeinnützigen Gesichtspunkten leiten lassen, wie ihnen das möglich ist, ohne die ihnen anvertrauten Privatinteressen allzu sehr preiszugeben. Darum hat jeder Parlamentarier, jeder praktische Politiker, und in Staaten mit konstitutioneller Verfassung sogar jeder Wähler Volkswirtschaftspolitik zu treiben, und sollte sich dabei von der Kunstlehre der praktischen Ökonomik beraten lassen.
b) Die Aufgaben der Volkswirtschaftspolitik
Die Aufgabe der gemeinnützigen Wirtschaftskunst besteht darin, die politische Ökonomie des betreffenden Volkes zur höchsten Blüte zu führen. Wie kann das geschehen? Was kann dazu geschehen?
Wäre die politische Ökonomie eines Volkes ein toter Mechanismus, so wäre die Aufgabe der Wirtschaftskunst von unbegrenztem Umfang. Sie müßte den Mechanismus konstruieren, aufbauen, in Betrieb setzen und im Betriebe halten, ihn nach Bedarf erweitern, bei Beschädigungen wiederherstellen, unter Umständen durch einen neuen, vollkommneren ersetzen. Ungefähr so sahen die Merkantilisten die politische Ökonomie [S. 314] an, und deshalb bestand ihre gesamte Ökonomik eigentlich aus nichts anderem als einer wissenschaftlichen Kunstlehre; sie war ganz oder fast ganz praktische Ökonomik.
Aber wir wissen seit den Physiokraten und Adam Smith, daß die politische Ökonomie der Völker nicht ein toter Mechanismus, sondern eine Art von Organismus, ein Supraorganismus ist, in weiten Grenzen befähigt, sich selbst aufzubauen, in Betrieb zu halten, sich neuen Bedingungen der Umwelt anzupassen, zu wachsen und Störungen selbsttätig auszugleichen. Wir wissen, daß die bewegende Kraft dieses Supraorganismus das privatwirtschaftliche Eigeninteresse ist, das sich im Wettkampf der Konkurrenz durchsetzt und dadurch die »Selbststeuerung« betätigt, durch die der Wirtschaftskörper seine beiden großen Aufgaben der Produktion und Distribution vollzieht, der Gütererzeugung und Güterverteilung, um mich der üblichen Ausdrücke zu bedienen.
Diese Erkenntnis mußte den Aufgabenkreis der Volkswirtschaftspolitik stark einengen. Wie stark, das hängt natürlich von der Höhe der Schätzung ab, die der einzelne Theoretiker von der regulierenden Kraft des Selbstinteresses hat. Wenn er, wie manche extrem Liberalen, die sog. Manchesterianer, glaubt, daß sie allein, ohne jede Nachhilfe durch den bewußten, zwecksetzenden staatsmännischen Willen, den höchsten denkbaren Zustand der Kraft und Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft herbeiführen könne, ja müsse, dann wird er der Wirtschaftskunst das Wirkungsfeld fast bis zum Verschwinden klein abstecken. Wenn er dagegen, wie unsere Kathedersozialisten, der Meinung ist, das Selbstinteresse sei eine Elementarkraft, die, wie das Feuer, nur »bezähmt und bewacht« »wohltätig« wirken kann, so wird er geneigt sein, es durch gemeinnützige Wirtschaftspolitik eben zu »bezähmen und zu bewachen«, d. h. er wird dieser das Feld viel weiter abstecken.
Aber das sind Dinge, die uns erst später, dann aber ausführlich, zu beschäftigen haben. Vorerst haben wir das Aufgabengebiet der Volkswirtschaftspolitik noch nicht materiell, sondern erst formell abzustecken. Und da dürfen wir sagen, und sowohl der Manchestermann wie der Kathedersozialist, ja sogar der marxistische Kollektivist, der den freien Wettbewerb so gut wie ganz ausgerottet wünschte, wird uns, freilich jeder mit einer anderen reservatio mentalis, zustimmen, - da dürfen wir sagen: die Aufgabe der Volkswirtschaftspolitik besteht darin, überall da einzusetzen, wo Leistungen vollzogen werden müssen, [S. 315] die das Selbstinteresse, die privatwirtschaftliche Initiative, nicht übernehmen kann, nicht übernehmen will oder nicht übernehmen darf und soll.
Diese Begriffsbestimmung trifft sogar für die soeben betrachteten Grenzfälle zu, wo eine im wesentlichen privatwirtschaftlich motivierte Person aus volkswirtschaftspolitischen Motiven ihre Handlungen »dämpft«. Hier wird das privatwirtschaftliche Interesse, das bestimmte Leistungen als solche nicht übernehmen will, durch kräftigere Motive beiseite geschoben, und das gemeinnützige Interesse tritt an ihre Seite oder an ihre Stelle.
Um so mehr trifft die Begriffsbestimmung die reinen Fälle. Betrachten wir sie näher:
Wann kann die privatwirtschaftliche Initiative gewisse, im Interesse der Gesamtheit erforderliche oder als erforderlich betrachtete Leistungen nicht übernehmen? Zwei Fälle sind möglich: entweder langt die wirtschaftliche Kraft der zunächst Beteiligten nicht aus, oder ihre geistige Kraft, ihr Bildungs- und Schulungsgrad, ist zu gering. Um ein Beispiel für den ersten Fall anzuführen, so ist die private Initiative in der Regel wirtschaftlich zu schwach, um Verbesserungen der geographischen Grundlage der Gesellschaft im großen Stile vorzunehmen. Die Eindeichung von Meeresküsten und Strömen, die Verbauung von Wildwässern in den Gebirgen, die Aufforstung kahler Gebirge, die Festigung von Dünen durch Anpflanzung, die Entsumpfung oder Bewässerung ganzer Landstriche durch Wasserbauten u. dgl. sind in der Regel - und waren jedenfalls vor der Periode der großen Kapitalsvereinigungen - Unternehmungen, denen nur große Zwangsverbände, d. h. der »Staat« in unserem Sinne, wirtschaftlich gewachsen ist. Dasselbe gilt von der Gewinnung neuen Siedellandes für große Volksmengen durch großartige Maßnahmen, die die Bekämpfung von Menschen- und Viehseuchen und Pflanzenschädlingen bezwecken, etwa durch Vernichtung der Stechmücken, die die Malaria, das Gelbfieber, die Schlafkrankheit verursachen, oder der Tsetsefliege, oder des Coloradokäfers, der Reblaus, der Heuschrecken. Hier kann überall der einzelne Wirt nichts Durchgreifendes tun, weil seine Mittel eben in der Regel nur ausreichen werden, um auf seinem eigenen Grundstück das Nötige zu tun; das aber ist ganz zwecklos, da hier nur dann ein Erfolg erreicht werden kann, wenn alle Beteiligten gleichzeitig mit gleicher Kraft einsetzen. Wo diese vereinte Kraft ausreicht, mag ein freier Zweckverband die gemeinnützige Leistung übernehmen; [S. 316] wo sie nicht ausreicht, muß ein mächtiger Helfer, in der Regel der Staat, eingreifen.
Ebenso ist die private Initiative bis auf die Neuzeit herauf regelmäßig zu schwach gewesen, um die Verkehrseinrichtungen zu schaffen, deren die Volkswirtschaft zu ihrem Wachstum und ihrer Entfaltung so dringend bedarf. Wir wissen aus der theoretischen Ökonomik, daß die Integration getrennter kleiner Wirtschaftskreise zu einem größeren mit ihren segensreichen Folgen für die gesellschaftliche Kooperation und den gesellschaftlichen Wohlstand geknüpft ist an das Bestehen natürlicher oder die Schaffung neuer künstlicher Verkehrswege. Diese überaus wichtige, gesellschaftswirtschaftliche Tätigkeit ist bis auf die allerneueste Zeit hinaus niemals Sache der privaten, sondern der gemeinnützigen Initiative, und zwar regelmäßig der »staatlichen« gewesen. Der Staat selbst oder seine administrativen Glieder, die Provinzen, Kreise, Gemeinden, oder wohl auch staatlich eingerichtete Zweck- und Zwangsverbände mit Steuerbefugnis haben die Straßen und Chausseen, Kanäle, Häfen und Reeden, Schleusen und Brücken gebaut oder ausgebaut, die Ströme vertieft, gerade gelegt und die Fahrtrinnen unterhalten usw. Erst in neuester Zeit haben große kapitalistische Gesellschaften Eisenbahnen, städtische Flach-, Hoch- und Untergrundbahnen, transozeanische Kabel und Stationen für drahtlose Telegraphie usw. in nicht gemeinnütziger, sondern privatwirtschaftlicher Absicht begründet.
Ebenso wie der Mangel an wirtschaftlicher Kraft, kann auch der an geistiger Kraft es bewirken, daß die private Initiative gewisse wichtige Aufgaben nicht übernehmen kann. Der Staat oder vorgeschrittene Landwirte wünschen z. B. in einem rückständigen Bauernbezirke eine neue Frucht, z. B. die Kartoffel, oder eine neue Kulturmethode, z. B. die künstliche Düngung, oder ein neues Werkzeug, z. B. die Drillmaschine, einzuführen. Die Bauern lehnen aus üblem Konservatismus ab. Jetzt greift im Interesse der Landeskultur die Wirtschaftspolitik ein: der Staat oder die Landwirtschaftsgesellschaft oder ein landwirtschaftlicher Kreis läßt Vorträge halten, sendet Wanderlehrer herum, verteilt umsonst Aussaat, setzt Prämien für die beste Ernte fest, richtet Versuchsfelder ein usw., bis die Absicht erreicht ist. Oder Friedrich der Große will in seinem Lande eine neue Industrie pflanzen. Von seinen Untertanen kennt niemand die Kunst; er zieht durch große Vergünstigungen fremde Handwerker und Fabrikanten ins Land, subventioniert die neue Fabrik mit Geld und Steuerfreiheit, schützt ihr Erzeugnis durch Zölle usw.: Volkswirtschaftspolitik!
[S. 317] Das zweite Hauptgebiet der Volkswirtschaftspolitik betrifft die Gesamtheit derjenigen gemeinwirtschaftlichen Aufgaben, die das private Interesse nicht übernehmen will. Wir haben soeben schon einen Fall gestreift, wo das aus geistiger Schwäche geschah: unsere Bauern wollten die neue Methode nicht anwenden, weil sie ihren Vorteil nicht erkannten. Aber diese Fälle haben wir hier weniger im Auge, sondern umgekehrt gerade diejenigen, wo es sich um Aufgaben handelt, die das Privatinteresse nicht übernehmen will, weil es seinen Vorteil richtig erkennt hat. Hier sind wieder zwei Fälle zu unterscheiden. Der erste liegt vor, wenn eine ökonomische Person bei einer Maßnahme, die nicht nur im allgemeinen Interesse liegt, sondern auch ihr selbst nützlich ist, unlautererweise noch Sondervorteile herausschlagen will. Das ist z. B. nicht selten bei der »Regulierung«, d. h. der Zusammenlegung und Neuverteilung der in allzu kleine Parzellen zersplitterten Felder, und bei Aufstellungen von städtischen Straßenbauplänen, auch bei der Anlage von Eisenbahnen, Chausseen, Kanälen usw. der Fall gewesen, wenn einer oder mehrere Grundbesitzer der der Gesamtheit und ihnen offenbar nützlichen Reform Widerstand entgegenstellten, um mehr als den gerechten Anteil an dem gesamten Gewinn einzuheimsen. In solchen Fällen kann nur der Staat kraft seiner Gewalt helfen. Er expropriiert den Widerspenstigen, indem er von seinem unveräußerlichen Obereigentum Gebrauch macht, oder er erläßt ein für alle Male Gesetze, die solchen Widerstand unmöglich machen. Das Regulierungsgesetz der preußischen Regierung, das der Zersplitterung der Äcker ein Ende machte, die Lex Adickes, die das Umlegungsverfahren bei städtischen Bauplänen regelt, sind Maßnahmen der Volkswirtschaftspolitik.
Greift hier der Staat zwingend ein, vergewaltigt er den bösen, antisozialen Willen, der sich einer nötigen Verbesserung in den Weg stellt, so hat er wenigstens heute keine Zwangsmittel mehr dort, wo es sich um den nicht unlauteren, sondern legitimen Willen von Privatpersonen handelt, die eine im öffentlichen Interesse nötige Aufgabe aus dem Grunde nicht übernehmen, weil sie sich keinen entsprechenden Vorteil davon erwarten. Man kann heute dem Privatmann nicht zumuten, Arbeit und Geld an Dinge zu wenden, die ihm nicht den üblichen Gewinn an Arbeitslohn und Zins für sein Kapital abwerfen. Sind solche Dinge im allgemeinen Wirtschaftsinteresse erforderlich, so muß eben die gemeinnützige Aktion des Staates oder eigener Verbände einsetzen. Hierher gehört heute z. B. die Anlage von Landstraßen, die Aufforstung [S. 318] von kahlen Berghängen, die Verbauung von Wildwässern. Der private Reichtum ist, im Gegensatz zu früheren Zeiten, heute unzweifelhaft stark genug, um durch das Mittel der Kapitalsvereinigung solche Werke durchzuführen; aber sie würden in der Regel nicht rentieren, würden keinen oder nur einen zu geringen Ertrag bringen, und so muß eben die Volkswirtschaftspolitik die Lücke füllen, die das Privatinteresse nicht füllen will, weil sie es unter diesen Umständen nicht wollen kann.
