Demokratie

In: Franz Oppenheimer, Soziologische Streifzüge, gesammelte Reden und Aufsätze, zweiter Band, Münschen 1927, S. 159-187.
[Erstveröffentlichung in: Der Staatsbürger, München u. a., Bd. 5, 1914, S. 18-35 und 57-68.]

Abstract: Kulturelles Erbe der Menschheit aus den Jahrtausenden ist die Beherrschung der Massen durch wenige (Oligokratie) oder einzelne (Monokratie). Demgegenüber war die Demokratie ursprünglich weder eine Weltanschauung, Theorie oder Ideal, sondern eine Reaktion auf die Oligokratie, mit der sie sich bis heute im Kampf befindet. Der Begriff »Demokratie« drückt den Anspruch auf Mitherrschaft des Volkes (Demos) aus, aber ist theoretisch unscharf, da ein Anschwellen der Mitregierung auf breiter Basis logisch die ausgeübte Herrschaft (Kratie) der Minderheiten zurückdrängt. "Herrschaft war nie etwas anderes als die rechtliche Form einer wirtschaftlichen Ausbeutung." Entsprechend ist die Demokratie in Vollendung eine Akratie, die nach Oppenheimer "das Ideal einer von jeder wirtschaftlichen Ausbeutung erlösten Gesellschaft" bedeutet. Die politische Aufhebung der Klassengesellschaft setzt ihre ökonomische Überwindung voraus. Alle Schwächen der Demokratie erwachsen aus den oligokratischen Resten vordemokratischer Zeiten. [S. 159]

Die Aufgabe

Was ist Demokratie?

Nun, zunächst einmal ein Wort, das ursprünglich der Verkehrssprache angehörte und dann ein Begriff der Soziologie geworden ist. Und das bedeutet, daß bei seiner Erklärung, Bestimmung und Behandlung dem Schriftsteller, der darüber schreiben will, alle drei Schwierigkeiten in den Weg treten, die überhaupt existieren: die sachlichen, die sprachlichen und die persönlichen.

Die sachlichen Schwierigkeiten sind grundsätzlich immer die gleichen, welches auch das Thema der wissenschaftlichen Betrachtung sein mag. Sie können größer oder geringer sein, je nachdem der Gegenstand von großem oder kleinem Umfang, von großer oder geringer Komplikation, leicht oder schwer zugänglich ist: aber immer ist die Aufgabe, alle Daten zusammenzutragen, zu ordnen, zu verbinden, zu erklären.

Eine Reihe von Gegenständen bietet weiter keine als solche sachlichen Schwierigkeiten dar, vor allem die naturwissenschaftlichen. Wenn jemand über die Kohleminen von Spitzbergen oder über die Retina der Froschlarven oder über das unterschweflig-saure Natron Untersuchungen anstellen will, so weiß er selbst, und wissen seine Leser ganz genau, was gemeint ist. Aber es gibt viele Themata, wo die Leser nicht ohne weiteres wissen, was der Autor behandelt, auch wenn er es klar sagt, ja, wo der Autor selbst nicht genau weiß, was er behandelt, obgleich er sein Thema klar bezeichnet. Das ist immer der Fall, wo es sich um Worte handelt, die entweder niemals einen klaren, eindeutigen Sinn gehabt haben - solche Worte gibt es unzählige -, oder die zwar einmal einen eindeutigen Sinn gehabt haben, [S. 160] aber im Laufe der Sprachentwicklung sich kapillarisch über einen immer weiteren Bezirk ausgebreitet haben, etwa wie ein Tintentropfen auf einem Löschblatt und nun keine scharfen Grenzen mehr besitzen. Sollen solche Worte behandelt werden, so muß die wissenschaftliche Kunstsprache die allgemeine Verkehrssprache korrigieren, muß ganz genau erklären, in welchem Sinne sie das vieldeutige oder unbestimmte Wort gebrauchen will; und dann besteht immer die Gefahr, daß nicht nur die Leser die Definition nicht festzuhalten imstande sind, sondern auch, daß der Autor selbst wider Willen den sprachlichen Assoziationen zum Opfer fällt. Das sind die sprachlichen Schwierigkeiten wissenschaftlicher Arbeit.

Manche glauben, aus diesen Schwierigkeiten herauskommen zu können, wenn sie auf die etymologische Urbedeutung des Wortes zurückgreifen. Das hilft aber nur selten und bringt im Gegenteil oft nur neue Verwirrung. Es kann mir z. B. gar nicht helfen, zu wissen, daß »Person« ursprünglich die schallverstärkende Vorrichtung in der Maske der antiken Schauspieler bedeutete; es kann mich nur verwirren, daß »Nation« von nasci, geboren werden, herstammt: denn, was wir heute unter Nation verstehen, hat mit der Blutsverwandtschaft nichts mehr zu tun. Solche sprachlichen Schwierigkeiten treten namentlich dem Philosophen in den Weg, weil hier die Termini der Kunstsprache im Laufe der Jahrtausende immer wieder neuen Inhalt erhalten haben, ohne ihren alten ganz zu verlieren. Darauf zielt jene bekannte boshafte Definition: "Philosophie ist der konsequente Mißbrauch einer eigens zu diesem Zwecke geschaffenen Terminologie."

Noch viel schlimmer steht es nun aber in soziologischen Dingen. Hier treten regelmäßig auch noch die persönlichen Schwierigkeiten hinzu. Denn hier sind so gut wie alle wichtigen Worte »wunschbetont«, und zwar verschieden wunschbetont, je nach der Klassenlage dessen, der sie braucht, bald sympathisch, bald antipathisch. Ist doch das oberste Gesetz der Sozialpsychologie, daß das Individuum unwiderstehlich gezwungen ist, so zu denken, zu werten, zu urteilen, zu handeln, wie es das »inhärente Interesse« seiner besonderen sozialen Gruppe verlangt. Dieses Gesetz, auf dem im internationalen Leben aller Chauvinismus und Rassenhaß, im nationalen Leben aller Klassenhaß und Parteienhaß beruht, schließt eine Verständigung mit den Gegnern auf dem Wege logischer Argumentation so gut wie völlig aus - aber es schließt auch sogar fast immer die Verständigung schon [S. 161] über die Begriffe aus. Ein Wort mag noch so exakt definiert worden sein, es bleibt für den Autor und für den Leser dennoch immer das wunschbetonte, geliebte oder verhaßte Wort und das um so mehr, wenn es sich um ein Schlagwort, um einen Bannspruch, um ein Schibboleth des gesellschaftlichen Klassenkampfes handelt.

Solch ein Bannspruch ist das Wort »Demokratie«, und ist es seit fast zweieinhalb Jahrtausenden, seit der Zeit Solons von Athen. Etymologisch bedeutet es »Volksherrschaft« - aber diese Kenntnis nützt uns nur so wenig wie unsere Kenntnis von dem Ursprung des Wortes »Persönlichkeit«; denn noch heute dreht sich aller Streit darum und hat sich wohl schon zu Solons Zeit darum gedreht, was unter »Volk« und was unter »Herrschaft« zu verstehen sei. Heute braucht man es bald, um eine Verfassung der Geschichte oder der Gegenwart zu bezeichnen; man nennt wohl auch einen Staat, der diese oder eine ähnliche Verfassung hatte oder hat, eine Demokratie. Für andere ist es eine »Weltanschauung«, eine politische Theorie, ein politisches Ideal. Und so fort.

In so trübem Wasser läßt sich gut fischen. Und so wird denn das so glücklich vieldeutige Wort von den Gassenhelden des politischen Kampfes durch alle Gossen geschleppt.

Wenn wir jetzt unsererseits versuchen wollen, festzustellen, welche Urbedeutung den verschiedenen heutigen Anwendungen des Wortes »Demokratie« zugrunde liegt, so wollen wir uns des alten Kunstgriffes bedienen, der darin besteht, nach dem Gegensatz zu fragen, der über oder unter der Bewußtseinsschwelle regelmäßig mitgedacht oder wenigstens mitgefühlt wird, wenn man solche komplexen Begriffe gebraucht. Hier handelt es sich wohl immer um Begriffspaare, die zusammen einen ganzen Bezirk von Tatsachen umspannen; und man findet die Grenzen des einen, wenn man die seines Korrelativbegriffes feststellt.

Nun, der Gegenbegriff gegen Demokratie ist Oligokratie, Herrschaft weniger über eine Gesamtheit. Unter ihren Begriff fällt die Herrschaft jeder Minderheit (es kann auch ein einzelner sein, dann ist es Monokratie), und zwar ist die rechtliche Verfassung überall von wenig Bedeutung. Ob die Monokratie patriarchalisches Fürstentum, absoluter Cäsarismus, Militärdespotie oder konstitutionell beschränkte Monarchie; ob die Oligokratie im engeren Sinne, als Herrschaft einer mehrköpfigen Minderheit, eine Blutsaristokratie oder eine Plutokratie [S. 162] oder eine Bureaukratie ist, ist ebenso gleichgültig für den Begriff wie die Tatsache, ob sie drückend oder milde, im Einklang oder im Gegensatz zu den Gesetzen und der Verfassung ausgeübt wird.

In dieser weitesten Bedeutung des Wortes hat die Oligokratie in ihren verschiedenen Formen und mit ihrer verschiedenen faktischen und rechtlichen Begründung alle bisherige Menschheit und Menschheitsgeschichte beherrscht. Sie ist keine »Weltanschauung«, keine »Theorie«, kein »Ideal«, sondern eine ungeheure Tatsache.

Und die »Demokratie« ist ursprünglich ebensowenig eine Weltanschauung, eine Theorie, ein Ideal, sondern sie ist nichts anderes, als die auf jene ungeheure Tatsache notwendig eintretende Reaktion, die sich je nach den Umständen verschieden äußert: kritisch als Weltanschauung, logisch als Theorie, ästimativ, vor dem Werturteil, als Ziel, praktisch als Politik der Reform oder der Revolution.

Sobald aber die »demokratische« Reaktion anfängt, sich in dieser Weise zu äußern, reflektiert sich der Prozeß wieder auf die Oligokratie zurück. War sie bis dahin eine einfache Tatsache, naiv auferlegt, naiv angenommen, so wird auch sie jetzt Gegenstand des Bewußtseins und wird in dessen verschiedenen Formen ausgestaltet: reaktiv tritt die aristokratische Kritik der demokratischen als aristokratische Weltanschauung gegenüber, die Logik rechtfertigt sie als Theorie, der Wille erhebt sie zum Ideal, die Handlung orientiert sich als aristokratische Politik an der Taktik und Strategie der Gegner, die sie zu bekämpfen hat.