Als den dritten Fall, wo die gemeinnützige Initiative an die Stelle der privaten zu treten hat, bezeichneten wir diejenigen wirtschaftlichen Werke, die das Privatinteresse wohl übernehmen will, aber nicht soll und darf, weil das Gemeininteresse darunter leiden würde.
Hier stehen wir an dem Punkte, wo das wichtigste wissenschaftliche und praktische Problem unseres ganzen Gebietes vor uns aufsteht, der schon einmal gestreifte Streit um das Herrschaftsbereich der Volkswirtschaftspolitik.
c) Der Streit um das Herrschaftsbereich der Volkswirtschaftspolitik
Es ist das die große Frage, wie weit dem Privatwirtschaftsinteresse die Grenze zu stecken ist, welches Feld man ihm ganz und gar uneingeschränkt überlassen darf und soll, auf welchem Gebiete man ihm nur eine durch die Staatsgewalt beschränkte und beaufsichtigte Freiheit gewähren darf und soll, und welches Gebiet ihm ganz und gar gesperrt werden muß.
Grundsätzlich ist das Problem ja überaus leicht zu lösen: überall dort, wo das Gemeininteresse geschädigt werden kann, ist das Privatinteresse einzuschränken oder auszuschließen. Sehr schön! Aber man sieht sofort, daß man mit dem Satze angebrachtermaßen kaum je etwas anfangen kann, sobald man damit an eines der unzähligen Einzelprobleme herantritt, die uns auf Schritt und Tritt begegnen werden. Dann zeigt sich, daß der Satz »leer« ist, keinen praktischen Fingerzeig gibt. Es ist damit gerade so wie mit dem Hauptsatz der Ethik, den Kant aufgestellt hat: "Handle so, daß Dein Handeln die Regeln allen Handelns sein kann." Auch sehr schön! Der Grundsatz sagt mir allenfalls, daß ich nicht raubmorden darf; aber er sagt mir nicht im mindesten, wie ich mich zu verhalten habe, wenn ich zwischen zwei gleich wichtigen Pflichten mich zur Entscheidung gezwungen sehe. Darf ich, wie Ibsens »Nora«, eine Urkundenfälschung begehen, um einem teuren Menschen das Leben zu retten? Darf ich, wie der Kirchenheilige, in die [S. 319] Kirche ein- und den Opferstock aufbrechen, um Almosen zu geben? Darf ich lügen, um einen Totkranken zu schonen? Stehlen, um meinem Vaterlande wichtige militärische Dokumente zu beschaffen?
Gerade so sagt uns unser Hauptsatz der praktischen Ökonomik fast nichts zur Entscheidung über all diejenigen Fälle, wo das private Interesse mit dem allgemeinen in Konflikt gerät, wo wir zwischen den beiden eine Entscheidung zu treffen haben. Nur die allerextremsten Fälle lassen sich mit einiger Sicherheit entscheiden, und auch diese nur vom Standpunkte einer bestimmten Zeit und gesellschaftlichen Reife, und nicht einmal diese ohne jeden denkbaren Widerspruch. Um ein paar Beispiele anzuführen, so ist man jetzt unter den Kulturvölkern einhellig der Meinung, daß der Mensch nicht Gegenstand des Privateigentums und der privatwirtschaftlichen Ausbeutung sein dürfe, und hat demzufolge die Sklaverei überall gesetzlich verboten. Aber die Sklaverei hat Jahrtausende lang als dem gemeinen Wohle nützlich gegolten, und noch heute leben in den amerikanischen Südstaaten und in Brasilien viele Männer, die ihre Neu-Einführung wünschen; ja, in den Südstaaten ist sie unter der Maske der Verleihung von strafgefangenen Negern zur Feldarbeit tatsächlich, wenn auch nicht formell, hier und da wieder eingeführt worden. - Oder ein anderes Beispiel: die Erfahrung hat gelehrt, daß die Verleihung von staatlichen Hoheitsrechten an koloniale Gesellschaften wie die ostindische Kompagnie dem allgemeinen Wohle schädlich ist; darum gibt man heute derartige Privilegien in der Regel formell nicht mehr aus; aber der Kongostaat sieht einer solchen Kompagnie überaus ähnlich. -
Wo es sich aber nicht um so extreme Fälle handelt, da läßt uns unser praktisch-nationalökonomisches Axiom ganz und gar im Stich. Das aber ist sehr traurig, nein mehr! Das ist für uns geradezu eine Kalamität. Denn in den extremen Fällen braucht kein Verständiger mehr unseren Rat, aber es sind gerade die nicht extremen Fälle, wo der praktische Staatsmann und Volkswirt sich um Rat an die wissenschaftliche Kunstlehre wendet, um seine Entscheidung treffen zu können - und gerade hier versagt sie durchaus. Denn zwischen den Vertretern der Wissenschaft besteht hier noch nicht einmal im Gröbsten der Anfang einer Übereinstimmung.
Dieser Streit der Meinungen hat die Wissenschaft seit ihrer ersten Entstehung beschäftigt, ja, man kann sagen, daß sie an ihm erwachsen ist. Die ersten, noch stark chaotischen Gedanken, die sich um einzelne ökonomische Probleme gruppierten, faßt man, wie bekannt, unter dem [S. 320] Namen »Merkantilismus« zusammen. Er wird oft als das erste ökonomische »System« bezeichnet, ist es aber nicht. Denn ein System kann nichts anderes als eine Theorie sein, der Merkantilismus ist aber fast durchaus praktische Ökonomik. Und diese Kunstlehre des Merkantilismus ist charakterisiert durch den geradezu fanatischen Glauben an die Allmacht des Staates und des Staatsleiters und hat darum die Tendenz, die privatwirtschaftliche Initiative auf das äußerste zurückzudrängen, um dafür der staatlich-gemeinnützigen Initiative ein möglichst großes Feld zu geben. Der Staat reguliert im allgemeinen Nutzen Industrie, Ackerbau, Handel und womöglich die Bewegung der Bevölkerung durch Zölle, Prämien, Subventionen, Preis- und Lohntaxen, Aufsichtsbeamte, durch Ein- und Ausfuhrverbote, Zunftgesetze, Gesellen- und Lehrlingsordnungen usw.; er bevormundet das wirtschaftliche Leben jedes Einzelnen auf Schritt und Tritt.
Dagegen erhob sich mit den Physiokraten zuerst jene Schule der Wissenschaft, die nunmehr umgekehrt womöglich das ganze Wirtschaftsleben der Gesellschaft uneingeschränkt dem Privatinteresse überlassen wollte. Ihr Feldgeschrei ist das berühmte und berüchtigte: "laissez faire, laissez passer", "laßt die Gewerbe frei und öffnet die Grenzen". Für diese Denker der sog. klassischen Schule, Adam Smith und seine Nachfolger: Ricardo, Malthus und die jüngeren Briten, ist der Staat »das böse Tier«; er spielt, wenn er die Wirtschaft regulieren will, nur immer die Rolle der Kuh im Porzellanladen; er kann mit seinen plumpen Fingern die wundervolle prästabilierte Harmonie aller Interessen nur stören und zerstören. Für diese Schule besteht alle praktische Nationalökonomie nur darin, sämtliche Gesetze wegzuräumen, die der freien Bewegung der Einzelnen entgegenstehen. Der Staat hat keine wirtschaftliche Aufgabe, er hat sich auf den Grenz- und Rechtsschutz zu beschränken. Es bedarf keiner gemeinnützigen Wirtschaft, denn das Privatinteresse läuft dem Gemeininteresse überall und immer parallel. Wer sein Privatinteresse verfolgt, fördert eben dadurch nolens volens, und zwar auf die denkbar wirksamste Art, das Gemeininteresse.
Dieser extremen Auffassung erstanden dann wieder Gegner in den Personen von Sismondi, Carey, Friedrich List und den Neomerkantilisten von der kathedersozialistischen und wirtschaftshistorischen Schule, deren Führer in Deutschland Adolf Wagner und Gustav Schmoller sind. Sie stecken der gemeinnützigen Initiative das Feld wieder viel weiter und der privatwirtschaftlichen wieder viel enger. [S. 321] Namentlich durch die Handels- und Zollpolitik wollen sie im gemeinen Nutzen ausgleichend, und hier fördernd, dort hemmend einwirken; aber sie weisen dem Staat und den übrigen Trägern der gemeinnützigen Wirtschaftspolitik auch noch zahlreiche andere Aufgaben zu, die das »Manchastertum« der Briten ihnen sperren wollte: den Betrieb von eigenen Großunternehmungen usw. Sie nähern sich hierdurch stark dem marxistischen Sozialismus, der die Entwicklung zu einer Wirtschaftsgesellschaft voraussagt, in der die Privatwirtschaft ganz und gar verschwunden ist, und die gemeinnützige Wirtschaft "durch und für die Gesellschaft" das Feld ganz allein beherrscht, abgesehen vielleicht von einigen kümmerlichen Resten der Familien-Haushalts-Wirtschaft.
Zwischen diesen Schulen besteht noch heute der Streit ungemindert fort. Beide Parteien führen gute Gründe für sich ins Feld: die Anhänger des laissez faire weisen mit Recht darauf hin, daß nur der Sporn des freien Wettbewerbs alle produktiven Kräfte der Nation entfalten könne, daß Bevormundung und Reglementierung Schlaffheit, Stockung, Armut bringe, daß keine Bureaukratie der Welt die durchschnittliche Fähigkeit, Ausbildung und Hingabe haben könne, um in ein so millionenfach verzweigtes Gewebe wie eine moderne Volkswirtschaft anders als verhängnisvoll einzugreifen. Aber ihre Gegner sagen mit Recht, daß der uneingeschränkte freie Wettbewerb zu grauenhaften Folgen des Volkswohl, zu einer verrückten Verteilung des Einkommens und des Vermögens, zum Raubbau an der Volkskraft geführt hat und führen mußte - und daß sie lieber auf einen Teil des Reichtums verzichten wollen, wenn nur der Rest vernünftiger unter die Glieder des Volkes verteilt würde, so daß alle wenigstens existieren könnten.
Sie werden wissen, wie ich versucht habe, diesen Streit zu schlichten. Der freie Wettbewerb kann nur unter ganz bestimmten Bedingungen zu solcher Verzerrung der volkswirtschaftlichen Güterverteilung führen. Solange diese Bedingungen fortbestehen, muß der gemeinnützigen Wirtschaft ein breiter Raum gegönnt werden, um die schärfsten Spitzen der Entwicklung abzustumpfen, um den gröbsten Raubbau an der Nation zu verhindern; wenn aber diese Bedingungen beseitigt sind, darf man der Privatwirtschaft unbesorgt das breiteste Feld einräumen: dann wird die freie Konkurrenz nur noch eine Kraft des Segens und nicht mehr des Fluches sein.
Und diese Bedingungen sind zu beseitigen, wenn meine Anschauungen von den sozialen Zusammenhängen richtig sind. Ich will [S. 322] sie einmal hier erwähnen, damit niemand glaube, ich dächte meine Flagge zu verstecken. Nach meiner Ansicht, die hoffentlich durch gute Argumente gestützt ist, ist der »Kapitalismus«, dieses unsinnige System der volkswirtschaftlichen Verteilung, nur dort möglich, wo der Grund und Boden durch Sperrung des größten Teils der Fläche in der Rechtsform des Großgrundeigentums in ein Monopol verwandelt worden ist; - und wo infolgedessen zwischen der Volksmasse einerseits und der besitzenden Klasse andererseits ein Klassen-Monopolverhältnis besteht. Das ist die einzige haltbare Erklärung für die Entstehung von Mehrwert im Wirtschaftsverkehr zwischen freien Menschen, und der ganze Kapitalismus hat kein anderes Problem als das des Mehrwerts.
Von diesem Standpunkt aus erschöpft sich für mich fast die gesamte praktische Nationalökonomie in der Forderung, jene Bodensperre, jenes Klassen-Monopol zu zerbrechen, und zwar durch eine umfassende innere Kolonisation. Wenn das einmal geschehen sein wird, und es wird einmal geschehen, wird über praktische Nationalökonomie kein eigenes Kolleg mehr gehalten werden müssen.
Bis wir aber soweit sind, können noch einige Minuten der Weltgeschichte, d. h. einige Generationen vergehen; bis dahin brauchen wir Volkswirte und Politiker, und darum müssen wir unseren Schülern soviel praktisches Wissen mit auf ihre Laufbahn geben, wie wir ihnen zu geben haben, um sich in dieser schweren und verworrenen Zeit zurechtfinden zu können. Und darum werde ich Ihnen von meiner sog. »Utopie« nur noch im Vorübergehen dort sprechen, wo es zum Verständnis unerläßlich ist.
Kehren wir nach dieser hoffentlich nicht überflüssigen Abschweifung wieder zu unserem Thema zurück. Ich sagte Ihnen, zwischen den Ökonomisten bestehe der alte Streit über das Herrschaftsbereich der Wirtschaftspolitik ungemindert fort; es sei noch nicht einmal im Gröbsten der Anfang einer Verständigung erreicht. Daraus folgt natürlich, daß in jedem besonderen Falle, vor jedem einzelnen Problem die Ansichten derartig auseinander weichen, daß es komisch anzuschauen wäre, wenn es nicht so sehr tragisch wäre.