Daß dem so ist, beweist die Entstehung des Wortes selbst. In Athen herrscht, wie überall, ursprünglich die Oligokratie der Grundherren und führt, wie überall, ein hartes Regiment. Man darf nie vergessen, daß die »drakonischen Gesetze« nur eine Kodifikation des geltenden Gewohnheitsrechtes waren. Die Reaktion setzt ein. Was verlangt sie? Anstelle der Herrschaft der wenigen die der Gesamtheit des Volkes: Demokratie.

Was aber ist der »Demos«, das Volk? Es ist wichtig, sich das klarzumachen. Er umfaßt nicht etwa die ganze Bevölkerung Attikas, nicht einmal die gesamte erwachsene Bevölkerung, ja, nicht einmal die gesamten männlichen Erwachsenen, sondern nur die erwachsenen männlichen Freien. Die zahlreiche Sklavenschaft gehört nicht zum Demos, kommt politisch überhaupt nicht in Betracht. Es bedurfte vieler Jahrhunderte, des Untergangs zahlloser Gemeinwesen, der Ausbildung [S. 163] des großen helleno-römischen Kulturkreises, ehe der der Antike ganz fremde Gedanke aufkommen konnte, daß der Anteil an der Staatsregierung nicht »Bürgerrecht«, sondern schlechthin »Menschenrecht« sei.

Die Tatsache aber, daß in Hellas überall, in Rom und den Pflanzstädten, der Begriff der Demokratie so eng gesteckt war, zeigt klarer als irgend etwas anderes, daß sie keine »Weltanschauung«, kein »Ideal« war, sondern lediglich eine Reaktion. Die Oligokratie bestand und lastete auf den Beherrschten, wie jede Herrschaft ihrem Begriff nach mehr oder weniger lasten muß - und als Reaktion dagegen entsteht in gewissen Schichten der Beherrschten der einfache Wunsch, mitzuherrschen, aus der politisch minderberechtigten und ökonomisch benachteiligten Schicht aufzusteigen in die politisch vollberechtigte und ökonomisch privilegierte Schicht.

Noch deutlicher wird das, wenn man sich alle die uns genauer bekannten Verfassungskämpfe der Weltgeschichte näher anschaut. Überall, in Athen und Korinth, in Rom und Tarent, in Florenz und Venedig, in Frankfurt und Lübeck, in England und Frankreich, Deutschland und Rußland, steht an der Spitze der Kämpfe um die »Demokratie« gegen die Oligokratie der reiche Bourgeois, der Vertreter des moneyed interest - und überall zeigt der Verlauf, daß es ihm nicht auf »Volksherrschaft«, sondern nur auf die eigene Mitherrschaft angekommen ist. Unmittelbar nach dem Siege der verbündeten Klassen schließen diese Financiers und Bankokraten, diese Großindustriellen und Großhändler ihren Sonderfrieden mit den alten Nutznießern des Staates, den Vertretern des landed interest, formieren mit ihnen die neue Oligokratie der »Nobilität« oder »nuova gente« und weigern ihren Mitstreitern aus der armen Unterschicht die Mitherrschaft. Und da sie oft fortfahren, sich dabei der »demokratischen« Redewendungen zu bedienen, bekommt das Wort eine recht sonderbare Prägung. Es wird jetzt von oben und von unten her gebraucht, um genau entgegengesetzte Theorien und Handlungen zu rechtfertigen und genau entgegengesetzten Zielen zu dienen.

Die antiken Stadtstaaten sind über einen gewissen Punkt der Entwicklung nicht hinausgelangt. Sie mußten unerbittlich daran zugrunde gehen, und zwar im ernstesten Sinne des Wortes: physisch, an Entvölkerung, an Völkerschwindsucht zugrunde gehen, weil sie eben noch »Kratien« waren, weil auf der Grundlage unfreier Arbeit ein gesundes [S. 164] Gesellschaftsleben unmöglich ist. Die Sklaverei wirkt in der entfalteten Wirtschaft des kapitalistischen Marktverkehrs auf die Gesellschaft wie eine Infektion mit massenhaften hochvirulenten Infektionsträgern.

Aber die modernen Völker hatten diesen Krankheitsstoff bereits früh ausgeschieden und konnten über jene Stufe hinausgedeihen, die die antiken Völker noch erklimmen konnten. Ihre Wirtschaftsordnung baut auf freie Arbeit, und darum ist ihr Los nicht Völkerschwund, sondern Völkerwachstum, nicht Tod, sondern Leben. Und darum erstieg auch ihr Verfassungskampf höhere Stufen. Schicht nach Schicht erzwang in den vorgeschrittenen Staaten der westlichen Zivilisation die Gleichberechtigung zunächst in der Verfassung und vor dem Recht. Am weitesten voran stehen die englischen Kolonien, namentlich Australien, und hier wieder Neu-Seeland; dann folgen die United States, England, Frankreich und in einem weiteren Abstande die mitteleuropäischen Staaten auf immer tieferen Stufen des überall gleich ablaufenden Streites, während in Osteuropa und Asien eben erst vor unseren Augen seine ersten Schlachten geschlagen werden.

Und dabei zeigt sich nun allerdings deutlicher und deutlicher, daß die »Demokratie« sich auch als Begriff in einer kräftigen Entwicklung zu einem bestimmten Ziele hin befindet. War sie anfangs nur instinktive, dann bewußte Reaktion, so will sie jetzt allerdings Weltanschauung, Theorie und Ideal werden. Der früher enge Begriff des »Demos« erweitert sich immer mehr. Umfaßte er einst nur bestimmte Teile der Gesamtbevölkerung, so zeigt er jetzt die Tendenz, sie ganz zu umfassen. Seit der vierte Stand der Vermögenslosen, der »Nichts-als-Arbeiter«, sich der Vormundschaft des dritten Standes, der ihn verraten hatte, entzogen und sein eigenes Banner als politische Partei des Sozialismus entfaltet hatte, dieser vierte Stand, der grundsätzlich den letzten Stand, die Basis der Pyramide darstellt - seitdem bedeutet das Wort »Demokratie« in ihrem Munde in der Tat die Herrschaft der Gesamtheit aller Bürger.

Wenigstens grundsätzlich und in ihrem eigenen Bewußtsein. Nur ist ihre Anschauung oft noch beengt: sie sehen nur sich selbst und ihre Bedürfnisse, sind blind dagegen, daß neben ihnen noch andere Schichten existieren, die die gleichen Ansprüche geltend machen dürfen. Die deutsche Sozialdemokratie z. B. ist stark geneigt, sich zur einseitigen Vertretung der Industriearbeiter zu entwickeln, während doch der Landarbeiter auch existiert, leidet und aufwärts will. Und es gibt [S. 165] Sozialisten genug, die der politisch-rechtlichen Emanzipation der einen Hälfte, vielleicht des größeren Teiles der Menschheit, noch Widerstand leisten, der Frauen.

Immerhin: der Gedanke marschiert, gewinnt reißend an Boden und ist augenscheinlich dabei, sein Gebiet völlig zu erfüllen; die »Mitherrschaft« aller Erwachsenen beider Geschlechter wird zur Weltanschauung, zum Inhalt der Theorie und als Ideal zum Ziel der praktischen Politik.

Dieser unwiderstehliche Zug der Zeit ist des Oligokraten Scham und Schmerz, des demokratisch Gesinnten Stolz und Freude; aber beide scheinen selten zu bemerken, daß der Begriff der Demokratie bei diesem Ausweitungsprozeß seinen alten Inhalt allmählich verliert und sich mit neuem Inhalt füllt; um mit Hegel und Marx zu sprechen: "Die Quantität schlägt in die Qualität um". Je weiter sich der eine Teil der Begriffsverbindung, der »Demos«, ausdehnt, um so mehr schrumpft der zweite Teil, die »Kratie«, ein. Und wenn einmal die erste Komponente ihren vollen Umfang erreicht haben wird, dann wird die zweite bis auf das leergelaufene, allen Inhaltes beraubte Wort verschwunden sein, vergleichbar jenen unglücklichen Föten, die durch das Wachstum ihrer stärkeren Zwillinge im Mutterleibe an die Wand gedrückt und immer mehr komprimiert werden, bis sie schließlich, wenn jene, reif geworden, entbunden werden, als »foeti papyracei«, als »Papierföten«, als jämmerliche Membranen, mit ihnen auf diesem Planeten erscheinen.

Solch ein foetus papyraceus wird am Tage, wo der Demos in dem weitesten Begriff des Wortes zum Lichte geboren sein wird, die »Kratie« sein, ein papierenes Wort, ein ausgeronnener Begriff.

Denn, wenn alle Erwachsenen beider Geschlechter zur vollen »Mitherrschaft« berufen sind: über wen oder was sollen sie »herrschen«? Über sich selbst? Über die Unerwachsenen? Über die Natur?

Wer eine dieser Antworten geben wollte, würde damit nur beweisen, daß er nicht weiß, was historisch »Herrschaft«, »Kratie« bedeutet. Und dann muß man es ihm sagen. Trotz aller Philosophen, die mit untauglichen Mitteln die Herrschaft zu idealisieren versuchen: Herrschaft war nie etwas anderes als die rechtliche Form einer wirtschaftlichen Ausbeutung.

Da man nun die »Herrschaft über sich selbst« nicht dazu gebrauchen kann, sich selber auszubeuten; da die Ausbeutung der Kinder [S. 166] durch ihre natürlichen Vormünder wohl hier und da traurigerweise vorkommen mag, namentlich durch solche Eltern, die selbst ihrerseits hart »beherrscht« und ausgebeutet werden; da aber diese Ausbeutung niemals kraft Rechtens, sondern zu Unrecht erfolgt - denn alle Gesetze und Sitten der Welt verleihen den Eltern und Vormündern ihr Verfügungsrecht nur unter der Bedingung, daß sie es im Interesse und zum Vorteil des Mündels brauchen -, und da schließlich die Natur nicht »ausgebeutet« werden kann, weil das nur gegenüber moralischen Wesen möglich ist, so ist damit bewiesen, daß bei voller Verwirklichung der Demokratie die Demokratie aufhört, Kratie zu sein, und - Akratie wird.