So sehr tragisch! Sehr ernst und schwer ist unsere Zeit, eine Zeit fast schwindelerregender Umwälzungen und Neuschöpfungen gerade auch auf dem Gebiete der Wirtschaft. Tagtäglich treten neue praktische Probleme an unsere Öffentlichkeit, an unsere Staatsmänner heran, die drohend ihre Lösung fordern. Die Interessen der einzelnen Gruppen [S. 323]branden wild gegeneinander: die Produzenten stehen gegen die Konsumenten, die ländlichen Produzenten gegen die städtischen, alle zusammen gegen den Handel, der Standhandel gegen den Hausierhandel, die Arbeiter gegen die Arbeitgeber, die Selbständigen gegen die Trusts und Kartelle usw. Überall soll der Staat, die Gemeinde, soll das öffentliche Gewissen schlichtend, richtend, ausgleichend eingreifen - und da wendet sich alles an den berufenen Arzt der Gesellschaft, den Ökonomisten, um Diagnose und Heilvorschrift!
Was aber zeigt sich? Das Chaos! Jedes Klasseninteresse, jedes Gruppeninteresse findet seinen Verteidiger; Schutzzoll und Freihandel, Arbeiterschutz und Kapitalsförderung, städtischer Grundbesitz und Mieterverbände, Staatsmonopol und freier Wettbewerb: alles tritt mit »wissenschaftlich« begründeten Forderungen und Klagen vor die Öffentlichkeit, und der Staatsmann wie das Publikum sind so klug wie vorher. Ein unerträglicher Zustand! Unerträglich für das Gemeinwesen, das in den wichtigsten Fragen seiner Wohlfahrtsversorgung und seines sozialen Friedens mitten in der Brandung des Klippengürtels des Steuermanns entbehren muß, der mit geschulter Hand, geleitet durch Kompaß und Seekarte, den richtigen Weg zum Hafen zu steuern weiß - und unerträglich vor allem für unsere Wissenschaft selbst. Wir sollen die Führer sein und sind die Lakaien; wir haben nachträglich zu rechtfertigen, was vorher von den Praktikern beschlossen worden ist. Schon ist von angesehenen Fachgenossen unverblümt ausgesprochen worden, daß unsere Wissenschaft sich um allen Kredit gebracht hat, weil ihre Vertreter in allen feindlichen Lagern gleichmäßig zu finden sind; schon fallen böse Worte von der Wissenschaft als dem bezahlten Klopffechter der materiellen Interessen; schon sind schüchterne Versuche bekannt geworden, eigene Lehrstühle zur Vertretung bestimmter mächtiger Interessengruppen zu schaffen und aus ihren Mitteln zu unterhalten; ein Versuch, der natürlich scheitern mußte, aber mit schrecklicher Deutlichkeit zeigt, wieweit wir schon in der öffentlichen Achtung heruntergekommen sind.
Dieser grauenerregende Zustand, den kein Sachkenner mehr ganz leugnet, und wenige noch zu beschönigen versuchen, hat bereits zu einem wissenschaftlichen Nihilismus geführt, der nicht mehr überboten werden kann. Ein angesehener Fachmann, der Frankfurter Professor Ludwig Pohle, hat kürzlich in einer Schrift über "die Krisis in der deutschen Nationalökonomie" die Behauptung aufgestellt, eine wissenschaftliche Sozialpolitik sei überhaupt nicht möglich, es fehle jeder [S. 324] Wertmaßstab, jede Norm, mit der man den gegenwärtigen Zustand vergleichen könne; man könne nicht wissen, ob der Wirtschaftskörper gesund oder krank sei, könne daher nicht wissen, ob er überhaupt einer Behandlung durch Maßnahmen der praktischen Ökonomik bedürfe, und könne vor allem nicht wissen, welche Maßnahmen zu ergreifen seien. Denn das ist natürlich klar: weiß ich nicht, zu welchem Ziele ich hinstreben soll, so kann ich auch keinen Weg bezeichnen, den ich zu gehen habe.
Wir müssen uns leider eingestehen, daß dieser radikale Nihilismus nicht ganz grundlos ist. Zum Glück handelt es sich grundsätzlich um Übertreibungen: es gibt einen Wertmaßstab, es gibt eine Norm, an der wir uns orientieren können; wäre das nicht der Fall, so hätten wir unsere Wissenschaft aus der Liste der Lebenden zu streichen, soweit sie nicht Wirtschaftsgeschichte ist. Denn eine Wissenschaft, die grundsätzlich unfähig ist, dem Leben auch nur im mindesten zu dienen, hat keinen Anspruch mehr auf Existenz. Unser aller Leben ist zu wertvoll, als daß wir uns an den schillernden Seifenblasen einer leblosen Dialektik ergötzen dürften. Ich werde Ihnen sofort Norm und Wertmaßstab der praktischen Ökonomik aufzuzeigen versuchen; zunächst will ich Ihnen zeigen, in wie fern der Nihilismus Pohles, dem z. B. auch Werner Sombart nicht ganz fern steht, berechtigt ist.
d) Norm und Maßstab der Volkswirtschaftspolitik
Ich glaube, ihm darin beistimmen zu müssen, daß die heutige praktische Ökonomik in der Tat gänzlich ohne Kompaß im Ozean treibt, soweit die eigentliche Praxis in Frage kommt. Ihre verdientesten Vertreter erblicken ihre Aufgabe darin, zwischen den widerstreitenden Interessen die »mittlere Linie« einzuhalten. Wenn sie glauben, damit »Wissenschaft« zu treiben, so sind sie in schwerem Irrtum. Wir müssen Max Weber in Heidelberg durchaus zustimmen, wenn er sagt, daß die mittlere Linie auch nicht um ein Haar »wissenschaftlicher« sei, als irgend eine andere Linie zwischen den Interessen, ja als eines der Extreme selbst. Wenn die Sozialpolitiker der Gegenwart das nicht erkennen, so liegt das daran, daß sie die Aufgabe des wissenschaftlichen Kunstlehrers mit dem des praktischen Volkswirtes und Staatsmannes verwechseln. Dem Staatsmann bleibt oft nichts anderes übrig, als einen billigen praktischen Ausgleich zwischen den Parteien anzustreben, zu vermitteln, vielleicht zu erzwingen: aber man soll nicht aus der Not [S. 325] eine Tugend machen und glauben, das sei Wissenschaft oder von der Wissenschaft vorgeschrieben.
Soweit also die von der heutigen praktischen Nationalökonomie beratene Wirtschaftspolitik in Frage steht, hat Pohle meines Erachtens unzweifelhaft Recht; sie sind nicht wissenschaftlich orientiert. Aber er ist schon gegen die heutigen Sozialpolitiker stark im Unrecht, wenn er behauptet, sie besäßen keinen Wertmaßstab, keine Norm; und er ist, um es zu wiederholen, ganz und gar im Unrecht, wenn er behauptet, eine solche Norm sei überhaupt unauffindbar, könne nicht entdeckt werden, weil sie nicht vorhanden sei.
Sprechen wir zuerst von dem Wertmaßstab, von der Norm, deren sich unsere heutigen praktischen Nationalökonomen bedienen, um ihre Diagnosen zu stellen und ihren Heilplan zu entwerfen. Sie besitzen eine solche Norm, und zwar eine richtige, aber sie besitzen sie in der Tat nur in sehr unbestimmten Umrissen, sozusagen als vages Ideal; sie ahnen es mehr, als sie es wirklich erschauen; sie sind kaum jemals zu der Frage gelangt, nach welchem Maßstab sie überhaupt die Dinge zu bewerten haben; es ist viel mehr der gesunde unverdorbene Instinkt, der sie leitet, als die wissenschaftlich nüchterne Besinnung. Und darum konnten sie nicht weiterkommen, als ganz im allgemeinen die Richtung der erforderlichen Bewegung, als ganz im allgemeinen das ungefähre Ziel dieser Bewegung zu bezeichnen.
Dieser Maßstab ist das, was man bildlich als die Gesundheit der Gesellschaft zu bezeichnen pflegt. Kein Mensch, der seine gesunden fünf Sinne hat, bestreitet, daß von solcher Gesundheit nur die Rede sein kann, wenn nicht mindestens die folgenden Bedingungen erfüllt sind: die Bevölkerung muß sich wenigstens auf ihrem zahlenmäßigen Bestande erhalten; viele, die meisten sogar, sind der Ansicht, daß ein gewisses Wachstum zu den Kennzeichen der Gesundheit gehöre. Die Gesellschaft muß so organisiert sein, daß das Interesse des durchschnittlichen einzelnen an dem Wohle der Gemeinschaft, sein »Staatsinteresse«, stärker ist als sein privates Einzelinteresse, damit der wirtschaftliche oder gar der politische Bürgerkrieg vermieden werde. Und da solche Krisen, außer durch religiöse Gegensätze - und selbst diese sind in der Regel nichts anderes als maskierte ökonomische Gruppenkämpfe - da solche Krisen nach aller Erfahrung nur durch wirtschaftliche Schäden herbeigeführt werden, so lautet die Mindestforderung in bezug auf die Wirtschaftsordnung folgendermaßen: die Bevölkerung muß bis in ihre [S. 326] tiefsten Schichten hinab regelmäßig mit so vielen Gütern der Notdurft und des Behagens versorgt sein, daß ihre leibliche Kraft, Gesundheit und Lebensdauer nicht leiden, und sie darf im Laufe der geschichtlichen Entwicklung mindestens nicht von dem bereits erreichten Standpunkt der Versorgung herabsinken. Im Gegenteil: wo mit der volkswirtschaftlichen Arbeitsteilung und -Vereinigung und der Herrschaft über die Naturkräfte die Ergiebigkeit der gesellschaftlichen Arbeit steigt, da muß dieser Mehrertrag sich so verteilen, daß auf alle ein »vernünftiger« Anteil entfällt.
Diese Norm hat allen Denkern über die gesellschaftlichen Dinge von jeher vorgeschwebt, wenn sie ihre Gegenwart zu bewerten und als wissenschaftlich-nationalökonomische Kunstlehrer Wege zur Besserung aufzufinden hatten. Kein geringerer als Platon, eines der leuchtendsten Genies aller Zeit, hat seine Gegenwart auf dieser Waage gewogen und so sehr zu leicht befunden, daß er sie völlig verwarf und in seinem »Staat« ein ganz neues Gemeinwesen auf der fremdartigen Grundlage des Kommunismus aufzubauen suchte. Ihm sind, von ganz den gleichen Erwägungen und Wertmaßstäben geleitet, alle Sozialisten des Altertums, des Mittelalters und der Neuzeit gefolgt, und nicht nur die radikalen Gesellschaftsreformer und Staats-Konstrukteure, sondern auch alle die konservativen Sozialisten, die christlichen Sozialisten aller Welt und die »Kathedersozialisten« der Neuzeit bis auf unsere Gegenwart. Das ist noch heute die »Norm« unserer Sozialpolitiker. An ihr orientieren sie sich in ihrer wissenschaftlichen Kunstlehre.
An diesem Maßstab bewerten sie unsere gegenwärtige Gesellschaft und finden, daß sie nicht gesund, sondern entschieden krank, und zwar sehr ernstlich krank ist. Sie sehen ganze Bevölkerungen, z. B. der Heimindustrie, körperlich verkommen; sie erkennen aus den immer drohenderen Ziffern der Rekrutierungsstatistik und aus dem rapiden Rückgang der Stillfähigkeit unserer Frauen, daß auch in den nicht so gröblich betroffenen Hauptmassen unseres Volkes die Kraft und Gesundheit herabgeht. Sie sehen aus der Kriminalstatistik als das schlimmste Zeichen unserer Zeit das fürchterliche Anwachsen der Kriminalität der Jugendlichen, während die Gesamtkriminalität zurückgeht: alles vollwichtige Hinweise darauf, daß vieles faul ist im Staate Deutschland, daß wir Raubbau treiben an der Volkskraft, daß wir das Kapital unserer Nation zu vergeuden begonnen haben. Und sie erkennen die nächste Ursache mit voller Klarheit: es liegt an der fehlerhaften Verteilung des [S. 327] Volkseinkommens! Der Zuwachs, den es durch die ins wunderbare gesteigerte Kooperation und Beherrschung der Naturkräfte erhält, fließt zu einem großen Anteile der schmalen Schicht der Besitzenden, zu einem zu geringen Anteile, wenn überhaupt, der großen Masse zu. Daher jenes böse Menetekel an der Wand unserer stolzen Zivilisation, daher die steigende soziale Zersetzung, der immer gefährlichere Klassenkampf, der uns in den Bürgerkrieg zu treiben droht.
Von diesem Standpunkt aus ist unseren praktischen Ökonomisten die allgemeine Richtung ihrer sozialpolitischen Ratschläge klar vorgeschrieben. Sie müssen grundsätzlich in den Interessenkämpfen zwischen Masse und Oberschicht mit der Masse sympathisieren, ihre Ansprüche auf höhere Beteiligung am Gesamtertrage grundsätzlich anerkennen, müssen grundsätzlich der Beseitigung der mörderischen Heimarbeit geneigt sein usw. So sind sie wenigstens nicht zu der absoluten Neutralität der Hilfs- und Ahnungslosigkeit gezwungen, haben wenigstens einen Standpunkt im allgemeinen. Ist nun dieser Standpunkt »wissenschaftlich« begründet?
e) Ist und wie ist wissenschaftliche Volkswirtschaftspolitik möglich?
Pohle und die Seinen bestreiten das. Sie behaupten, daß auch die grundsätzliche Stellungnahme der Sozialpolitiker zum Problem der kapitalistischen Verteilung »unwissenschaftlich«, ohne logisches Fundament sei. Sie drücken das so aus, daß sie sagen, die Sozialpolitik der kathedersozialistischen Schule sei rein »gefühlsmäßig orientiert«, erwachse aus Sympathien und Antipathien, die sie ohne weitere Untersuchung sozusagen instinktmäßig für allgemeingültig ansehen. Ist auch dieser Vorwurf berechtigt?