Und das ist nun in der Tat ein Ideal der Menschheit, und zwar das höchste ihrer Ideale, geträumt und begründet von ihren erlauchtetsten Denkern. Von Platons Politeia an bis auf die Utopia des Morus und die Geschichte der Sevarambier, bis auf die Quesnays »Ordre naturel«, Lessings »Weltstaat« und Kants »Vereinigung frei wollender Menschen«, bis auf St. Simons »Industrialismus« und Marx »Zukunftsstaat« haben alle Utopien die Akratie als Ideal über der Menschheit aufgepflanzt.

»Halt!« sagen die Kenner der Literaturgeschichte. Auf Lessings und Kants Vorstellungen trifft das zu, aber nicht auf die anderen Utopisten. Sie alle statuieren die Herrschaft als notwendig. Platon, Morus, Campanella die Herrschaft der Philosophen oder Priester, St. Simon die der großen Unternehmer, Quesnay, der Träumer und Theoretiker des aufgeklärten Despotismus, die Herrschaft des unbeschränkten Monarchen, der gleichzeitig Arzt und Erzieher seines Volkes ist, und gar Marx die einer ungefügen Bureaukratie, die alles wirtschaftliche Leben, alle Produktion und Verteilung der Güter reguliert, die Bürger an die Arbeit stellt und mit Gütern versorgt.

Richtig, und doch waren sie alle Gläubige der »Akratie«. Ich habe absichtlich dieses wenig gebräuchliche Wort angewendet, weil ich ein gebräuchlicheres und bekannteres für einen anderen Begriff brauche, der häufig mit dem ersten verwirrt und verwechselt wird. Akratie ist nicht »Anarchie«.

Akratie ist das Ideal einer von jeder wirtschaftlichen Ausbeutung erlösten Gesellschaft, Anarchie das Ideal einer von jeder Autorität, jeder zwingenden, gesetzlich berechtigten Gewalt freien Gesellschaft. Das sind zunächst einmal begrifflich zwei recht verschiedene Dinge.

[S. 167] Die Anarchisten werden erwidern: "Was bekümmern uns begriffliche Haarspalterei? Praktisch - und nur darauf kommt es an - ist Akratie ohne Anarchie undenkbar. Wo immer Autorität bestand, bestand Ausbeutung. Und wo immer Autorität bestehen wird, wird Ausbeutung bestehen. Und darum gibt es nur ein Mittel zur Herbeiführung der Akratie, nämlich die Anarchie."

Die Meinung ist sehr weit verbreitet, unter Freunden und Gegnern. Ludwig Gumplowicz, der Mitschöpfer der deutschen Soziologie, der Todfeind des Anarchismus, hat gerade aus dieser Grundvoraussetzung heraus, die er mit dem Anarchismus teilte, seinen tieftraurigen soziologischen Pessimismus abgeleitet, in etwa folgendem Schluß: "Ohne Autorität ist kein gesellschaftliches Zusammenleben möglich; das Chaos würde hereinbrechen. Autorität aber ohne Ausbeutung ist undenkbar. Folglich ist gesellschaftliches Leben ohne Ausbeutung undenkbar."

Das Problem, das hier vor uns aufsteht, ist hochernst. Es ist das ernsteste Problem der Menschheit. Haben wir wirklich nur die Wahl zwischen der Verewigung der Ausbeutung auf der einen Seite und der Vernichtung aller Kultur und allen Reichtums im Chaos des Kampfes aller gegen alle auf der anderen Seite? Muß das Schifflein der Menschheit, um die Skylla zu vermeiden, wirklich an der Charybdis scheitern?

Die Anarchisten geben vor, zu glauben, und einige Phantasten glauben es vielleicht wirklich, daß die Menschheit sich auch ohne Autorität werde völlig verwalten können. Das ist pures Phantasma. Wenn wir die Gesellschaft der Akratie durchdenken, so finden wir freilich, daß sie, namentlich als »Weltstaat« lessingisch gedacht, mit sehr wenig »Autorität« auskommen wird. Das Heer, die Polizei, die Gefängnisbeamten, das Richterpersonal werden zum Teil ganz verschwinden, zum Teil auf einen Minimalbestand herabsinken, den wenige heute für möglich halten. Aber niemals wird ein Gemeinwesen, das größer ist als ein Dorf, auskommen ohne ein Recht und ohne die Beamten, die es sprechen und im Notfall die Macht haben, es zu erzwingen; ohne ein Strafrecht namentlich und ein Expropriationsrecht. Ohne ein Strafrecht fallen wir mit fataler Notwendigkeit in die wilden Zeiten der Blutfehden, der Vendetta und des Richters Lynch zurück, und das sind ehrwürdige Institutionen, die von einer gewissen Höhe der Wirtschafts- und Kulturstufe an nicht mehr geduldet werden [S. 168] können; und ohne ein Expropriationsrecht im Interesse der Gesamtheit ist der Narr, der Querkopf und der Böswillige ihr Herr und ihr Ausbeuter. Und ferner kann keine größere Gemeinschaft auskommen ohne ein gewisses Gemeineigentum, mindestens an Wegen, an Bildungsanstalten, an Schulen, vielleicht Kirchen - wer will im anarchistischen Reich Kirchen verbieten? -; solche Dinge müssen verwaltet und geschützt werden, und dazu gehören Beamte, die man besolden muß, und dazu Steuern. Die kann man aus Gründen der Gerechtigkeit dort, wo es sich um allgemeine Interessen handelt, auch nur als Zwangsumlage von allen Berechtigten einziehen. Und selbst wenn wir uns allen Staat aufgelöst denken in lauter freie, auf Freiwilligkeit beruhende Genossenschaften: einige von ihnen werden doch örtliche Genossenschaften sein müssen, und das sind dann eben Gemeinden mit Gemeindebedürfnissen, die autorisierte Beamte und öffentliche Mittel erfordern. Und sind trotz alledem Gemeinden, die sich zu gewissen größeren, sonst nicht erreichbaren Zwecken - man denke nur an Kanal-, an Deich-, an Wasserbauten usw. - einigen müssen, um die gemeinsamen Zwecke zu verwirklichen. Die zu Ende gedachte Anarchie ist die Zersplitterung der Menschheit in lauter kleine Horden, die sich gegenseitig bekämpfen, ist die Vernichtung aller gesellschaftlichen Kooperation, d. h. fast aller gütererzeugenden Kraft, und daher die Vernichtung des größten Teiles der heute lebenden Menschheit, da in so schwacher Arbeitsteilung der Quadratkilometer kaum mehr als einen Kopf ernähren kann.

Dieser Weg der Abschaffung aller Autorität und zwingenden Gewalt ist also keineswegs gangbar; er würde, anstatt zur Verminderung, zur unmeßbaren Vermehrung des menschlichen Elends und der menschlichen Unfreiheit führen: denn wer ist elender und unfreier als der Primitive, obgleich gerade er nach Ernst Grosses treffendem Wort "ein praktischer Anarchist" ist?

Ist denn nun die anarchistische Behauptung wahr, daß Autorität und Ausbeutung in aller Vergangenheit untrennbar verknüpft waren und in aller Zukunft untrennbar verknüpft sein werden?

Was die Vergangenheit anlangt, so wollen wir den Satz im allgemeinen zugeben, müssen aber betonen, daß hier und da seltene Ausnahmen von der Regel aufzufinden sind, die bei genauerer Analyse die Regel zwar nicht aufheben, wohl aber auf das von ihr wirklich beherrschte Gebiet beschränken. Wir finden hier und da in völlig [S. 169] freien Gemeinschaften Beamte, die während ihrer Amtsdauer eine sehr weitgesteckte Gewalt genießen, ohne daß es ihnen oder ihren Untergebenen jemals in den Sinn käme, daß auch nur der Versuch eines Mißbrauchs dieser Amtsgewalt zu persönlicher Bereicherung oder Machterweiterung gemacht werden könnte. Ich denke hier an die gewählten Hetmans der freien Kosaken am Dnjester, die während des Kriegszustandes Herren über Leben und Tod ihrer Wähler waren, ferner an die Schultheißen und Kriegshauptleute freier Bauernschaften, wie z. B. der Dithmarschen, in einigen Perioden auch der Schweizer; und glaubt jemand, daß die Marius, Sulla und Cäsar, die in Rom zur Zeit der Samniterkriege lebten - und sie haben damals, wie zu allen Zeiten, gelebt -, auch nur auf den Gedanken hätten kommen können, die Staatsordnung in ihrem persönlichen Interesse umzuwälzen, ihr konsularisches oder tribunisches Amt zu mißbrauchen?

Solche Ausnahmen beweisen an sich noch nicht, daß die Behauptung der Anarchisten und des soziologischen Pessimismus falsch ist. Denn sie sind sehr selten und beziehen sich außerdem noch auf verhältnismäßig kurze Zeiträume. Die Vermutung wäre immerhin gestattet, daß jene Kräfte, die von der Autorität zur Ausbeutung leiten, hier und da für kurze Zeit durch Gegenkräfte persönlicher oder sozialer Art paralysiert oder doch gehemmt werden können.

Aber jene Ausnahmen zeigen doch klar genug, daß die behauptete Verbindung von Autorität und Ausbeutung doch nicht eine unmittelbare sein kann, sondern daß sie durch Mittelglieder hergestellt wird, die irgendwie mit der sozialen und ökonomischen Lage des Staatswesens zusammenhängen müssen. Und so entsteht das wissenschaftliche Problem, diese Mittelglieder aufzufinden und mit soziologischen Mitteln aus ihren Ursachen abzuleiten. Erst daraus kann sich ergeben, ob jener häufige, fast regelmäßige Zusammenhang eine »immanente Kategorie« des Gesellschaftslebens, also auch eine unvermeidliche Notwendigkeit aller Zukunft ist, oder eine »historische Kategorie«, Folge vermeidlicher, nicht notwendiger Ursachen. Erst diese Untersuchung kann uns Klarheit bringen; solange sie nicht durchgeführt ist, ist die Behauptung des Anarchismus nichts Besseres als ein Analogieschluß aus der Vergangenheit auf die Zukunft. Und Analogieschlüsse beweisen nichts! Selbst einen Aristoteles hat die Geschichte ad absurdum geführt: auch er hielt per analogiam die Sklaverei für [S. 170] eine immanente Kategorie alles künftigen, weil alles vergangenen Gesellschaftslebens.

Diese Untersuchung anzustellen, wird jetzt unsere Aufgabe sein, um herauszufinden, ob in der Tat die Demokratie im Sinne der Akratie ein ewig unerreichbares Ideal der Menschheit ist.

* * *

Alle Soziologie hat auszugehen von den menschlichen Bedürfnissen. Denn die Gesellschaft ist nichts anderes als das kleinste Mittel zur möglichst vollkommenen Befriedigung der Bedürfnisse ihrer Mitglieder. Unter diesen Bedürfnissen nehmen diejenigen den höchsten Rang ein, die für den einzelnen die Bedürfnisse höchster Dignität, d. h. Dringlichkeit sind, diejenigen, die er zum Teil mit dem Tiere gemeinsam hat, die Bedürfnisse nach Sachgütern, zunächst der Nahrung und des Obdachs, später der Kleidung, der Werkzeuge, des Luxus.

Nun hat der Mensch zwei grundsätzlich entgegengesetzte Mittel, um sich die Güter zu beschaffen, deren er bedarf. Das eine Mittel ist die eigene Arbeit an der Natur und auf höherer Stufe der als äquivalent betrachtete Austausch seiner Arbeitserzeugnisse gegen Fremde. Weil es sich hier um die beiden Tätigkeiten handelt, die die Wirtschaftsgesellschaft begründen, habe ich dieses Mittel das »ökonomische Mittel« genannt.

Das zweite Mittel, dessen sich der Mensch bedient, um sich die Güter zu beschaffen, ist die unentgoltene Aneignung durch Gewalt, und zwar durch körperliche Gewalt oder den Mißbrauch geistlicher Gewalt durch Patriarchen und Priesterschaften. Dieses Mittel habe ich als das »politische Mittel« bezeichnet.[1]

Warum »politisches Mittel«? Weil es im internationalen und im intranationalen Leben alle Politik beherrscht. Der Urtypus aller internationalen Beziehungen ist der Krieg, und der hatte oft genug zwar einen anderen Vorwand, aber wohl kaum jemals einen anderen Grund als die Bereicherung einer Nation auf Kosten der anderen, oder die Abwehr eines solchen Bestrebens. Wird doch selbst heute noch sogar der internationale Handel nach der Weise des Merkantilismus von vielen als ein Mittel betrachtet, um nicht-äquivalente Täusche zu vollziehen, d. h. den Händlern des eigenen Landes auf Kosten der fremden Händler einen Mehrwert an Gütern zuzuführen.

[S. 171] Vor allem aber beherrscht das politische Mittel auch das wichtigere intranationale Leben durchaus. Es hat den Staat geschaffen. Der Staat ist nichts anderes als das politische Mittel in seiner Entfaltung.

Der Gedanke ist nur der Form nach neu; dem Inhalt nach ist er alt genug. Er verdankt namentlich dem französischen Genius seine allmähliche Ausgestaltung. Die Genealogie geht von Rousseau über J. B. Say und St. Simon zu Proudhon. Man hat fanatisch um ihn und gegen ihn gekämpft; und das ist wohl verständlich, denn es ist vielleicht der revolutionärste Gedanke, den man aussprechen kann. Er ist der Hebel, um die festesten Zwingburgen und Bastillen zu erschüttern.

Diese Auffassung des Staates widerstreitet der geltenden Staatsphilosophie auf das heftigste. Nach einigen Philosophen ist der Staat die Verwirklichung des göttlichen Gedankens auf Erden oder irgendwelcher anderen wertvollen künftigen Dinge. Darauf ist zu erwidern, daß wir nicht theologisch oder teleologisch fragen, wozu der Staat bestimmt ist, wozu er sich entwickeln soll, sondern soziologisch-kausal, was der Staat ist, aus welchen Ursachen, aus welchen menschlichen (nicht überirdischen) Zwecken er entstanden ist. - Andere Philosophen behaupten seit Epikur, der Staat sei die Organisation des Grenzschutzes nach außen und des Rechtsschutzes nach innen. Darauf ist zu erwidern erstens, daß das ganz richtig ist, aber den Staatsinhalt bei weitem nicht erschöpft und zweitens, daß es sehr darauf ankommt, zu untersuchen, welcher Art das Recht ist, das der Staat schützt.

Die einzige Erklärung vom Wesen und von der Entstehung des Staates, die der wissenschaftlichen Prüfung standhält, ist die folgende, die im wesentlichen von Ludwig Gumplowicz-Graz stammt: der Staat ist eine Rechtsinstitution, einer beherrschten Schicht einseitig, durch körperliche oder geistliche Gewalt aufgezwungen von einer herrschenden Schicht, mit dem einzigen ursprünglich vorhandenen Zwecke, die Unterschicht zugunsten der Oberschicht zu bewirtschaften, und das heißt: nach dem Prinzip des kleinsten Mittels "mit dem geringsten Aufwande zum größten dauernden Erfolge" auszubeuten.

Dieser für den ersten Blick paradoxe Satz wird erstens bewiesen durch die Induktion. Die Geschichte kennt keinen einzigen gut beobachteten Fall von originärer Staatsentstehung, der nicht nach diesem [S. 172] Typus verlaufen wäre. (Bei den Kolonien tritt die Gewalt oft unerkennbar zurück: ihre Begründer bringen die Verfassung des Mutterlandes mit in die neue Heimat und das ist eben die inzwischen zu Recht gewordene ursprüngliche Gewalt.)

Vor allem läßt sich unsere Behauptung auch durch die Deduktion beweisen. Und zwar folgendermaßen:

Notorisch, unbestritten und unbestreitbar waren alle Staaten der Vergangenheit und sind alle Staaten der Gegenwart »Klassenstaaten«, d. h. Hierarchien von übereinander liegenden Schichten verschiedener politischer Berechtigung und verschiedener ökonomischer Ausstattung.

Diese Klassenscheidung beruhte bis zum Ausbruch der neuen Zeit und für viele Staaten bis tief in die Neuzeit hinein auf einem Rechte, das unbestreitbar nichts anderes war als rechtlich fixierte, durch das Recht und die Verfassung geschützte und gewährleistete frühere Gewalt, Gewalt des Schwertes oder des Meßbuches und Beichtstuhles. Die Sklaverei der Antike und die Hörigkeit des Mittelalters sind unzweifelhaft rechtlich fixiertes, einseitig auferlegtes politisches Mittel gewesen. Und da der Staat der Antike gar nichts anderes war als das »rechtliche Gehäuse« der Sklaverei, der des Mittelalters gar nichts anderes als das rechtliche Gehäuse der Leibeigenschaft, so ist für diese beiden großen Geschichtsepochen unsere Behauptung erwiesen.

Wie steht es aber mit den Staaten der Gegenwart, in denen die Sklaverei und Hörigkeit rechtlich nicht mehr existieren? Mit den Staaten vor allem, die bereits »demokratisch« reif sind, das allgemeine Stimmrecht, die allgemeine Wehrpflicht und die volle Gleichheit vor dem Gesetz haben? Sind auch sie entfaltetes »politisches Mittel«?

Unzweifelhaft sind sie es, und das läßt sich stringent beweisen. Daß sie immer noch »Klassenstaaten« sind, mindestens ökonomisch, wird niemand zu leugnen versuchen; und fast alle werden zugeben, daß sie auch politisch noch immer mehr oder weniger Klassenstaaten sind, d. h. daß der Einfluß der Wohlhabenden auf Gesetzgebung, Verwaltung und Politik nach innen und außen, in Krieg und Handel weit stärker ist, als ihrer Verhältniszahl entspräche, und daß dieser Einfluß nicht immer ausschließlich im Interesse der Unterschicht ausgeübt wird.

[S. 173] Nun wohl, wir behaupten: auch ein moderner, rechtlich freier Klassenstaat kann nichts anderes sein als entfaltetes politisches Mittel; alle Klassenscheidung kann nur bestehen auf Grund einer Verfassung und eines Rechtes, das ehemalige Gewalt sanktioniert und gewährleistet; alle Klassenscheidung muß sofort aufhören, sobald dieses Recht verschwindet. Dieses Recht ist das der Bodensperrung.

Der große Turgot scheint es gewesen zu sein, der zuerst den Satz aufgestellt hat, daß nicht eher eine Arbeiterklasse entstehen kann, als bis "jedes Stück Land seinen Herrn gefunden hat", - und daß daher auch nicht eher arbeitsloses Einkommen und Großvermögen an Grund und Boden oder »Kapital« entstehen kann - denn all das setzt die Existenz einer Klasse besitzloser, in der Marxschen Sprache »freier« Arbeiter voraus.

Daß alles Land bereits zur Zeit Turgots »seinen Herren gefunden hatte«, war klar, denn es existierte ja seit langer Zeit schon eine Arbeiterklasse, existierte Großvermögen und arbeitsloses Einkommen. Aber wie hatte es seinen Herrn gefunden? Durch das ökonomische Mittel, d. h. durch die Besitznahme von Bauern, die die Scholle selbst pflügten, oder durch das politische Mittel, d. h. durch die Besitznahme von Leuten, die es nur sperrten, um andere dazu zu zwingen, ihnen einen Teil ihres Arbeitsertrages abzutreten?

Weder Turgot noch einer seiner Nachfolger (außer vielleicht der irische Sozialist Thompson) haben diese Frage gestellt. Sie haben gar nicht entdeckt, daß hier eine zweifache Erklärung möglich ist. Sondern sie haben folgendermaßen geschlossen: "Gäbe es genug Land für das Bedürfnis der Gesellschaft, so könnte keine Klassenscheidung und kein Großeigentum vorhanden sein. Nun ist das alles aber vorhanden, folglich gibt es nicht genug Land."

Der Schluß ist falsch. Er vernachlässigt die Möglichkeit, daß zwar an sich, von Natur aus genug Land vorhanden sein, aber durch das Recht des Eigentums gegen die Besitznahme durch die Landbedürftigen gesperrt sein könnte. Ist das etwa der Fall, so sind die Folgen für die gesellschaftliche Klassenschichtung offenbar ganz die gleichen, als wäre das gesperrte Land gar nicht vorhanden.