Nun, die Prämisse ist richtig, - aber die Schlußfolgerung ist falsch. In der Tat beruht die Stellungnahme der Sozialpolitiker auf einem gefühlsmäßigen Fürwahrhalten: aber dieses Fürwahrhalten, dieses Gefühl ist von einer so absoluten Allgemeinheit, daß die Wissenschaft darauf nicht nur fußen kann, sondern sogar muß. Sie werden mich sofort verstehen.
Wenn Sie sich nämlich überlegen, auf welchen letzten Grund jener Wertmaßstab, jene Idealnorm jeder menschlichen Gesellschaftsordnung zurückführt, die wir vorhin in ihren Hauptzügen zeichneten, so erkennen Sie, daß dieser letzte Urgrund die »Gerechtigkeit« ist, der kategorische Imperativ mit dem Inhalt, daß man niemandem tun [S. 328] soll, was man nicht wollen kann, daß andere uns tun; oder daß niemand als Objekt eines fremden Willens betrachtet und behandelt werden soll, oder daß unsere Handlung das Muster aller Handlung sein kann. Ich sagte vorhin, kein Mensch mit gesunden fünf Sinnen könne und werde bestreiten, daß eine menschliche Gesellschaft, um normal zu sein, wenigstens den vorhin aufgestellten Mindestanforderungen entsprechen müsse; ich konnte diese Behauptung nur wagen, weil es Erfahrungstatsache ist, daß der kategorische Imperativ in jedem normalen Menschen, ja sogar in fast jedem Verbrecher spricht und wirkt. Zwar wird das große Prinzip fortwährend verletzt; zwar werden fortwährend Menschen durch Menschen vergewaltigt, bewirtschaftet und ausgebeutet: aber das geschieht niemals, außer von völlig vertierten Bestien, ohne Verbeugung vor dem Imperativ; immer entschuldigt sich die antisoziale Gesinnung und Handlung mit Scheingründen, die in diesem einen Falle die Ausnahme gestatten oder erzwingen. Doch das gehört in eine soziologische Abhandlung. Jedenfalls, ich wiederhole die Behauptung, gibt es keinen geistig oder moralisch nicht verrückten Menschen, der jenen Wertmaßstab nicht grundsätzlich anerkennt. Wenn Pohle und andere trotzdem die Sozialpolitik angreifen, so geschieht es, weil ihnen das in der Tat unwissenschaftliche Herumtappen an den praktischen Problemen »auf der mittleren Linie« zuwider ist, vielleicht auch, weil sie glauben, Ideal sei Ideal, und unsere gegenwärtige Gesellschaft sei zwar, mit dem Ideal verglichen, recht mangelhaft, komme ihm aber doch so nahe, wie man es von der Realität eben erwarten könne. M. a. W. sie werden vielleicht achselzuckend sagen, ein wenig Raubbau an der Volkskraft sei leider zur Zeit unvermeidlich, oder sie werden bestreiten, daß wir jetzt Raubbau treiben, oder sie werden behaupten, daß wir jetzt weniger Raubbau treiben, als in früheren Zeiten: aber sie werden niemals zu behaupten versuchen, Raubbau sei das Ideal, Raubbau sei die Norm selbst.
Besteht aber diese Wertnorm in der Tat, in so absoluter Allgemeingültigkeit bei allen Menschen ohne Ausnahme, so darf nicht nur, sondern muß die Wissenschaft als auf einer ihrer Grundvoraussetzungen auf ihr aufbauen. Sie muß es als Sollwissenschaft, als Wissenschaft von den Werten und Wertmaßstäben des menschlichen Handelns, als Ethik, als Rechtsphilosophie. Aber sie darf und muß auch als Seinswissenschaft, als Wissenschaft von den Wirkungen aus Ursachen, darauf aufbauen. Denn es ist eine Tatsache, daß der Mensch in allen [S. 329] Zonen und von allen Rassen so geartet ist, daß er den kategorischen Imperativ hört und respektiert, wenn auch nicht immer befolgt. Das ist eine allmenschliche Eigenschaft, und sie bildet gerade so eine Grundvoraussetzung unserer soziologischen Wissenschaft, wie die übrigen allmenschlichen Eigenschaften des Menschen, z. B. die, daß er Bedürfnisse hat und bestrebt ist, sie mit dem kleinsten Mittel zum größten Erfolge zu befriedigen. Das Wissen um diese Eigenschaft der moralischen Empfindung ist, sage ich, eine der Grundlagen der Soziologie; denn diese Eigenschaft ist selbst eine der Grundlagen der Gesellschaft. Einige von Ihnen werden wissen, daß nach meiner grundsätzlichen Auffassung die Weltgeschichte nichts anderes ist als der Kampf zwischen dem politischen und ökonomischen Mittel der Bedürfnisbefriedigung, d. h. zwischen der unentgoltenen Aneignung durch äußere oder geistliche Gewalt einerseits und der entgoltenen Aneignung durch Arbeit oder gleichwertigen Tausch andererseits. Nun, das ökonomische Mittel, das ist der kategorische Imperativ der Gerechtigkeit in seiner wirtschaftlichen Ausgestaltung. Wäre er nicht, so wäre eine menschliche Gesellschaft überhaupt unmöglich; jeder Keim einer solchen müßte im Moment seiner Bildung zersplittern, explodieren. Alle Gesellschaft, mithin auch alle Gesellschaftswissenschaft ist daher undenkbar, wenn die Gerechtigkeit nicht als Grundlage anerkannt wird: wie sollte da jemand eine Gesellschaft auch nur, um mit Kant zu sprechen, »imaginieren« und gar wollen können, die auf anderer Grundlage ruhte und funktionierte? Das ist eine logische Unmöglichkeit!
Also darin hat Pohle unrecht: wir können die wissenschaftliche Norm, an der wir unsere Gegenwart zu vergleichen, zu der wir sie praktisch hinzuführen haben, in ihren Hauptzügen bereits aus dem Grundprinzip aller Ethik und Gerechtigkeit gewinnen. Um mit Rudolf Goldscheid zu sprechen, der in seinem flammenden Buche: »Höherentwicklung und Menschenökonomie« ungefähr diesen Standpunkt verficht, liefert uns schon dieses Prinzip das »Koordinantenkreuz«, an dem wir die Erscheinungen bewerten können.
Immerhin, - und darin hat Pohle wieder recht - wenn wir weiter nichts hätten als dieses Prinzip, dann müßten wir noch immer verzweifelt Nein sagen, wenn uns jemand die Frage vorlegte: "Ist und wie ist wissenschaftliche Volkswirtschaftspolitik möglich?" Denn wir haben es als praktische Nationalökonomen immer mit ganz speziellen Problemen, mit ganz bestimmten Interessenkonflikten zu tun, und da [S. 330] nutzt es uns gar nichts, wenn wir ganz im allgemeinen wissen, wo wir grundsätzlich Stellung zu nehmen haben. Wir sollen z. B. bei einem Konflikt zwischen Arbeitern und Arbeitgebern ganz präzis angeben, wo in diesem Falle das Recht liegt, wieviel vom Gesamtertrage in diesem Falle die Arbeiter mehr erhalten sollen; und dazu langt das Prinzip in seiner Allgemeinheit gerade so wenig aus, wie das allgemeine Prinzip aller Moral zur Entscheidung eines Pflichtenkonfliktes. Dann mögen wir, soweit wir Praktiker sind, resigniert nach der »mittleren Linie« tappen: als wissenschaftliche Ökonomisten haben wir trotzdem ausgespielt.
Wenn wir hier nicht weiterkommen können, müßten wir uns eigentlich Lebewohl sagen und diese Vorlesung abbrechen. Ich könnte Ihnen dann nur »spezielle Nationalökonomie« vortragen; hübsch viel Statistik und Wirtschaftsgeschichte; ich könnte Ihnen vielerlei ganz interessante Dinge mitteilen über die wirtschaftliche Gesetzgebung und Verwaltung Deutschlands und anderer Länder, über Wohlfahrtsbestrebungen privater Körperschaften, über das, was Freunde und Gegner darüber denken und schreiben - alles ohne Leidenschaft, aber wohl auch eigentlich ohne vielen Zweck. Denn - einen wissenschaftlichen Wertmaßstab von ausreichender Genauigkeit könnte ich Ihnen dann nicht geben, und dann wäre eben eine wissenschaftliche Kunstlehre unmöglich.
Nun, zum Glück glaube ich, Ihnen eine solche Norm, einen solchen Wertmaßstab zeigen zu können, in Übereinstimmung mit dem von der Ethik gelieferten, aber von einer so viel größeren Genauigkeit, daß jede Erscheinung des realen Lebens daran exakt bewertet werden kann. Er kann uns geliefert werden nur durch die theoretische Nationalökonomik.
Nur von ihr! Es ist gerade in dieser Zeit und gerade an diesem Orte dringend nötig, das mit allem Nachdruck zu betonen. Denn Deutschland ist von allen Ländern der Kulturwelt dasjenige, in dem heute die theoretische Ökonomik sich der geringsten Achtung erfreut, nein, besser, in dem sie heute in der tiefsten Verachtung steht. Die Ursachen dieser Haltung der offiziellen Welt sind Ihnen bekannt. Die sog. klassische oder bourgeoisökonomische Schule, die das Erbe der großen bürgerlichen Denker zu verwalten hatte, war bereits um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts völlig in leere Scholastik entartet: das rief eine scharfe Reaktion gegen alle Theorie hervor, eine Sehnsucht [S. 331] nach solidem Wissen, nach Erlösung von aller Spekulation, geradeso wie auf dem nah verwandten Nachbargebiet der Philosophie: auch hier trat die mühsame, aber des dauernden Erfolges sichere Einzelforschung auf dem Gebiete der sämtlichen Geistes- und namentlich der Naturwissenschaften an die Stelle der zur Scholastik und Phantastik entarteten Spekulation. Dazu kam in unserer Wissenschaft noch verstärkend, daß ihre zweite große theoretische Schule, der Marx'sche Sozialismus, schon weil er Sozialismus war, alle Klasseninstinkte der Bürgerlichen gegen sich aufrief; und es verstärkte noch die Abneigung gegen die rein theoretisch-deduktive Beschäftigung mit den ökonomischen Problemen, daß der Marxismus zu Schlußfolgerungen gelangte, die auch solchen Denkern unannehmbar erschienen, die klassenmäßig nicht voreingenommen waren. Das waren die Hauptgründe, warum etwa ein halbes Jahrhundert hindurch in aller Welt und namentlich bei uns die ökonomische Theorie unter dem Nullpunkt der öffentlichen Achtung stand. Die induktive Schule, namentlich der ökonomische Historismus, wütete mit Feuer und Schwert gegen ihre letzten versprengten Vertreter.
Aber der Pendel der Geschichte bleibt nicht stehen. Seit etwa einem Jahrzehnt schwingt er zurück. Der größte Teil der jüngeren Fachgenossen hat sich wieder, notgedrungen, den verpönten theoretischen Studien hingegeben, und eine neue großartige Periode der Theorie kündigt ihren Einzug an. Die Gründe waren die folgenden: zunächst hatte die historische und statistische Einzelforschung ein Material von solcher Massenhaftigkeit angehäuft, daß niemand es mehr zu übersehen vermochte; es drohte, den Forschern über dem Kopf zusammenzustürzen. Dann zeigte jede genauere Betrachtung, daß der wissenschaftliche Wert dieser Materialien zu einer künftigen Ökonomik sehr oft ihrem Umfang umgekehrt proportional war. Schon diese äußeren Gründe führten die jüngere Generation mit Gewalt zu der Erkenntnis zurück, daß noch so großes Einzelwissen erst dadurch zur Wissenschaft wird, daß man es unter beherrschende Gesetze ordnet; und das geht nicht ohne Deduktion; das kann das Sitzfleisch allein nicht leisten, dazu muß das Gehirn mit herangezogen werden.
Vor allem aber zeigte sich immer mehr, daß auf einer derart chaotischen Grundlage eine praktische Ökonomik unmöglich ist. Wir haben den traurigen Zustand geschildert, in dem sich die Volkswirtschaft, die Wissenschaft von der Volkswirtschaft, und ihre gelehrten [S. 332] Vertreter befinden. Entweder sind sie Nihilisten und halten als solche jede wissenschaftliche Volkswirtschaftspolitik a limine für unmöglich, oder sie haben nur ein allgemeines Normalprinzip, das ihnen bestenfalls erlaubt, nach einer mittleren Linie zu tappen, die nicht im mindesten wissenschaftlich ist; übrigens trifft das der Praktiker auch ohne »Wissenschaft«. Kurz und gut, in unserer Kunstlehre und unserer praktischen Kunstübung herrscht nichts anderes als die roheste Empirie - und jedermann weiß, daß die Empirie allein niemals einen wirklichen Fachmann höheren Ranges ausbilden kann. Wer nichts von der Anatomie und Physiologie usw. weiß, mag noch so viele Kranke behandeln, er bleibt dennoch ein Kurpfuscher! Und aus dem gleichen Grunde, weil keine Theorie sie erleuchtet und lenkt, ist unsere praktische Nationalökonomie zur Zeit kaum mehr als Kurpfuscherei am Körper der Wirtschaftsgesellschaft und wird von allen Praktikern und vielfach schon sogar von der öffentlichen Meinung als Kurpfuscherei bewertet.