Wie nun diese Frage entscheiden? Nun, sehr einfach durch Rechnung und Statistik. Wir müssen fragen, wieviel Land zu selbständiger bäuerlicher Wirtschaft nötig ist und dann feststellen, wie groß die heute vorhandene landbedürftige Bevölkerung und wie groß der [S. 174] Vorrat an Ackerland ist. Zeigt sich dann, daß der Vorrat nicht ausreicht, so ist die Klassenscheidung mit ihren Folgen natürlich bedingt, notwendig, immanente Kategorie der menschlichen Gesellschaft: und der Klassenstaat von heute ist grundsätzlich unabänderlich. Zeigt sich aber, daß der Vorrat den Bedarf übersteigt, so ist die Klassenscheidung mit ihren Folgen rechtlich bedingt, ist Konsequenz einer Sperrung des Bodens und dann ist der Klassenstaat von heute historische Kategorie, Schöpfung und rechtliches Gehäuse des politischen Mittels.

Nun, die Rechnung ergibt zweifellos, daß der zweite Fall der Wahrheit entspricht. Ich habe die Berechnung an anderer Stelle ausführlich aufgestellt[2]; hier nur die wichtigeren Ziffern.

Der Bedarf einer selbständigen Bauernfamilie an Land ist nach der Meinung aller Autoritäten selbst für Deutschland mit 1 ha pro Kopf, 5 - 7 ha pro Familie durchschnittlich hoch angeschlagen. Diese Fläche kann eine Familie sehr anständig ernähren: sie bringt im Osten Deutschlands nach den neuesten Ziffern bis über 300 Mark pro Hektar »Markterlös«, d. h. verkäufliche Produkte nach Abzug dessen, was der Bauer und seine Familie und seine Tiere selbst verzehrt haben. Und das ist noch lange nicht das erreichbare Maximum; der Ertrag kann bei verstärkter Viehzucht noch sehr gesteigert werden, wie Dänemark und Nordfrankreich beweisen. - Die gleiche Fläche ist aber auch durchschnittlich das Maximum dessen, was eine bäuerliche Familie bei der durchschnittlichen Viehhaltung und Intensität der deutschen Landwirtschaft heute ohne gemietete Arbeiter bestellen könnte: und wir fragen ja gerade danach, wieviel Land eine Familie in einer Gesellschaft braucht, ehe eine Arbeiterklasse existiert.

Nun, Deutschland hat 34 Millionen Hektar agrarisches Nutzland, aber nur 17 Millionen agrarische Bevölkerung, könnte also gerade das Doppelte der Zahl als selbständige Bauern unterhalten, die es jetzt unterhält; und dabei ist weit über die Hälfte der heutigen Landbevölkerung Deutschlands besitzloses Ackerproletariat, und noch einmal gut die Hälfte des Restes hat viel weniger Land als 1 ha pro Kopf. Die Erklärung liegt in dem Worte: Bodensperre. Fast ein Viertel der ganzen Nutzfläche gehört den Großgrundbesitzern mit mehr als 100 ha Ackerfläche (ohne Wald) und mehr als ein zweites Viertel Großbauern, die zahlreiche Arbeiter besolden müssen, um ihren Boden bestellen zu können. Sicherlich besteht also in Deutschland die politische Okkupation des Bodens, und die Klassenscheidung ist Werk des politischen, nicht des ökonomischen Mittels.

Dasselbe gilt für Großbritannien mit seinem riesigen Latifundienbesitz, dem Lloyd George den Krieg erklärt hat, für Belgien, für Italien, für Österreich, für Rußland, Rumänien usw. Aber es gilt auch für die Staaten des bäuerlichen Besitzes, für Frankreich, für die Schweiz, für Holland, für die Vereinigten Staaten von Nordamerika. Überall könnte viel mehr als die gegenwärtige landwirtschaftliche Bevölkerung für selbständige Wirtschaft Raum finden, und überall sind trotzdem ein großes landwirtschaftliches Proletariat und ein starker Zwergbesitz vorhanden. Wo der einzelne mehr Boden gebraucht als 1 ha pro Kopf, weil die Intensität der Kultur noch tief steht, da ist auch die Dichtigkeit der Bevölkerung entsprechend klein. Und dort, wo eine starke Dichtigkeit besteht, da ist auch die Intensität der Kultur so groß, daß die bedurfte Fläche entsprechend kleiner ist. Für Westdeutschland und Frankreich mit ihrem reicheren Boden, besseren Klima und ihrer höheren Kultur rechnet man 2/3 ha pro Kopf, ca. 3 - 4 ha pro Familie durchschnittlich bereits als ausreichend für bäuerliche Unabhängigkeit (durchschnittlich: das heißt natürlich, daß auf schlechterem Boden und in schlechter Verkehrslage mehr, unter günstigen Verhältnissen weniger Grund erforderlich ist).

Damit ist bewiesen, daß die alte Auffassung Turgots und seiner Nachfolger falsch, daß die Klassenscheidung Werk des politischen Mittels, und daß mithin der Klassenstaat das entfaltete politische Mittel ist. Ohne die Bodensperre gäbe es noch heute und auf unabsehbare Zeit hinaus keine Klassenscheidung, keine Arbeiterklasse, kein Großeigentum an Grund und Boden und an Kapital.

Was haben wir damit für unser Problem gewonnen? Nun, der Anarchismus behauptet, daß, weil der Staat immer mit Ausbeutung verbunden gewesen ist, er es auch in Zukunft immer sein wird. Daß dieser Schluß als einfacher Analogieschluß nicht zieht, haben wir bereits festgestellt; jetzt aber dürfen wir behaupten, daß er mit Sicherheit falsch ist, weil er das Wort »Staat« auf zwei verschiedene Phänomene anwendet, auf den Klassenstaat der Vergangenheit und Gegenwart und auf den klassenscheidungsfreien Staat der Zukunft, zwei Phänomene, die einander gerade so kontradiktorisch gegenüberstehen wie ihre Grundwurzeln, das politische und das ökonomische Mittel.

Daß im Klassenstaat der bisherigen Weltgeschichte alle Beamtenautorität, jedes Amt als Richter, als Feldherr, als Bürgermeister oder Gaukönig, als Volksvertreter usw., seinen Träger leicht zum Mißbrauch verführen konnte, verstehen wir ohne Schwierigkeit. Denn überall stützt sich der Beamte auf die eine Klasse, um durch sie die andere zu beherrschen und zu plündern. Marius stützt sich auf den Pöbel gegen die Besitzenden, Sulla auf die Besitzenden gegen den Pöbel; immer steht Zahl gegen Zahl, Macht gegen Macht, eine Kollektivkraft, ein Kollektivinteresse gegen das andere.

Auf wen sollte sich aber in der bis zur Akratie vollendet gedachten [S. 175] Demokratie, in der klassenlosen politischen Gemeinschaft ein Beamter stützen wollen, um seine Autorität zur Ausbeutung zu mißbrauchen? Es gibt keine klassenmäßigen Interessengegensätze, wo es keine Klassen gibt. Ein Beamter kann zum Verbrecher werden, gewiß: aber es gibt hier keine Macht, die ihn gegen den Zorn der öffentlichen Meinung schützen könnte; denn es gibt hier nur eine öffentliche Meinung, und nicht, wie im Klassenstaat, so viel Meinungen wie Klassen. Ein Beamter kann ferner vielleicht die Gesamtheit auf einen Weg führen, der zu ihrem Schaden ist; aber er kann sie nicht dazu zwingen, diesen Weg zu betreten, und ebensowenig, darauf zu verharren. Er steht allein gegen die Gesamtheit, mächtig nur, wenn er ihren Willen tut, ihr Interesse fördert, ohnmächtig, wenn er es versuchen wollte, gegen ihren Willen, gegen ihr Interesse zu handeln.

Das ist das Ergebnis unserer Überlegung, und das ist auch die Erklärung jener seltenen Ausnahmen, von denen wir vorhin sprachen. Autorität führt zur Ausbeutung überall dort, wo die Autorität sich auf ganze Klassen stützen kann, die von der Ausbeutung nicht nur nicht mitbetroffen werden, sondern ihren Vorteil mitgenießen. Daran scheiterte z. B. die sogenannte Demokratie der antiken Staaten: hier war der Klassenstaat doppelt fundiert, auf der Bodensperre und außerdem noch auf der Sklaverei; daher bestand eine schroffe Klassenscheidung, und das allein ermöglichte Demagogen und Prätendenten ihr wüstes Treiben: sie stützten sich immer auf die eine Klasse gegen die andere. Und im modernen Europa ist es grundsätzlich nicht anders.

Wo aber dieses Zwischenglied, die Klassenscheidung, nicht gegeben ist, da kann Autorität niemals straflos, und sicher nicht auf die Dauer, zur Ausbeutung gemißbraucht werden.

Wenn das wahr ist, und wir sehen nicht, wie es bestritten werden könnte, dann fällt das einzige Argument in sich zusammen, das die Oligokratie gegen die demokratischen Forderungen erheben kann, seitdem der »göttliche Wille« nicht mehr als Rechtfertigung der Herrschaft vorgeschützt wird: jenes einzige Argument, daß die Demokratie zur Anarchie, zur Unordnung, ja, zum Chaos führen müsse. Das heißt: Akratie und Anarchie verwechseln. Der klassenlose Staat der Zukunft, die von allen Resten des politischen Mittels gereinigte »Freibürgerschaft« meiner Terminologie, wird die stärkste richterliche und administrative Autorität besitzen, Beamte mit allen Machtvollkommenheiten, [S. 176] deren sie bedürfen, Steuern und Leistungen, Strafrecht und Strafrichter - sie wird nicht im mindesten Anarchie und dennoch durchaus Akratie sein.

Die Lösung

"Nun gut," könnte man sagen, "die volle Demokratie ist nach deiner Anschauung möglich durch Beseitigung des letzten Restes des politischen Mittels, nämlich der Bodensperre; die Klassenscheidung und der Klassenstaat können verschwinden, und diese Gemeinschaft soll ewige Dauer versprechen, weil sie beamtete Autoritäten einsetzen kann, ohne Mißbräuche befürchten zu müssen. Alles sehr schön: aber beweist das im entferntesten, daß dieser Zustand wünschenswert ist? Steht hier nicht Weltanschauung gegen Weltanschauung, Ideal gegen Ideal, politische Theorie gegen politische Theorie? Was beweist uns, daß die oligarchische Auffassung schlecht und die demokratisch-akratische gut ist?"