Aus diesem höchst peinlichen Zustande kann uns nur die reuige Rückkehr zur Theorie retten. Wir müssen auf die einzig mögliche Grundlage unserer wissenschaftlichen Kunstlehre zurück, die wir nie hätten verlassen dürfen. Das hat die jüngere Generation der heute lebenden Forscher erkannt, und das sollten auch Sie in seiner ganzen Tragweite und Bedeutung erfassen. Wir müssen imstande sein, die Erscheinungen mit Sicherheit auf ihre Ursachen zurückzuführen, soll es uns möglich sein, vorbeugend, schützend, fördernd oder bremsend oder gar heilend in den Ablauf des unsagbar feinen, vielverzweigten Kausalgeflechtes einzugreifen, als das sich uns das Leben einer entfalteten Wirtschaftsgesellschaft darstellt. Sonst bleiben wir rohe Empiriker, die wohl einmal aus Glück das Recht treffen mögen, aber niemals sicher sind, es zu treffen; und dann ist der Patient, den wir zu behandeln haben, übel dran.
Darum muß ich hier die Bekanntschaft mit den Hauptgesetzen der Theoretik immer voraussetzen. Ich werde ja in Berücksichtigung der menschlichen Schwäche und des Umstandes, daß viele von Ihnen von Lehrern herkommen, die auf die Theorie wenig Gewicht legen, nach Möglichkeit das Nötigste repetierend erwähnen: aber Sie werden von dieser Vorlesung nur dann Erfolg haben, wenn Sie schleunigst daran gehen, etwaige Lücken in Ihrer theoretischen Ausrüstung zu schließen.
Bei diesen theoretischen Studien werden Sie auch ein wenig Aufmerksamkeit auf die Geschichte unserer Wissenschaft verwenden und [S. 333] dabei finden - und damit kehre ich nach der sehr nötigen Abschweifung wieder zu unserem eigentlichen Thema zurück -, daß unsere großen Theoretiker vom ersten Erwachen der Ökonomik zum selbständigen Dasein an mit vollem Bewußtsein nach jenem Wertmaßstabe, nach jener Norm gesucht haben, die wir so notwendig brauchen, ja, daß sie geglaubt haben, diesen Schatz schon zu besitzen.
François Quesnay, der Begründer des ersten Systems in der Theorie und der ersten Freiverkehrsschule in der praktischen Nationalökonomie, hat die Norm mit voller Klarheit dem Zustande der Realität entgegengestellt, die er daran maß und bewertete. Das ist der berühmte Gegensatz zwischen dem ordre naturel und dem ordre positif, d. h. zwischen der Harmonie der sich ungestört entfaltenden Gesellschaft einerseits und der Disharmonie der von der Staatsgewalt und ihren plumpen Eingriffen gestörten Gesellschaft andererseits. Diese Vorstellung war bei Quesnay noch ziemlich leer; er postulierte die Harmonie des ordre naturel aus naturrechtlichen Voraussetzungen; aber Adam Smith kam dann schon ein gewaltiges Stück vorwärts. Er trat von dem Boden der wertenden Sollwissenschaft auf den der erklärenden Seinswissenschaft; zum ersten Male versuchte er, die Ordnung der ungestört sich entfaltenden Wirtschaftsgesellschaft aus den Voraussetzungen der Ökonomik selbst zu deduzieren. Und das gelang ihm grundsätzlich durchaus: er konnte zeigen, daß die Gesellschaftswirtschaft sich im freien Spiel der Interessen, im wirtschaftlichen Wettkampf, auf das vollkommenste »selbst steuert«, um meinen Ausdruck anzuwenden; daß sie ihre beiden großen Funktionen, Produktion und Distribution, Beschaffung und Verteilung der von ihren Gliedern bedurften Wertdinge, genauso vollzieht, wie es jenes uralte Gerechtigkeitsideal der normalen Gesellschaft fordert, wenn nur eine Bedingung gegeben ist: es dürfen keine durch außerökonomische Kräfte geschaffenen Machtpositionen, keine Monopole vorhanden sein; denn sie lenken die Produktion von der Linie des geringsten Aufwandes und größten Erfolges ab und verzerren die Verteilung. Grundsätzlich, ich wiederhole es, hat der große Schotte das Problem der Norm, des Wertmaßstabes völlig gelöst; er beging nur in der Anwendung des Grundsatzes, bei der Analyse unseres ordre positif einen verhängnisvollen Fehler dadurch, daß er die größte und einflußreichste, durch außerökonomische Kräfte geschaffene Machtposition, die Bodensperrung in der Rechtsform des großen Grundeigentums, für eine sozusagen legitime Schöpfung der rein ökonomischen [S. 334] Kräfte hielt. So kam er dazu, die beiden Monopoleinkommen der Grundrente und des Kapitalprofites, statt für Bestandteile des ordre positif, für solche des ordre naturel zu halten, legte damit den Grund für die Umwandlung der Ökonomik in die Klassenwissenschaft der Bourgeoisie, und leitete sie in jenen verhängnisvollen Weg, der zu ihrer Entartung in Scholastik und Phantastik führte und alle Theoretik auf ein halbes Jahrhundert der Verachtung preisgab.
Aber der richtige Grundsatz konnte durch seine falsche Anwendung wohl eine Zeitlang verschüttet, aber nicht für immer begraben werden. Die zweite große Schule, die an Smith anknüpfte, die sozialliberale, brachte während der Arbeit eines Jahrhunderts eine Korrektur nach der anderen an den von ihm begangenen Fehlern an: Jones, Carey, Dühring, Walras, Henry George sind ihre besten Namen. Der konservative Sozialismus tat das seinige; Sismondis Kritik griff tief durch und übte ihren Einfluß auf Rodbertus und über ihn fort auf unseren alten verehrten Meister Adolf Wagner; sie wirkte entscheidend auf Karl Marx und zuletzt sogar auf die Bourgeoisökonomie in ihrem letzten bedeutenderen Vertreter John Stuart Mill, der in seinen letzten Schriften dem liberalen Sozialismus überaus nahe kam. Immer klarer wurde die Lösung des großen Problems herausgearbeitet; immer klarer erkannte und bewies man, daß große Teile des Eigentums, das in unserer Gesellschaftsordnung besteht, durch außerökonomische Kräfte und nicht durch ökonomische Kräfte entstanden sind; daß es infolgedessen sich als ein System von Machtpositionen, von Monopolen charakterisiert, die nach der grundsätzlichen Auffassung von Adam Smith die Produktion ablenken und die Distribution verzerren müssen. Und immer klarer wurde mit allen seinen Zügen das Bild der normalen Gesellschaft herausgearbeitet, das Quesnay erst nur in seinen Umrissen geahnt hatte.
Zuletzt gelang es mir, als dem glücklichen Erben aller dieser Großen, durch Verschmelzung von Rodbertus' Staatslehre, Marx' Kapitallehre, Jones' Grundrentenlehre, Careys Wertlehre und Dührings Lehre vom Gewalteigentum, unter Zufügung einiger bescheidener eigener Gedanken zur Psychologie der Wirtschaft und zum Krisenproblem, die Deduktion der Normalität völlig zu Ende zu führen. Ich nannte sie mit Adolf Wagner die »reine Ökonomie« und setzte sie, wie er, der »politischen Ökonomie«, der Realität entgegen. Es ist grundsätzlich noch immer die alte physiokratische Gegenüberstellung von ordre naturel und [S. 335] ordre positif, aber nicht mehr aus ethischen Prämissen postuliert, sondern aus ökonomischen Prämissen mathematisch deduziert.
Wenn diese Deduktion der Feuerprobe der Kritik dauernd standhält, wie ich kühn genug bin, zu hoffen, dann haben wir den Wertmaßstab, dessen wir bedürfen, in aller Vollkommenheit in der Hand. Und dann können wir unserer Aufgabe, die wissenschaftlichen Ärzte unseres Gesellschaftskörpers zu sein, endlich genügen. Denn wir haben jetzt nicht mehr bloß, wie unsere von Pohle so hart angegriffenen »Sozialpolitiker«, das zwar richtige, aber allzu allgemeine und an Kennzeichen leere Bild der »Gesundheit«, um es mit dem wirklichen Zustande zu vergleichen, sondern wir wissen jetzt genau, Zug um Zug, wie jede einzelne Funktion des Wirtschaftskörpers normalerweise abzulaufen hat. Und wie der Arzt erst daraus zu einer exakten Diagnose und zu einem begründeten Heilplan gelangen kann, daß er die einzelnen »Symptome«, d. h. die Abweichung von der Normalität in bezug auf Form, Farbe, Temperatur, chemische Zusammensetzung, physikalische Reizbarkeit, nervöse Empfindlichkeit, muskuläre Erregbarkeit usw. usw. erkennt, mißt und zu einem Bilde ordnet - genauso können wir erst jetzt zu einer exakten Diagnose und zu einem begründeten Heilplan gelangen, seit wir imstande sind, nicht mehr bloß die Abweichungen im großen ganzen, sondern die einzelnen »Symptome«, die Abweichungen im einzelnen von der Normalität des Aufbaues und der Funktion, zu erkennen und zu messen und zu einem logisch zusammenstimmenden »Bilde« zu ordnen.
Von diesem Standpunkt aus dürfen wir die Behauptung der Nihilisten mit Entschiedenheit abwehren, dürfen unsere Verhandlungen hier mit dem Vertrauen fortsetzen, daß wir nicht nur Seifenblasen steigen lassen oder totes Wissen aufspeichern. Wir dürfen die Frage: "Ist und wie ist wissenschaftliche praktische Nationalökonomie möglich?" mit Zuversicht beantworten: sie ist möglich, und zwar durch die Benutzung der Normalität, deren Gesamtbild wir der theoretischen Ökonomik verdanken, als ihres Maßstabes der Messung und Bewertung.
f) Die Ziele der Volkswirtschaftspolitik
Gemeiner und Klassen-Nutzen
Die wichtigste Aufgabe, die die praktische Ökonomik mittels dieses Bewertungsmaßstabes zu lösen hat, besteht darin, im allgemeinen und in jedem einzelnen Falle festzustellen, was denn eigentlich der »Gemeine Nutzen« fordere, dem die Volkswirtschaftspolitik zu dienen hat.
[S. 336] Wenn unsere Wirtschaftsgesellschaften in derjenigen »Harmonie aller Interessen« funktionierten, die der alte Liberalismus als verbürgt betrachtete, sobald nur alle »Monopole« fortgeräumt wären, dann wäre diese Aufgabe leicht zu lösen, so leicht wie die Aufgabe des Arztes, der im allgemeinen in jedem einzelnen Falle bestimmen soll, was die »Gesundheit« fordert. Er weiß, daß hier die volle Harmonie aller einzelnen Organe und ihrer Funktion besteht, daß z. B. die Leber leiden muß, wenn das Herz krank ist; und daß er die Leber durch nichts so sicher heilen kann, als daß er das kranke Herz gesund macht.
Der praktische Volkswirt aber befindet sich in der Lage eines Arztes gegenüber einem Patienten, dessen sämtliche Organe Intelligenz und Sprache besitzen, und von denen jedes davon überzeugt ist, daß es nur richtig gedeihen kann, wenn ihm allein, ohne Rücksicht auf die anderen, ja sogar unter Schädigung der anderen, alle Fürsorge zugewandt wird. (Das Bild ist alt: es stammt, wie Ihnen bekannt, angeblich von Menenius Agrippa.) Und nun schreit ihm die Leber zu: "Pfuscher, Böswilliger, warum behandelst du nur das Herz? Ich bin die eigentlich Kranke, dem Herzen geht es verhältnismäßig glänzend;" und das Herz zetert entrüstet: "Höre nicht auf die Gierige; sie will nur auf meine Kosten fett werden; ihr fehlt überhaupt nichts".
Ganz genauso hadern die disharmonischen Interessengruppen der heutigen Wirtschaftsgesellschaften miteinander um die Fürsorge des Volksarztes. Jede hält sich für die wichtigste, wenn nicht gar für die einzig wichtige, jede glaubt, ihr eigenes Gedeihen sei das einzig sichere Zeichen für das Gedeihen des Ganzen.
Woher das kommt, wissen Sie aus der theoretischen Ökonomik und der allgemeinen Soziologie. Unsere heutige Wirtschaft ist nicht die »reine«, sondern die »politische Ökonomie«. Das heißt: sie hat sich im historischen Verlauf nicht ungestört entwickeln dürfen; das ökonomische Mittel, der in der Gesellschaftswirtschaft Fleisch und Bein gewordene kategorische Imperativ der Gerechtigkeit, ist in seiner Entfaltung durch »außerökonomische Kräfte«, durch kriegerische und geistliche Gewalt, d. h. durch das politische Mittel, verkrümmt und verkrüppelt worden. Kurz gesprochen: die Ökonomie, das entfaltete ökonomische Mittel, ist aufgewachsen im Rahmen und unter der Pressung des Staates, der nichts anderes ist als das entfaltete politische Mittel, Schöpfung der außerökonomischen Gewalt. Und weil der Staat selbst seiner Essenz nach Klassenstaat ist; weil sein ursprünglicher Zweck in [S. 337] nichts anderem besteht als in der Setzung von Monopolen; weil er ursprünglich überhaupt nichts anderes ist als das rechtliche Gehäuse eines Klassen-Monopol-Verhältnisses - deshalb ist auch die im Staate lebende Wirtschaftsgesellschaft in ökonomische Klassen zerspalten, in Klassen von Monopolisten oben und Ausgebeuteten unten; und deshalb besteht zwischen diesen Klassen nicht die Harmonie der reinen, sondern die Disharmonie der politischen Ökonomie.
Nun freilich ist der Staat nur in seiner ersten Entstehung reines Organ des Klassennutzens seiner Herrengruppe. Er muß sofort nach seiner Gründung, gerade im Interesse dieser Gruppe, die zwei wichtigsten Aufgaben des gemeinen Nutzens, Grenzschutz und Rechtsschutz, auf sich nehmen. Aber damit verändert er seinen Charakter nicht, sondern kompliziert ihn nur. Er ist ein zwieschlächtiges Wesen, zur Hälfte Organ des Klassennutzens, zur anderen des gemeinen Nutzens.
Diese Zwieschlächtigkeit des Staates ist aber naturgemäß die Ursache davon, daß seine Beamten in ihrer Volkswirtschaftspolitik den Richtpunkt des gemeinen Nutzens nicht immer genau erkennen und festhalten können, sondern mehr oder weniger in der Richtung des Nutzens der herrschenden Klasse abweichen, deren Sonderinteresse sie dem Gemeininteresse gleichsetzen, weil diese Beamten erstens selbst »Staat« sind, d. h. jenen zwieschlächtigen Charakter angenommen haben, und weil sie zumeist, zum wenigsten die leitenden Beamten, selbst aus der herrschenden Klasse hervorgegangen und durch unzählige gesellschaftliche und materielle Bande mit ihr verknüpft sind. Sie handeln in der Regel subjektiv durchaus im besten Glauben, kraft jenes Hauptgesetzes der Sozialpsychologie, das den Menschen unwiderstehlich zwingt, dasjenige für gerecht und vernünftig zu halten, was seiner Gruppe nützt; aber nichts desto weniger ist der Vorwurf, der ihnen so häufig »von unten« entgegenschallt, oft genug objektiv gerechtfertigt, daß sie unter dem Schein des Gemeinnutzens doch nur den Klassennutzen befördern. Jedenfalls kommt jeweils die herrschende Schicht am besten davon, in der Volkswirtschaftspolitik, wie in der äußeren Politik. Ein Historiker, der nichts von Roms innerpolitischer Lage im Jahre 142 v. Chr. wüßte, könnte ohne weiteres aus der Zerstörung von Karthago und Korinth und der Schonung Athens schließen, daß die Klasse der Großhändler in der herrschenden Klasse den Ausschlag gegeben haben muß; und so könnte ein Historiker späterer Zeiten aus unserer Zollpolitik ohne weiteres schließen, daß zu unserer Zeit die Klasse der Großgrundbesitzer [S. 338] am Steuer des Staatsschiffes saß. Wer im Rohre sitzt, schneidet sich Pfeifen, hat übrigens ganz recht damit, und darf das beste Gewissen dabei haben. Denn die Harmonie der Wirtschaft kann nicht aus gegenseitigem Verzicht, sondern nur durch den Streit der Interessen geschaffen werden.
Ganz das gleiche wie von den Staatsbeamten gilt nun aber kraft jenes sozialpsychologischen Hauptgesetzes auch von den privaten Volkswirten, die hauptamtlich oder neben ihrer Privatwirtschaft Volkswirtschaftspolitik betreiben. Auch sie gehören einer Klasse an und unterliegen der »force coercitive« ihrer Vorstellungen, Wertungen und Überzeugungen. Auch sie sind des besten Glaubens, nur dem gemeinen Nutzen zu dienen, und lenken doch das Steuer mehr oder weniger in der Richtung ihres Sonder- oder Klassennutzens. Wenn Sie ein Beispiel wollen: die Gründer der zuweilen großartigen Fabrik-Wohlfahrtsanlagen glauben oftmals gewiß, von rein volkswirtschaftlichen Motiven beherrscht zu sein, und richten doch die Dinge so ein, daß privatwirtschaftliche Vorteile mit dabei herausspringen, nämlich eine gewisse Bindung der Arbeiter »an die Scholle«, d. h. den Betrieb, da sie nicht aufkündigen können, ohne erworbene Ansprüche einzubüßen. Und sogar die grandiose Arbeiterversicherung des deutschen Reiches, zweifellos eins der erfolgreichsten Werke der Volkswirtschaftspolitik, sollte eingestandenermaßen nebenbei dem Ziele dienen, die Arbeiterschaft von der Sozialdemokratie abzuziehen, und das heißt: in die Wahlgefolgschaft der regierenden Klasse hinüberzulocken, ein Ziel, das die Schöpfer jenes Werkes im besten Glauben im Interesse des gemeinen Wohles erstrebt haben werden.
Das Endziel der Volkswirtschafts-Politiker fällt also nicht immer durchaus mit dem der reinen Volkswirtschaftspolitik gesteckten Ziele zusammen, ja, es ist oft mehr nach der Richtung des Klassennutzens hin orientiert als nach der des gemeinen Nutzens.
Das gilt verdoppelt von dem Hauptträger der Volkswirtschafts-Politik, dem Staate. Er ist nämlich nicht nur als öffentlich-rechtliches Wesen zwieschlächtig, Organ des Klassennutzens nicht minder wie des gemeinen Nutzens, sondern nebenbei auch noch private Wirtschaftsperson, nämlich Fiskus, und hat als solcher auch das finanzpolitische Interesse zu vertreten. Und auch das bringt ihn oft genug dazu, mehr oder weniger die Richtung des Gemeininteresses zu verfehlen, wie denn überhaupt bei solcher Personal-Union selten die Ressorts reinlich auseinander [S. 339] gehalten werden können. Daraus folgt, daß häufig Maßnahmen, die lediglich fiskalisch-finanzpolitisch gemeint sind, unter dem Vorwand volkswirtschaftspolitischer Absichten empfohlen und durchgesetzt werden; und nicht weniger häufig geschieht es, daß Maßnahmen, die ursprünglich wirklich aus volkswirtschaftspolitischen Gründen vorgenommen wurden, allmählich ins Finanzpolitische entarten. Beide Male klagt man, zwar nicht mehr über Klassenwirtschaft, aber über »Fiskalismus«. Wenn man z. B. heute vielfach über den Fiskalismus der preußischen Staatsbahnen schilt, so meint man damit, daß dieses Monopol jetzt finanzpolitisch dazu mißbraucht wird, um durch unnötig hohe Tarife dem Publikum eine »Verkehrssteuer« zu erpressen, während man es doch eingeführt hatte, um gewisse Schäden des Privatbahnsystems abzustellen und dem gemeinen Säckel den Wertzuwachs zuzuführen, der sonst in private Taschen geflossen wäre. Übrigens ist der Fiskalismus ein Laster, das nicht auf den Staat beschränkt ist: auch die Leiter privater Organisationen des gemeinen Nutzens verfallen ihm leicht, vergessen, daß ihre Anstalten nur Mittel zu einem höheren Zwecke sind, und handeln, als wären sie Selbstzweck. Man weiß, daß fast alle Wohlfahrtsanstalten in relativ kurzer Zeit zu Sinekuren ihres Beamtenringes in fast fataler Weise entarten.
Zwischen allen diesen Klippen, dem Privatinteresse, dem Klasseninteresse und dem finanzpolitisch-fiskalischen »Kirchturm-Interesse«, soll die Kunstlehre der Volkswirtschaftspolitik, soll die praktische Ökonomik den sicheren Weg zeigen. Aber leider, auch sie wird von Menschen gemacht und gelehrt, und auch diese Menschen sind Angehörige ihrer Klasse und unterliegen der force coercitive der Anschauungen, Wertungen und Überzeugungen ihrer Klasse. Sie sehen mit ihren Augen, hören mit ihren Ohren, haben ihre Sympathien und Antipathien. Und so sind auch sie keine unparteiischen Führer; trotz allen allerbesten Willens sind auch sie gezwungen, den Kurs statt auf den Punkt des allgemeinen Nutzens mehr oder weniger zur Seite anzusetzen - wenn sie nicht über Instrumente der Navigation verfügen, die gegen jede Störung von außen geschützt sind. Heute orientieren sich die Besten von ihnen, wie die Schiffer in alter Zeit, nach den ewigen Sternen, noch mühsam und ungefähr nach dem ewigen Ideal der Gerechtigkeit, aber Kompaß, Quadrant und Seekarte zur genauen Kurshaltung kann ihnen nur die Wissenschaft mit ihrer Norm, ihrem Maßstabe in die Hand geben. Erst dann, wenn diese Norm überall anerkannt ist, werden die praktischen [S. 340] Volkswirte und ihre Berater, die Ökonomisten, von ihren allzu starken »persönlichen Koeffizienten« befreit und befähigt sein, in Wirklichkeit das als Richtungsziel der Volkswirtschaftspolitik einzustellen, was sie heute als Ziel nur nehmen sollten, aber trotz allen guten Glaubens nicht nehmen können: den gemeinen Nutzen. Denn erst dann werden sie erreicht haben, was die Bedingung aller wissenschaftlichen Erfolge ist, die Vorurteilslosigkeit, die Lujo Brentano als erste Eigenschaft von dem Adepten gerade der Volkswirtschaftspolitik fordert, ohne sich darüber klar zu werden, wie weit überhaupt, und auf welchem Wege allein sie erlangt werden kann. Er sieht augenscheinlich nicht, daß der beste Wille allein nicht dazu ausreicht.
g) Die Mittel der Volkswirtschaftspolitik
Wenn die Normalität, die ich in meiner »Theorie« errechnet habe, in der Tat die Normalität ist, dann gibt es nur ein Mittel zur Heilung, einen entschlossenen chirurgischen Eingriff. Am Körper unserer Volkswirtschaft zehrt ein Parasit, ein gefräßiges Wesen fremder Herkunft, ein Geschöpft des politischen Mittels, das auf dem ökonomischen Mittel schmarotzt und seinen Aufbau stört und seine Funktion in Unordnung bringt. Es muß beseitigt werden, so schmerzlos, aber doch auch so gründlich wie möglich. Das ist der einzige Rat, den ich für meine bescheidene Person zu geben habe, um den Patienten zur Heilung zu bringen: Zersprengung des Klassenmonopols durch innere Kolonisation im großen Stile. Das folgende darf dann die praktische Ökonomik ruhig der vis medicatrix naturae überlassen und darf sich auf ein wirtschaftspolitisches Altenteil zurückziehen.
Solange aber der Patient sich weigert, sich dieser rettenden Operation zu unterziehen, solange wird den Ärzten an seinem Krankenlager nichts anderes übrigbleiben, als ihn mit Palliativmitteln einigermaßen bei Kraft zu halten, auf die Symptome loszukurieren und womöglich arge Krisen zu vermeiden. Von diesen Heilmitteln soll jetzt im allgemeinen geredet werden; im allgemeinen: d. h. wir fragen noch nicht nach den speziellen Mitteln, die bei bestimmten Schäden angewendet oder empfohlen werden, sondern wir fragen, über welche Arten und Klassen von Mitteln die Volkswirtschaftspolitik verfügt.
Sprechen wir zunächst von den Mitteln des Hauptträgers der Volkswirtschaftspolitik, des Staates.
[S. 341] In seiner Hand allein liegt das stärkste Instrument der gemeinnützigen Wirtschaftskunst, die Gesetzgebung und die die Gesetze ausführende Verwaltung. Wobei übrigens angemerkt werden muß, daß sehr oft die Verwaltung Gesetze im Klasseninteresse anwendet, die im Gemeininteresse erlassen wurden.
Die Gesetzgebung ist oft, ja, in der Regel, das einzige Mittel, um Hindernisse fortzuräumen, die der wirtschaftlichen Entwicklung und Selbststeuerung im Wege stehen. Sie ahnen bereits, daß mir diese negative Gesetzgebung des Staates fast als einzige erscheint, die er ausüben kann, ohne mehr Schaden als Nutzen zu stiften. Er macht dann nur reuig rückgängig, was er in früheren Zeiten selbst angerichtet hatte. Hierher gehört in historischer Betrachtung die Aufhebung der Zünfte, der Sklaverei, der Erb- und Gutsuntertänigkeit, der Souveränität der Kolonialgesellschaften, der ausschließenden Monopole gewisser Fabrikanten, Händler, Reeder usw., kurz, die Beseitigung aller sog. »verliehenen« öffentlich-rechtlichen Monopole, die dem freien Verkehr schädlich sind. In der Gegenwart würden hierhin gehören die gleichfalls öffentlich-rechtlichen Privilegien der »Toten Hand«, namentlich der Majorate und Fideikommisse, deren Aufhebung von den meisten Volkswirten gefordert wird, nach anderen die Aufhebung aller der einzelnen Grenzzölle, aller der einzelnen Prämien auf Ein- und Ausfuhr, die Aufhebung gewisser Subventionen, die in Deutschland z. B. offen an einige Schiffahrtsgesellschaften und versteckt in höheren Preisen an einige Fabrikanten von Kriegs- und Flotten-Material gezahlt werden, um ihre Betriebe zu besonderer Leistungsfähigkeit zu entwickeln. - Ferner kommt hier in Betracht die Aufhebung gewisser sozusagen negativer Monopole, die als privilegia odiosa auf bestimmte Bevölkerungsgruppen drücken und sie im Kampfe der Wirtschaftsinteressen benachteiligen, so z. B. die Aufhebung des Koalitionsverbotes für Landarbeiter in Preußen, das noch gesetzlich in Kraft ist, und die volle Durchführung der Koalitionsfreiheit der Fabrikarbeiter, die hier und da noch widergesetzlich durch die Verwaltungsbehörden beeinträchtigt wird.