Ein wichtiges Problem und ein neues Problem! Das Problem des Wertmaßstabes der Soziologie, die sich in demselben Augenblicke zur Sozialphilosophie erhebt, wo sie dieses Problem aufwirft. Denn die Soziologie ist die Wissenschaft von Ursachen aus Wirkungen, vom Sein und Werden der menschlichen Gesellschaft, und die Sozialphilosophie ist die Wissenschaft von den Zwecken und Zielen, von den Wertmaßstäben und Wertergebnissen, vom Sollen der menschlichen Gesellschaft.

Zwei Maßstäbe haben wir, um die Oligokratie mit der Demokratie auf ihren Wert hin zu vergleichen, einen inneren und einen äußeren, einen praktischen und einen ethischen. Der praktische äußere ist ihre Leistung für die menschliche Gesellschaft, der innere ethische ist das uns immanente Sittengesetz.

Sprechen wir zuerst von dem äußeren Maßstabe der Bewertung, von der Leistung der beiden politischen Systeme.

Dabei tritt uns eine bedeutende Schwierigkeit entgegen; wir haben wohl Pseudodemokratien in Menge, historische und gegenwärtige, aber keine reine Demokratie im Sinne der Akratie. Wir können daher nicht unmittelbar und nicht mit voller Beweiskraft unsere Vergleiche anstellen, sondern können nur mittelbar vergleichen und nur Wahrscheinlichkeiten feststellen.

[S. 177] Aber freilich Wahrscheinlichkeiten, die nicht mehr viel von der vollen Gewißheit entfernt sind! Was immer wir vergleichen mögen, dasselbe Volk, das eine Mal unter der Herrschaft einer Oligokratie und das andere Mal unter der einer Demokratie in dem gewöhnlichen Sinne des Wortes, d. h. einer Herrschaft, die nicht einer sehr kleinen Klasse allein vorbehalten ist, - oder ob wir verschiedene Länder vergleichen, deren eines oligokratisch, deren zweites demokratisch regiert wird, immer ist das Ergebnis das gleiche: eine unendlich viel höhere Gesamtleistung der Gesellschaft gegenüber allen erdenklichen Kriterien. Vergleichen wir z. B. das Frankreich des Feudalismus oder der Louis mit der heutigen Republik, oder das Preußen der Junkerherrschaft zu Beginn der Neuzeit mit dem heutigen konstitutionellen Staat: welcher ungeheure Unterschied in der Lebensdauer, der geistigen Bildung und Freiheit, dem Geschmack, dem Wohlstand, der politischen Kraft, dem Bürgersinn, bis herab zum Ertrag der Äcker, der sich verdreifacht und vervierfacht hat, und zum Ertrag der Gewerbe, der sich verhundertfacht hat!

Und vergleichen wir z. B. die heutigen Vereinigten Staaten mit dem heutigen Rußland. Wir haben zwei ungeheure Gebiete von fast gleicher Volkszahl und Ausdehnung, beide vom Polargebiet bis in die Subtropen erstreckt, beide mit den gleichen Naturschätzen: Eisen, Petroleum, Kohlen, Holz, Gold usw. verschwenderisch ausgestattet, beide mit natürlichen Binnenschiffahrtsstraßen, vermittelt durch ungeheure, meerähnliche Süßwasserseen, wie sie sonst kaum auf diesem Planeten zu finden sind: zwei Objekte, die ein spöttisch-wohltätiger Genius uns geradezu nebeneinandergestellt zu haben scheint, um sie zu vergleichen und aus dem Vergleich zu lernen, was Oligokratie und Demokratie leisten können. Denn unendlich hoch, von jedem Gesichtspunkte der Bewertung aus, in geistiger und materieller Kultur, in Reichtum und Macht, im Glück seiner Bevölkerung, steht die Demokratie der Neuen Welt über der Oligokratie der Alten, noch viel höher als das neue Frankreich über dem alten. Nichts spricht mehr dafür als die Grundstimmung der Bevölkerung: in Rußland dumpfe Verzweiflung, Lebensflucht, Mystik und religiöser Fanatismus, in Amerika ein überquellender Optimismus, helle Lebensbejahung, Feuer und Kraft.

Gewiß, es gibt, um von dem stark oligokratisch beherrschten Preußen-Deutschland zu schweigen, noch Schäden und Schwären genug, auch [S. 178] in diesen beiden demokratisch am weitesten vorgeschrittenen Großstaaten Frankreich und Amerika. Namentlich in den Vereinigten Staaten beklagen wir eine ausschweifende Plutokratie, Bestechlichkeit der Beamten, Mißbrauch des Parlaments für die schamlose Ausbeutung der Konsumenten, grausamsten Raubbau an den Arbeitern, die zu Myriaden dem Dollar hingeopfert werden.

Gewiß, und es gibt gütige und kluge Männer genug, die gerade durch diese traurigen Tatsachen an dem Ideal der Demokratie irre geworden sind, die jetzt der Meinung zuneigen, daß so schwere Ausschreitungen dort unmöglich sind, wo eine straffe oligokratische Autorität die individuelle Raubgier im Zaume hält.

Wenn wir diesen Männern erwidern wollten, daß diese Ausschreitungen nur dadurch zu erklären sind, daß jene Demokratien eben noch keine vollen Akratien sind, daß sie namentlich die Bodensperre als Erbschaft der Vergangenheit übernommen und in ihrer Verfassung und ihrem bürgerlichen Rechte sanktioniert haben, so sind sie berechtigt, diese Beweisgründe abzulehnen. Sie können sagen, daß z. B. in Amerika die Demokratie wenigstens politisch durchgeführt ist, und daß man, wäre das Prinzip richtig, davon bessere Ergebnisse fordern dürfte.

Man kann versuchen, diesen Einwand durch das Mittel einer sehr ausgebreiteten historischen und statistischen Vergleichung zu widerlegen. Man kann zeigen, daß alle Nationen der Geschichte und Gegenwart dem Ideal der Leistungsfähigkeit und des allgemeinen Kulturglückes um so ferner standen und stehen, je weniger, um so näher, je mehr demokratische Elemente ihre Verfassung und Eigentumsverteilung enthielt und enthält. Man kann zeigen, daß in oligokratischen Staaten eine noch viel greulichere Korruption und Mißwirtschaft, ein noch viel grausamerer Raubbau an der Volkskraft die Regel war und ist, als sie in Amerika angeblich bestehen. Man denke an die sprichwörtliche Käuflichkeit des englischen Unterhauses in einer lang vergangenen Zeit, in der eine sehr kleine Schicht allein wahlberechtigt war, an die grauenhafte Korruption, die immer noch ganz Rußland verwüstet, an die Korruption des Kirchenstaates, an die Wahlmanöver und Massenbestechungen im feudalen Galizien und Ungarn. Und man denke an den nie wieder, wenigstens im Westen, erreichten Raubbau an der englischen Volkskraft während der ersten Dezennien der kapitalistischen Entwicklung, an die furchtbare Sterblichkeit, [S. 179] namentlich der Säuglinge, an die Herabpressung der gesamten niederen Bevölkerungsschicht auf den Kulturzustand von weißen Hottentotten: alles das Erscheinungen, die erst gemildert wurden durch die vorschreitende Demokratisierung der Verfassung; man denke an die Kindersklaverei im oligokratisch beherrschten, monarchisch regierten Unteritalien und Sizilien, an die Hölle der Schwefelbergwerke und das Inferno der Reisfelder und, wenn von Korruption gesprochen wird, an Camorra und Mafia. Und man halte dagegen, daß in den dem demokratischen Ideal am meisten angenäherten Staaten der Welt, namentlich im freien Kanada und in dem australischen Commonwealth, vor allem in Neu-Seeland, aber auch in den meisten Kantonen der altdemokratischen Schweiz und durchaus im sehr demokratischen Norwegen, trotz seiner natürlichen Armut, allgemeiner Wohlstand, hohe Kultur, reges politisches Verständnis, opferfreudiger Bürgersinn und die erfreuliche Gesundheit und Langlebigkeit einer kraftvollen Rasse besteht.

Aber, das mögen alles starke Beweisgründe sein: durchaus überzeugend sind sie nicht, namentlich für den, der nicht überzeugt werden will. Ein hartnäckiger Gegner könnte erklären, alle Extreme seien gleich schädlich, eine unkontrollierte Klassenherrschaft nicht minder als eine unkontrollierbare Pöbelherrschaft; die Wahrheit liege auch hier in der Mitte; das Ideal sei eine durch eine starke Autorität gezügelte und gemilderte Mitherrschaft nur der gebildeten und besitzenden Massen. Und jene Erfahrungen aus den Kolonien bewiesen nur, daß dort günstige Verhältnisse bestehen, wo noch eine große terra libera den Nachwuchs der Bevölkerung aufnehmen könne.

Hier ist nichts Entscheidendes zu erreichen, Meinung steht gegen Meinung. Und darum ist es gut, daß man ein stärkeres und nach meiner Meinung schlagendes Argument beibringen kann, das den Streitfall erledigt. Es läßt sich beweisen, daß an den Schäden der heutigen demokratischen Staaten nichts anderes die Schuld trägt als die oligokratischen Staaten.

Herbert Spencer sagt einmal in seiner Ethik, man könne in einer unvollkommenen Gesellschaft keinen vollkommenen Menschen erwarten. Dasselbe gilt im größeren Kreise: man kann in einer unvollkommenen Staatsgesellschaft keinen vollkommenen Staat erwarten.

Die internationalen Einflüsse auf die Entwicklung der Demokratie [S. 180] sind bisher nie ausreichend beachtet worden. Ich möchte das an den beiden »großen« Beispielen zeigen, die regelmäßig als unwiderlegliche Beweise für die Verderblichkeit der Freiheit angeführt werden: an der Entartung der französischen Revolution von 1789 und der heutigen plutokratischen Entartung der Vereinigten Staaten.

Was die erste anlangt, so scheint es mir nach sorgfältiger Erwägung aller Geschehnisse und Charaktere als nahezu sicher, daß die Revolution von 1789 niemals zu den Schreckenstagen geführt hätte, wenn die oligokratischen Nachbarstaaten sich nicht eingemischt hätten. Die Verschwörung des Adels und Hofes mit den auswärtigen blutsverwandten Dynastien, die Angst und Empörung, die die Drohung der Invasion fremder Heere hervorrief, tragen vor allem die Schuld daran, daß die Marat und Robbespierre ihre Gedanken und fixen Ideen dem Volke suggerieren konnten. Es ist sehr wahrscheinlich, daß ohne dies die gemäßigten Elemente die Massen in der Hand behalten hätten, zumal dann auch viele der schweren Schädigungen fortgefallen wären, die der Kriegszustand und schon die Kriegspanik mit sich führte: die Depression der Volkswirtschaft, die Geld- und Kreditkrisis mit ihrem Gefolge von Arbeitslosigkeit, Hunger und Elend, und vor allem die Anhäufung dieser Armen mit ihren Hungerdelirien in den großen Städten, denen sie massenhaft zuströmten, und in denen sie das eigentlich gefährliche, das feuergefährliche Element darstellten.

Wenn solche Zusammenhänge schon in der großen pragmatischen Geschichtschreibung übersehen oder doch viel zu wenig beachtet werden: was soll man da erst dort erwarten, wo es sich um jene großen Unterströmungen der Geschichte handelt, die sich langsam und unauffällig, ohne großen Lärm und ohne die Mitwirkung »hervorragender« Persönlichkeiten vollziehen! Und doch läßt sich, das meine ich beweisen zu können, zeigen, daß auch der zweite Pfeil, den die oligokratische Weltanschauung auf die demokratische abzuschießen liebt, auf den Schützen zurückprallt, sobald man ihm den Schild der Erkenntnis der internationalen Beziehungen entgegenhält. Ich spreche von der amerikanischen Korruption und dem wüsten amerikanischen Mammonismus.

Male man ihn so schwarz, wie man will - und unsere oligokratischen Theoretiker haben für ihn zentnerweise schwarze Deckfarbe zur Verfügung, während sie die ungleich ärgere russische Mißwirtschaft [S. 181] rosa zu lasieren versuchen -, die Oligokratie ist allein schuld daran, die Demokratie ist unschuldig.

Die Vereinigten Staaten sind nur politisch, aber nicht ökonomisch als Demokratie in die Geschichte eingegangen. Die politische Freiheit der Washington-Verfassung ging sehr weit - aber das Recht der Bodensperre hatte der Freistaat aus dem Mutterlande importiert, und mit ihm die Möglichkeit der Klassenscheidung, des Grundrentnertums und des Kapitalismus und Mammonismus. Ja, sie hatten nicht nur das Recht, sondern auch die Praxis der Bodensperre mit über's Meer gebracht. "Die Zeitgenossen Washingtons trieben", so sagt Max Sering, "einen krämerhaften Handel mit dem Lande der Nation." Die Verkaufsbedingungen bei der öffentlichen Versteigerung der Staatsländereien waren so gestellt, daß nur die reichste Oberschicht kaufen konnte, quadratmeilenweise: klar gewollte Bodensperre, Absperrung aller Ärmeren, allen Nachwuchses, aller neuen Einwanderer von dem unerschöpflichen Naturschatz des Landes, nur um sie zur Rentenzahlung an die Besitzer zu zwingen. Politisches Mittel in Reinkultur!

Und trotzdem: die gute Absicht wäre dennoch mißlungen, es hätte sich trotz alledem gezeigt, daß im demokratischen Staate keine Ausbeutung möglich ist, wenn das Wachstum der Bevölkerung nur durch ihren eigenen Geburtenüberschuß erfolgt wäre. Das Land ist von so ungeheurer Ausdehnung, daß es unter solchen Umständen Jahrhunderte gedauert hätte, bis das gesperrte Land wirklich dringlich gebraucht worden wäre, und darum wäre die Spekulation auf Grundrente kläglich zusammengebrochen. Denn ein Dollar auf Zins und Zinseszins macht schon in einem Jahrhundert eine so ungeheure Summe aus, daß sie beim Verkauf niemals hätte herauskommen können, und so hätte die Konkurrenz der vielen Besitzer der großen Flächen um die wenigen Pächter und Ansiedler den Bodenpreis auf unabsehbare Zeit hinaus dicht an Null halten müssen. Wo eine Bevölkerung gar nicht oder nicht im Verhältnis zur neu erschlossenen Fläche wächst, kann der Bodenwert auch nicht durch Sperrung emporgetrieben werden; das sehen wir am heutigen Frankreich, dessen Pachtrenten so ziemlich fest stehen, trotzdem die Erträge des Ackers und Stalles fortwährend wachsen; und das sehen wir z. B. auf dem Wohnungsmarkte von Groß-Berlin, wo die Mieten seit zwanzig Jahren eher sinken, wenigstens im Verhältnis zu den gebotenen Bequemlichkeiten, [S. 182] weil die Konkurrenz der vielen selbständigen Gemeinden viel mehr Bauland erschließt, als selbst die stark wachsende Bevölkerung braucht.

Trotz alledem ist in Amerika die Spekulation der Bodensperrung glorreich gelungen. Wie war das möglich? Weil die Bevölkerung nicht langsam, sondern ungeheuer schnell wuchs, nicht nur durch ihren eigenen Bevölkerungszuwachs, sondern durch eine unendlich viel stärkere Einwanderung und deren Geburtenüberschuß. Diese Einwanderung war die Ursache des Grundrentnertums und des Kapitalismus; die Bodensperre war nur ihre Bedingung. Und woher kam diese Masseneinwanderung? Aus den Oligokratien Europas! Aus den Ländern des Feudalismus und der extremen Bodensperre, aus dem damals noch nicht einmal pseudodemokratischen Großbritannien zuerst, und hier vor allem aus dem unglücklichen, von einer kleinen Oligokratie auf das furchtbarste ausgesogenen Irland; dann aus Deutschland, und hier wieder vor allem aus dem von einer kleinen Feudaloligokratie ausgeplünderten Ostdeutschland; dann aus Italien, aus Rußland und Ungarn, Galizien und Rumänien usw., kurz aus allen Oligokratien der Alten Welt!

Etwa fünfundzwanzig Millionen Einwanderer, fast sämtlich den unteren Volksschichten angehörig, vorwiegend im kräftigsten und vor allem im zeugungskräftigsten Alter, haben sich in einem einzigen, kontinuierlichen, immer mehr anschwellenden Strome seit dem Anfang des neunzehnten Jahrhunderts in die Vereinigten Staaten ergossen, die gewaltigste Völkerwanderung aller bisherigen Geschichte. Und sie selbst und ihre unzähligen Nachkommen haben jene Spekulation der frommen »demokratischen« Pilgerväter zu Ehren gebracht, haben die ungeheuren Landwerte geschaffen, die sie selbst jährlich zu verzinsen gezwungen sind. Die Klassenstaaten der Alten Welt haben den Klassenstaat der Neuen Welt geschaffen! Die Oligokratie der Heimat hatte ihnen die Heimat verleidet, denn es war die Unterschicht überall, es war der Arbeiter und der landarme kleine Bauer, die über den Ozean zogen, und nicht der Edelmann, der Großkaufmann und der hohe Beamte.

Hätte nicht das oligokratische Bodenrecht bestanden, die Demokratie hätte selbst diese ungeheure Menschenflut glatt aufgenommen und akklimatisiert. So aber gab es und gibt es schwere Stockungen, namentlich seit das Werk der Bodensperrung von Ozean zu Ozean [S. 183] ganz durchgeführt ist. Jetzt dauert es eine, zwei Generationen, bis die Einwanderer und ihre Nachkommen genügend amerikanisiert und zivilisiert sind, um sich aus der Umklammerung durch den Kapitalismus herauszuarbeiten: aber an den neuen Ankömmlingen, diesen »Tieren ohne Seele«, namentlich in neuester Zeit an den armseligen Flüchtlingen aus Mexico und Rußland, diesen zu Sklaven erzogenen Kulis, die der Sprache und der Sitten der neuen Heimat nicht mächtig sind, mästet sich der Mammonismus in Orgien, die Hekatomben über Hekatomben verschlingen, in einem Raubbau von fürchterlicher Brutalität.

Was aber ist die Ursache dieses Kapitalismus, dieses unerhörten Mammonismus und der mit ihm verbundenen kolossalen öffentlichen Korruption?

Nichts anderes als die gleiche Masseneinwanderung aus den gleichen europäischen Oligokratien! Der Kapitalismus ist unmöglich ohne die Verfügung über massenhafte »freie«, d. h. vermögenslose Arbeiter. Ohne die frühere Einwanderung solcher Arbeiter in Massen hätte in Amerika niemals ein Kapitalismus entstehen können; ohne die Fortdauer dieser Einwanderung würde er auf das schnellste zusammenbrechen! Stellt euch vor, daß nur ein Jahrzehnt, vielleicht nur ein einziges Jahrfünft hindurch der Strom der Einwanderung versiegt, der heute jährlich rund eine Million von Kulis an den atlantischen Strand wirft, und fragt, was nach Ablauf dieser Zeit aus dem amerikanischen Kapitalismus und der amerikanischen Korruption geworden ist! Die Löhne der Arbeiter sind bei dem sinkenden Angebot enorm gestiegen und steigen weiter, weil der steigende Lohn eine stark steigende Nachfrage nach Gewerbserzeugnissen und das heißt schließlich nach Arbeitern hervorruft. Die Gewerkschaften, schon heute sehr mächtig, sind übermächtig geworden und setzen den niedergeworfenen Trusts das Knie auf die Brust und den Daumen aufs Auge. Die Profite fallen, weil die Löhne steigen, und fallen noch mehr, weil die Gewerkschaften die Herren der Lage sind. Die Reservearmee der Arbeitslosen ist aufgesaugt, die sweating shops und slums sind entleert: wo finden die Bosse von Tammany-Hall jetzt noch die Massen hungernder und verzweifelter Kulis, die für einen Dollar ihre Stimme verkaufen? Und wie sollten die Trustmagnaten noch Millionen von Dollars aufbringen können, um Stimmen zu kaufen, wenn die Profite so tief sinken?

[S. 184] Was ist also die amerikanische Korruption und der amerikanische Mammonismus? Einfach die Folge davon, daß die amerikanische »Demokratie« noch keine vollkommene Akratie ist, und daß sie infolgedessen nicht imstande war und ist, die ungeheure Zuwanderung europäischer Kulis schnell genug politisch und ökonomisch zu verdauen. Stellt man sich die Schöpfung Washingtons und Franklins als aus ihren internationalen Beziehungen isoliert vor, so funktioniert sie ohne Tadel, trotz dem schweren Fehler ihrer Verfassung, dem antidemokratischen Bodenrecht.