Weniger glücklich als mit dieser negativen, wegräumenden Gesetzgebung wird der Staat nach meiner grundsätzlichen Auffassung dann abschneiden, wenn er positiv aufbauend auf dem Wege der Gesetzgebung Volkswirtschaftspolitik zu treiben versucht. Er schafft in der Regel nur neue Monopole, die nur schwer wieder beseitigt werden können. Denn, sagt v. Ihering, "ein bestehendes Recht aufheben, heißt einen Polypen [S. 342] losreißen, der sich mit tausend Armen anklammert". So z. B. hat die berühmte und berüchtigte Bauordnung des östlichen Preußen auf das ohnehin schon vorhandene Monopol der Bodeneigentümer noch ein Übermonopol gesetzt, durch das das gemeine Wohl nach der Ansicht der meisten Volkswirte hart geschädigt wird. Und in neuerer Zeit hat sich die positive Gesetzgebung des preußischen Staates in Sachen der Spiritusproduktion und des Kalibergbaues als die eifrige Bruthenne starker Monopole erwiesen. Das Kaligesetz in specie ist ein Musterbeispiel falsch orientierter und schlecht angesetzter Volkswirtschaftspolitik.
Immerhin wird der Staat auch durch dieses Mittel hier und da dem Ziele des gemeinen Nutzens näherkommen können, und zwar überall dort, wo größere Volksschichten sich nicht selbst helfen können oder aus geistiger Schwäche nicht helfen wollen; oder wo die eigennützige Raffsucht einzelner sich gierig dem Vorteil aller in den Weg stellt. Ein Muster guter positiver Volkswirtschaftspolitik war z. B. das Gesetz über die Zusammenlegung der allzu stark zersplitterten Gemeindemarken unter Brechung des entgegenstehenden Willens der widerstrebenden Besitzer: hier lag aus landwirtschaftlich-technischen Gründen der Vorteil der Maßregel für alle Beteiligten so klar auf der Hand, und hier konnte vor allem irgendein Klasseninteresse so gar nicht mitspielen, daß hier einmal das Ziel völlig erreicht werden konnte. Überwiegend günstig wird man auch die positive Gesetzgebung Deutschlands und anderer Staaten im Interesse der Fabrikarbeiter beurteilen dürfen, die Festlegung der Länge des Arbeitstages, die Beschränkungen für Jugendliche, Frauen, Schwangere, Kinder, die soziale Versicherungsgesetzgebung, vor allem für Krankheit, Unfall und Invalidität. All das wirkt ja nur palliativ, nicht heilend, aber es hat doch viel Leiden gelindert und verhütet.
Eine gewaltige Waffe hat der Staat auch in seiner Finanzpolitik in der Hand. Zunächst als Steuerfiskus nur noch auf dem Wege über die Gesetzgebung. Die meisten Staaten haben diese ihre Macht in der Regel im Klasseninteresse gegen das Gemeininteresse angewandt; aber es gibt praktische Ökonomisten, die die Finanzpolitik im weiteren Umfange in den Dienst der Volkswirtschaftspolitik stellen wollen. Auf diesem Felde ist der erste bürgerliche Vorkämpfer unser Altmeister Adolf Wagner; er fordert eine »ausgleichende« Steuer- und Finanzpolitik mit dem Endziele nicht nur des fiskalischen Privatinteresses, sondern vor allem des Gemeininteresses. Die Besteuerung soll wenigstens die schärfsten Spitzen der kapitalistischen Entwicklung abstumpfen, soll die Tendenz [S. 343] zur maßlosen Bereicherung der Besitzenden und zur Proletarisierung der Schwachen wenigstens bremsen; der Staat soll ferner mit volkswirtschaftspolitischen, nicht mit rein fiskalischen Absichten als Unternehmer in das Wirtschaftsleben eingreifen, indem er sich gewisse Monopole der Produktion, des Verkehrs oder des Handels vorbehält, wie mit den Eisenbahnen, der Post und dem Telegraphendienst in Deutschland, oder indem er konkurrierend neben das Privatkapital tritt, wie als Waldbesitzer und Bergherr, um eben dadurch auf die Wut der Konkurrenz sänftigend einzuwirken, indem er z. B. eine extreme Preispolitik oder einen allzu harten Druck auf die Arbeiter verhindert. Einige, namentlich Sozialisten, gehen noch weiter. Henry George z. B. will mit seiner »einzigen Steuer« alle Grundrente durch das radikalste Mittel staatlicher Finanzpolitik »wegsteuern«. Andere träumen immer wieder von einer Wegsteuerung der großen Vermögen durch enorme Erbschaftssteuern. - Auf der anderen Seite verwerfen andere Finanzwissenschaftler die »soziale Finanzpolitik« gänzlich oder räumen ihr doch nur ein viel kleineres Feld ein, als etwa Wagner.
Diese Betrachtung hat uns bereits zu Fällen geführt, wo der Staat volkswirtschaftlich eingreifen kann, ohne eigens die Klinke der Gesetzgebung drücken zu müssen, einfach aufgrund der bestehenden Rechtsordnung und der Verwaltungsnormen. Wenn z. B. das preußische Ministerium anordnet, daß die sämtlichen staatlichen Betriebe in bezug auf die Entlohnung, Behandlung usw. der Arbeiter als »Musterbetriebe« immer an der Spitze der Gesamtindustrie marschieren sollen, so braucht es zu dieser Volkswirtschaftspolitik keine neuen Vollmachten durch das Gesetz.
Diese, nennen wir sie im Gegensatz zur Sondergesetzgebung »volkswirtschaftspolitische Verwaltungsmaßnahmen«, können unmittelbar bestimmte praktische Aufgaben angreifen oder mittelbar private gemeinnützige Organisationen fördern.
Bei den unmittelbaren Maßnahmen der Verwaltung können wir wieder negative und positive unterscheiden. Zu den negativen unmittelbaren Maßnahmen rechnet z. B. die Anwendung des staatlichen Expropriationsrechtes zur Wegräumung von Hindernissen, die das Privateigentum gemeinnützigen Werken in den Weg stellt. Positiv greift der Staat durch seine Verwaltung unmittelbar in das Wirtschaftsleben ein, z. B. durch Vorschüsse für landwirtschaftliche Meliorationen, größere Entwässerungs- und Bewässerungsbauten, durch kapitalistische Beteiligung [S. 344] an gemeinnützigen Kulturwerken, wie z. B. an den der inneren Kolonisation dienenden »Landgesellschaften«, durch Garantie von Kapital und Zinsen für die Kosten privater gemeinnütziger Anlagen; ferner durch Prämien für besondere Leistungen in der Landwirtschaft und Industrie, namentlich bei Ausstellungen, durch Beteiligung an den Kosten von internationalen und nationalen Ausstellungen, durch Verleihung von Ehrentiteln und -Zeichen an hervorragende Männer der wirtschaftlichen Praxis; durch Straßen-, Bahn- und Kanalbauten in zurückgebliebenen Landesteilen, durch Errichtung besonderer Staatsinstitute mit lediglich wirtschaftlichen Aufgaben, wie die Zentral-Genossenschafts-Kasse (Preußenkasse), oder die Rentenbank in Preußen, oder von staatlichen Versicherungsanstalten und Sparkassen usw.
Mittelbar kann der Staat das Wirtschaftsleben fördern z. B. durch Errichtung von Fach- und Fortbildungsschulen, Versuchs- und Lehranstalten für Landwirtschaft und Technik: Versuchsfelder, Lehr- und Versuchsbrauereien, physikalisch-technische Reichsanstalten. Hierher läßt sich schließlich in einem etwas weiteren Sinne alle Staatspolitik, innere und äußere, rechnen, denn alles, was den äußeren Frieden, das Recht und die Ordnung, die öffentliche Gesundheit und Erziehung, die soziale Eintracht zwischen den Klassen fördert, das hebt auch sofort die wirtschaftliche Wohlfahrt.
Das aber ist, nebenbei bemerkt, ein guter Grund, warum der Staat in vielen Dingen anders kalkulieren darf und soll als ein Privatmann. Dieser soll, das verlangt das ökonomische Grundprinzip des kleinsten Mittels, kein Unternehmen beginnen, das ihm nicht den entsprechenden Ertrag abzuwerfen verspricht - es sei denn, er handelt eben aus volkswirtschaftlichen Motiven der Gemeinnützigkeit. Der Staat aber darf und soll, und zwar nicht etwa nur aus gemeinnützigen, sondern gerade auch aus fiskalisch-privatwirtschaftlichen Gründen, auch solche Unternehmungen auf sich nehmen, deren Kalkulation einen unmittelbaren Gewinn nicht verspricht, darf sogar unter Umständen verlustbringende Unternehmungen einleiten - wenn nur die allgemeine wirtschaftliche Wohlfahrt so gesteigert wird, daß er unter Umständen als Steuer-, Eisenbahn- und Verkehrsfiskus das Vielfache dessen gewinnen kann, was er etwa als landwirtschaftlicher Fiskus oder Zollfiskus geopfert hat. Was schadet es z. B. dem preußischen Staate als Totalität aller Fisci, daß das in der inneren Kolonisation angelegte Kapital sich nur mit etwa 2 % verzinst, so daß der Staat auf seinen Anleihedienst zulegen muß, wenn auf der [S. 345] anderen Seite das Steueraufkommen der betr. Landesteile sich verdreifacht? Dieser sozusagen höhere fiskalische Standpunkt, der zur rechten Zeit Opfer zu bringen weiß, um die Leistungskraft der Gesamtheit schließlich auch im fiskalischen Interesse stark zu heben, wird nicht immer von unseren Beamten eingenommen. Doch das gehört in die Finanzwissenschaft.
Um nun zu den Mitteln der privaten Volkswirtschaftspolitik zu kommen, so werden hier in der Regel die Individuen, wenn sie nicht ungeheuer reich sind, - Bourneville, Sunlight-City, ihren Bewohnern geschenkt, sind solche Beispiele - nur im kleinen Kreise eine bescheidene Wirksamkeit ausüben können. Hier kann zumeist nur die Assoziation vieler im gemeinen Nutzen Kraftzentren schaffen, die im großen Kreise und im großen Stile wirken können. Auch hier können wir unmittelbare und mittelbare Maßnahmen unterscheiden.
Unmittelbar wirken zumeist die Organisationen der Selbsthilfe. Soweit sie lediglich für ihre Mitglieder tätig sind, wie die Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften und die Versicherungsgesellschaften auf Gegenseitigkeit, stehen sie noch mit einem Fuß im Lager der Privatwirtschaft; soweit sie aber ohne harte Bedingungen jedem offen stehen, der dem Kreise angehört, soweit sie dadurch die wirtschaftliche Lage ganzer Gruppen und Klassen zu heben imstande sind, sind sie Organe der privaten Volkswirtschaftspolitik. Das aber gilt für die meisten Genossenschaften und für die Gewerkschaften der Arbeiter.
Ganz und gar Organe der privaten Volkswirtschaftspolitik sind die Anstalten der Fremdhilfe. Aimé Hubers »aristokratische Hilfe« bildet den Übergang, die schon einmal erwähnte Unterstützung der Selbsthilfe durch Rat, Mitarbeit und eventuell Darlehen; gleichfalls einen Übergang bilden die Versuche der französischen Produktivassoziationen, ein capital social inaliénable, ein Gesellschaftskapital für die Verbreitung ihrer Genossenschaften aufzubringen. Reine Fremdhilfe stellen die zahlreichen Organisationen für die gemeinnützig-wirtschaftlichen Zwecke der Arbeitsnachweise, der Armenversorgung, der Wohnungsfürsorge, z. B. Gartenstädte und Gartenvorstädte, dar; ferner z. B. die Vereine zur Beschäftigung Blinder mit lohnender Arbeit. All das ist unmittelbare private Volkswirtschaftspolitik.
Mittelbar wirken die von privater Seite gegründeten und erhaltenen Fachschulen und Fortbildungsschulen (Klöppelei, Schnitzerei, Geflügelzucht, [S. 346] etc. in armen Dörfern), die technischen Museen und Bibliotheken usw., die privaten Ausstellungen auf das Wirtschaftsleben ein. Und, immer im Namen wenigstens des Gemeininteresses, wenn auch oft zum Teil oder ganz im Klasseninteresse und Gruppeninteresse, wirken mittelbar-volkswirtschaftspolitisch alle die Sekten, Vereine, Parteien und ihre Zeitungen, die auf dem Wege über die öffentliche Meinung und den Parlamentarismus die Träger der Volkswirtschaftspolitik, vor allem den Staat, dazu bringen wollen, gewisse volkswirtschaftliche Institute abzuschaffen oder einzurichten, die Praxis der Verwaltung in der oder der Richtung abzuändern usw. Die englische Anti-Cornlaw-Liga Cobdens trieb ganz gewiß sehr erfolgreich private mittelbare Volkswirtschaftspolitik, wenn auch nicht ganz unverfälscht gemeinnützige.
* * *
Das wären in großen Umrissen die Hauptzüge dessen, was man ungefähr als »allgemeine praktische Nationalökonomie« oder »allgemeine Volkswirtschaftspolitik« bezeichnen könnte. Nun wollen wir noch kurz die Anschauungen einiger einflußreicher Schriftsteller auf diesem Gebiet besprechen.
h) Die Volkswirtschaftspolitik in der Literatur
Es gibt nur wenige zusammenfassende Lehrbücher über unser Gebiet in der Welt-Literatur, und diese wenigen sind ausschließlich deutscher Sprache.