Ist es, unter diesem Gesichtspunkt, nicht genau die Fabel vom Wolf und dem Lamm, wenn heute der Oligokat dem Demokraten die Trübung des öffentlichen Wassers in den Staaten vorwirft? Er steht oben am Strome der verhängnisvollen Wanderbewegung der Massen, er allein hat sie verschuldet - und beschuldigt das Lamm unten! Welche unverschämte Zumutung an die Demokratie ist es, daß sie in einem Jahrhundert den in Jahrtausenden der Gewalt und der skrupellosen Anwendung des politischen Mittels verseuchten Boden der ganzen Kulturwelt sanieren soll! Daß sie ungezählte Millionen von Sklaven und Hintersassen im Handumdrehen in Bürger verzaubern soll! Was die unvollständige amerikanische Demokratie unter diesen Umständen dennoch geleistet hat, ist ein Werk von unerhörter Großartigkeit.

Begreift man jetzt, warum die Männer der großen Revolution von 1789 den Krieg über die Grenzen tragen mußten? Sie hatten verstanden, daß eine Demokratie nicht gesund bleiben kann, solange aus dem Pestherde der benachbarten Oligokratien die Ansteckungskeime über die Grenzen stieben. Wenn es in einer unvollkommenen Staatengesellschaft keinen vollkommenen Staat geben kann, so ist die Aufgabe der Demokratie klar vorgeschrieben: sie muß eine democratia militans werden, um die Welt und damit sich selbst auf die Dauer zu sanieren und zu sichern. Internationale politische Hygiene, das ist das Programm der nächsten Zukunft.

So viel von der Bewertung der Demokratie am ersten unserer Maßstäbe, dem der praktischen Leistung.

Wie steht es nun um ihre Sache vor dem zweiten Richterstuhl, dem Oberappellationsgericht der Menschheit, dem Sittengesetz?

In der Regel wird der Streit zwischen Oligokratie und Demokratie so aufgefaßt, als handle es sich um ethisch gleichwertige Anschauungen, [S. 185] etwa wie bei dem Meinungskampf zwischen den Anhängern Darwins und denen Lamarcks oder zwischen den Realisten und Idealisten in der Philosophie. Dieser Indifferentismus wird nur noch gestützt, wenn man den Streit im Lichte der Soziologie betrachtet, diese Wissenschaft in ihrer engeren Bedeutung gefaßt, als reine, kausal verbindende Seinswissenschaft. Sie zeigt uns, daß von Anbeginn des Staatslebens an sich die gleichen beiden Gruppen- bzw. Klassentheorien gegenüberstehen: der oligokratische »Legitimismus« oben und das demokratische »Naturrecht« unten, die gleichen beiden Theorien, die in den Staaten aller Zeitalter, Klimate und Rassen immer dieselben charakteristischen Züge aufweisen. Der Legitimismus rechtfertigt überall die Herrschaft und Ausbeutung damit, daß die Herrengruppe von besserer Art oder Rasse sei als die Gruppe der Untertanen. Jene besäße allein die Begabung, die von ihnen gegründeten Staaten sicher durch alle Klippen zu steuern; ja, ihre Herrschaft sei das einzige Mittel, um die Untergruppe vor dem schwersten Schaden zu bewahren; denn diese bestehe aus so schlechten, törichten und charakterschwachen Elementen, daß der Krieg aller gegen alle losbrechen müßte, ließe die Herrenklasse die Zügel aus der Hand.

Dagegen erklärt die naturrechtliche Auffassung der Unterklasse überall den Adels- und Rassenstolz der Oligokratie für lächerliche Anmaßung und behauptet, die Unterklasse sei mindestens ebenso fähig, den Staat zu lenken; erst die volle Durchführung der Demokratie verbürge das höchste Glück der Gesamtheit, das unter der Oligokratie schwer verkürzt werde.

Wenn man diese beiden Auffassungen gegeneinanderstellt, so scheint es auf den ersten Blick unmöglich, sich für eine von beiden zu entscheiden. Sie erscheinen ethisch gleichwertig, erscheinen beide als Ausdruck des grundsätzlich gleichen Klassenegoismus. Und so hört man denn auch oft genug, daß das Naturrecht verächtlich mit dem Ausdruck »Sklavenphilosophie« abgetan wird.

Dennoch enthüllt sich bei näherer Betrachtung die Erkenntnis, daß die beiden Bekenntnisse sich doch in einem Punkte wesentlich unterscheiden: der Legitimismus ist eine ausschließende, das Naturrecht eine einschließende politische Theorie. Jener verweigert der Mehrheit der Bürger das politische Mitbestimmungs- und Selbstbestimmungsrecht - dieses mag vielleicht den Adel verwerfen, aber [S. 186] es ist seinen Anhängern niemals in den Sinn gekommen, den Spieß umzukehren und den Adeligen die Bürgerrechte zu verweigern.

Dieser Unterschied wächst aus der tiefen Wesensverschiedenheit der beiden Anschauungen. Der Legitimismus der Oberklasse widerspricht dem Sittengesetz, das Naturrecht ist seine Verwirklichung.

Hier, wo es sich nicht mehr um Verknüpfungen von Ursachen und Wirkungen handelt, sondern um Wertmaßstäbe und Wertungen, hat nicht mehr die Seinswissenschaft der Soziologie das Wort, sondern die Sollwissenschaft der Sozialphilosophie. Vor ihr Forum allein gehört der große historische Streit, der uns beschäftigt. Und er liegt so klar, daß wir voller Vertrauen dem Gegner selbst seine Entscheidung überlassen dürfen.

Denn in jedem Menschen, er sei denn geistes- oder gemütskrank, auch in dem Oligokraten, spricht laut und unzweideutig das Sittengesetz als kategorischer Imperativ: "Handle so, daß dein Handeln die Maxime alles Handelns sein könnte," oder "Du sollst niemanden tun, was du nicht wollen kannst, daß andere dir tun." Dieses Sittengesetz wird täglich und stündlich unzählige Male verletzt, wir wissen es gut genug; unzählige Male werden täglich und stündlich Menschen von anderen Menschen beraubt und ausgebeutet, geschädigt und beschämt: aber niemals geschieht das ohne Verbeugung vor dem Imperativ! Das heißt: Niemand, er sei denn ein Kranker, wird jemals zu behaupten wagen, Raub und Ausbeutung, Schädigung und Unterdrückung seien an sich gut, seien an sich Recht, sondern er wird immer eine Entschuldigung vorbringen, wenn er dem Imperativ nicht gehorcht. Er wird bestreiten, daß die bemängelte Handlung dem Sittengesetz widerspreche, oder er wird, wie unsere Nietzscheaner und Sozialdarwinisten, behaupten, die Ausbeutung der Gegenwart sei eine bittere Notwendigkeit, ein notwendiges Opfer für das höhere Glück der Zukunft, etwa für die Erziehung des Übermenschen oder die Vervollkommnung der Rasse; - oder er wird schließlich behaupten, es handle sich um die schmerzliche Wahl zwischen zwei Übeln, der Anarchie auf der einen und der Herrschaft mit all ihrer zugestandenen Ausbeutung und Unterdrückung auf der anderen Seite: aber niemand wird, wir wiederholen es, jemals zu behaupten wagen, die Ausbeutung sei an sich kein Übel, sondern ein Gut.

Niemand wird es wagen, auch nicht der verbissenste Oligokrat und Legitimist. Und mehr brauchen wir nicht, um den Streitfall zu [S. 187] entscheiden, als diese sehr wider Willen erfolgende Zustimmung aller unserer möglichen Gegner zu unserem Prinzip. Sie können nicht bestreiten, daß die Oligokratie vor dem Sittengesetz unter allen Umständen ein Übel ist, und werden sich damit begnügen müssen, zu erklären, es sei leider ein notwendiges Übel. Und sie können ebensowenig bestreiten, daß die Demokratie oder besser: die Akratie vor dem Sittengesetz unter allen Umständen ein Ideal ist; nur daß sie sagen werden, es sei leider ein unerreichbares Ideal.

Und darum sind wir berechtigt, mit allen Kräften zu protestieren, wenn man uns zu sagen versucht, bei dem Kampfe zwischen Oligokratie und Demokratie "stehe Ideal gegen Ideal". Nichts kann falscher und gefährlicher sein. Die Oligokratie ist ohne Zweifel eine Verletzung des Sittengesetzes, die Demokratie in ihrer Vollendung ist ohne Zweifel seine Erfüllung. Jene ist die als »Recht« und Verfassung kodifizierte Ungerechtigkeit, diese die vollendete Gerechtigkeit; jene das Recht des politischen Mittels, diese das Recht des ökonomischen Mittels; jene die Gewalt und gewaltsame unentgoltene Aneignung, diese die friedliche Arbeit und der gerechte Verkehr.

Viele der Besten unserer Zeit fühlen den Glauben an die Demokratie, den beglückenden Glauben an die Zukunft des Glücks und der Gerechtigkeit, in sich erschüttert und leiden bitterlich darunter. Es ist meine tiefste Überzeugung, daß diese Zweifel und diese Verzweiflung keinen Grund haben. Was uns heute kränkt und beleidigt, die Ausschreitungen und Übertreibungen, der laute Lärm des Marktes und der Rednertribünen, die Pöbelhaftigkeit des Kampfes und die Niedrigkeit der nächsten Ziele, der Phrasenschwulst der Demagogen und der Schacher hinter den Kulissen der Politik - das alles sind Zeichen einer Krisis, die der Menschheit nach langer schwerer Krankheit die Heilung bringt. Lassen wir uns nicht irre machen! Am nächtlichen Sturmhimmel unserer Zeit strahlt unverrückbar durch alle Wolken hindurch ein heller Stern erster Größe, der Polarstern, nach dem wir fehllos das Schiff der Gesellschaft steuern können, den wir niemals aus den Augen verlieren sollen, - das höchste und heiligste Ideal der Menschheit, die Verwirklichung aller Gerechtigkeit, die Erfüllung des Sittengesetzes, die Befreierin, die Sättigerin, die Beglückerin, die Erheberin: die Demokratie.

Fußnoten
[1]
Vgl. mein »Staat«, Bd. XIV/XV der Sammlung »Die Gesellschaft«, Frankfurt a. M. 1908.
[2]
Die soziale Frage und der Sozialismus. Jena 1912.