Was die einzelnen Verfasser zu dem Thema zu sagen haben, das wir bisher behandelt haben, zu der »allgemeinen praktischen Ökonomik«, wie wir sie nennen wollen, ist nicht gerade aufregend an Umfang und Inhalt.
Conrad beginnt mit einer allgemeinen Einleitung über Gesellschaft und Staat, den er noch ganz in alter Weise auffaßt. Er hat nach ihm die drei Aufgaben der Macht-, Recht- und Wohlfahrtszwecke. (In Paranthese, daß der Staat soziologisch sich als Klassenstaat bildet und funktioniert, davon ist keine Rede.) Die Wohlfahrtszwecke zerfallen in solche des geistigen und des materiellen Wohles. Nach einem Exkurs über die Gefahren der geistigen Bildung und die Bedeutung der Charakter- und Gemütsbildung und der Notwendigkeit der Religion für die unteren Klassen, denen wirtschaftliche mehr als geistige Schulung nötig sei, über das gebildete Proletariat etc. kommt er dann zu der eigentlichen [S. 347] Volkswirtschaftspolitik. "Sie hat die Aufgaben von Staat und Gesellschaft gegenüber der Volkswirtschaft zu erörtern". Aber "welche Aufgaben dem Staate in betreff des wirtschaftlichen Lebens zufallen", das ist eine Frage, die seit jeher strittig ist. "Sache der Wissenschaft ist es, hier den rechten Weg ausfindig zu machen, um die Extreme zu vermeiden. Es gilt, das Problem zu lösen, unter Wahrung der individuellen Freiheit und Selbstverantwortlichkeit des Einzelnen doch den Schwächeren im wirtschaftlichen Kampfe zu schützen: ferner in erster Linie die gesamte Kultur zu fördern und bei jedem Gegensatze zwischen Gesamtwohl und Einzelinteresse unbedingt das letztere dem ersteren unterzuordnen".
Sie werden vermutlich in diesen Worten gleich mir die leiseste Andeutung davon vermissen, wie die Wissenschaft es anfangen soll, das Problem zu lösen, das richtig gestellt ist, und wie sie überhaupt erkennen soll, wo das Gesamtwohl liegt und wo es dem Einzelinteresse vorangeht. Conrad, der seiner persönlichen Auffassung nach zwischen den Manchesterleuten und den Staatssozialisten stehen dürfte - er verwirft allzu viel Staatshilfe, weil sie den Sporn der Selbstverantwortung abstumpft -, hält in wissenschaftlich ganz naiver Weise seinen persönlichen Standpunkt zu all den Fragen für den richtigen, ohne auch nur zu fragen, woran er objektiv selbst bemessen und bewertet werden könnte. Dies Grundproblem hat er überhaupt nicht gesehen.
Es folgen dann einige allgemeine sehr kurze Ausführungen über die Mittel, die Aufgaben und die Grenzen der Staatstätigkeit, die mit unseren eigenen Darstellungen ungefähr übereinstimmen. Obgleich mehrfach von »Staat und Gesellschaft« als den Trägern der Volkswirtschaftspolitik gesprochen wird, geht doch aus allen Ausführungen hervor, daß Conrad nur den Staat, niemals aber private Organisationen und individuelle Privatinitiative im Auge hat. Das liegt natürlich an der mangelnden Besinnung auf das Grundsätzliche: daß nicht der Träger, sondern das Tätigkeitsgebiet das Erkenntnismerkmal abgibt, die gemeinnützige im Gegensatz zur privatwirtschaftlichen Wirtschaftshandlung, wird nicht erkannt, und darum fehlt es auch an jeder grundsätzlichen Abgrenzung zwischen der finanzpolitisch-privatwirtschaftlichen und der volkswirtschaftspolitischen Tätigkeit des Staates.
Kleinwächter handelt auf 43 Zeilen die ganze allgemeine praktische Ökonomik ab. Er unterscheidet wenigstens zwischen der Kunstlehre und der Kunst als der Volkswirtschaftspolitik und der Wissenschaft [S. 348] davon. Er beschränkt sich darauf, richtig festzustellen, daß nicht nur der Staat und seine administrativen Unterglieder, sondern auch freie Vereinigungen Volkswirtschaftspolitik treiben können. Die staatliche Volkswirtschaftspolitik ist der "Inbegriff aller derjenigen Maßnahmen, die die Staatsgewalt ergreift, um die Wirtschaft des Volkes zu heben, bzw. um gewisse schädliche Auswüchse (Wucher oder dergl.) zu unterdrücken oder hintanzuhalten". Die gesamte Volkswirtschaftspolitik des Staates und der freien Organisationen bezeichnet er "als das Verhältnis der »öffentlichen Gewalten« gegenüber den einzelnen Zweigen des Wirtschaftslebens".
Der »Wissenschaft der Volkswirtschaftspolitik« stellt Kleinwächter die Aufgabe aller Wissenschaft, "die Einheit in der Vielheit des Wissensgebietes zu sichern". "Demgemäß hat sie einerseits zu zeigen, daß in der (gleichzeitigen) Volkswirtschaftspolitik der verschiedenen Staaten eine gewisse Übereinstimmung herrscht, ... andererseits hat sie nach den einheitlichen Gedanken oder nach den Grundsätzen zu forschen, von denen die Volkswirtschaftspolitik des einzelnen Staates im Laufe der Jahrhunderte geleitet wurde".
Das ist selbst für einen kurzen Leitfaden etwas wenig. Grundsätzlich gilt auch hier das über Conrad Gesagte, wenngleich Kleinwächter die Rolle der Privatinitiative nicht ganz übersehen und zwischen Kunstlehre und Kunst wenigstens grundsätzlich unterschieden hat.
Gustav Schmoller nimmt in seinem Artikel »Volkswirtschaft« im Handwörterbuch der Staatswissenschaften zu unserer Frage eine ganz besondere Stellung ein. Für ihn verdunstet der Unterschied und Gegensatz zwischen theoretischer Erkenntniswissenschaft und wissenschaftlicher Kunstlehre ganz oder doch fast ganz; was übrig bleibt, ist im wesentlichen nur die aus unterrichtstechnischen Gründen wünschenswerte und bewährte Unterscheidung von allgemeiner und spezieller Volkswirtschaftslehre. "Wir ziehen heute in beiden Teilen das Verhältnis von Staat, Recht, Sitte und Moral zur Volkswirtschaft in Betracht; aber wir suchen das eine Mal eine abstrakte Durchschnittsvolkswirtschaft vorzuführen oder in theoretischer Begründung unserer volkswirtschaftliches Wissen zusammenzufassen, und das andere Mal schildern wir eine bestimmte Zeit oder vielmehr ein bestimmtes Volk, eine Völkergruppe nach ihrer wirtschaftlichen Seite in konkreter Einzelausführung." Dementsprechend bezeichnet er dann die »spezielle Nationalökonomie« als "historisch und praktisch-verwaltungsrechtlich; sie erzählt die neuere [S. 349] volkswirtschaftliche Entwicklung Westeuropas oder eines einzelnen Landes nach Perioden oder Hauptzweigen der Volkswirtschaft; (...) sie ist deskriptiv in ihrer Grundanlage ..." usw. usw.
Das ist der Standpunkt eines reinen Historikers. Was wir unter praktischer Ökonomik verstehen, fällt hier ganz aus der Betrachtung. Was uns aber lediglich als Grundlage der Kunstlehre dienen soll, die spezielle Kenntnis der Entwicklung, des Status im jetzigen Zeitpunkt, und der verwaltungsrechtlichen Grundlagen, wird zum einzigen Inhalt der »praktischen Vorlesung«. Sie lehrt nicht die Praxis, sondern »erzählt« nur von der Praxis früherer Zeiten und unserer Gegenwart.
Bei dieser grundsätzlichen Stellung kann natürlich das Grundproblem: "ist und wie ist wissenschaftliche Volkswirtschaftspolitik möglich?" auch nicht einmal am fernsten Horizonte erscheinen. Wir erfahren nur, daß in die Schlüsse der speziellen Ökonomik sich "stets als leitende Motive ethische und kulturelle Wertvorstellungen und teleologische Weltbilder über den Gang der menschlichen Geschichte und des Schicksals des betr. Staates einmischen", und daß der Volkswirt außer dem historischen und verwaltungsrechtlichen Wissen »praktischer Weltkenntnis« bedarf. Das ist alles ganz wahr - aber wessen ethische und kulturelle Wertvorstellung usw. entscheiden im Konfliktfalle? Wessen »praktische Weltkenntnis« soll des Staates Kompaß sein? Der naive Standpunkt, den Pohle so hart geißelt, tritt hier mit voller Klarheit zutage: die »Vorurteile« des Autors, seine in die wissenschaftliche Arbeit mit eingebrachten Wertungen und Überzeugungen erscheinen ihm als Axiome der Wissenschaft selbst - oder aber er gesteht, wie Schmoller ausdrücklich tut, die Gleichberechtigung jeder auch entgegenstehenden Wertung und Überzeugung (p. 497) ein und verzichtet damit ebenfalls auf jede objektive Grundlegung der eigenen Meinung und gibt dadurch die Wissenschaft selbst auf; denn von diesem Standpunkt aus ist sie unmöglich. Daß Schmoller - gegen die »Nihilisten«, die alle Wertmaßstäbe für rein subjektive Vorurteile halten - den ethischen Imperativ als objektiven Wertmaßstab betrachtet, darin werden wir ihm gerne beistimmen; aber wir wissen, daß ihm dieser unbestimmte Maßstab wohl die allgemeine Richtung, aber niemals den exakten Richtungspunkt seiner Volkswirtschaftspolitik geben kann. Es fehlt die genaue Norm, die nur die reinliche Darstellung des »ordre naturel« durch die reine Theorie liefern kann.
Eugen von Philippovich schreibt in seinem Grundriß der [S. 350] politischen Ökonomie, 1. Band, allgemeine Volkswirtschaftslehre, 9. Aufl., Seite 42 folgendes: "Regelmäßigkeiten, die wir in der empirischen Volkswirtschaft beobachten, können uns dazu führen, Veränderungen in ihr als ein notwendiges Produkt bestimmter Voraussetzungen zu verstehen. Diese Veränderungen in der Organisation der menschlichen Wirtschaft beruhen aber, wie alles geschichtliche Leben, zu einem großen Teil auf einem planvollen bewußten Eingreifen des Menschen selbst in den Entwicklungsgang. Es machen sich auch in der Gegenwart Bestrebungen geltend, welche eine Änderung der Einrichtungen, die in der Gesellschaft der Güterversorgung und Güterverteilung dienen, herbeiführen wollen. Auch dieses zweckbewußte Eingreifen des Menschen in den Entwicklungsgang der Volkswirtschaft kann, wissenschaftlich erforscht, auf seine letzten Gründe und seinen Wert geprüft werden, ja man kann es wohl als die letzte und höchste Aufgabe einer Wissenschaft von der Volkswirtschaft bezeichnen, die Ziele aufzustellen, welchen die Menschen mit den Veränderungen in der Organisation der Gütererzeugung und Güterverteilung zustreben und zustreben sollen. Dies tut die Volkswirtschaftspolitik".
Hier fehlt die Hauptsache durchaus, die Abgrenzung des Gebietes der Volkswirtschaftspolitik als der gemeinnützigen Tätigkeit von dem der Privatwirtschaftspolitik als der eigennützigen Tätigkeit. Daher paßt die Definition unseres Autors schon auf alle Privatwirtschaft; denn jeder Landwirt, Fabrikant und Erfinder strebt danach, "eine Änderung der Einrichtungen herbeizuführen, die in der Gesellschaft der Gütererzeugung dienen," und schlechthin jeder einzelne strebt für sich und seine wirtschaftliche Klasse nach einer entschiedenen Veränderung der Güterverteilung zu seinen Gunsten. Aber noch schlimmer: die Definition paßt auf alle außerökonomische Aneignung im großen Stile durch das politische Mittel. Wenn die Kreuzritter die Levante oder die Normannen unter Wilhelm dem Eroberer England besiegten und das Land in Rittergüter verteilten, so war das entschieden eine grundstürzende Veränderung derjenigen "Einrichtungen, die der Güterverteilung dienten", aber es war gewiß keine Handlungsweise, die vor das Forum der Ökonomik gehört, und vor allem keine Volkswirtschaftspolitik.
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Hiermit wollen wir unsere Revue der bisherigen Literatur abbrechen. Es fehlt überall an der dringend erforderlichen Besinnung auf die Aufgabe [S. 351] und den Umfang der Disziplin, und überall ist die Ursache der beklagenswerte Mangel an theoretischer Vertiefung, in den unsere Wissenschaft aus den schon angeführten Gründen versunken ist. Was die Lehrbücher über allgemeine Volkswirtschaftspolitik bringen, ist nichts anderes als eine Verlegenheits-Einleitung zu dem Stoffe, den die alte Kunstlehre der Kameralistik für künftige Beamte der Staatsverwaltung gesammelt hatte in einer Zeit, in der man von eigentlicher ökonomischer Wissenschaft noch nicht das mindeste ahnte und gar nicht daran dachte, der einfachen Empirie einen wissenschaftlichen Unterbau zu geben oder ihr auch nur ein wissenschaftliches Mäntelchen umzuhängen. Der Stoff ist gewachsen, ist durch die Statistik immer reicher und zuverlässiger geworden, durch die geschichtliche Einzelforschung aufgehellt und durch internationale Vergleichung wertvoller und reicher geworden: aber seine Behandlung ist immer noch die vorwissenschaftlich-kameralistische.