Zur Theorie der Vergesellschaftung
Erstveröffentlichung in: Hermann Beck, Wege und Ziele der Sozialisierung, Herausgegeben im Auftrag des Bundes Neues Vaterland, Berlin 1919, S. 14 -18.
Abstract: In seinem 1919 erstmals erschienenen Beitrag zeigt Oppenheimer auf, daß die unter Berufung auf Marx geführte Diskussion der Vergesellschaftung von Unternehmen und der Transformation in eine sozialistische Gesellschaft auf grober Fehldeutung Marxscher Theorie beruhe. Nach Darstellung der Marxschen Auffassung von der Entwicklungstendenz kapitalistischer Gesellschaften zieht Oppenheimer den Schluß, daß es sich schlicht um Putschisten handele, die den an Marx ungeschulten Massen eine Übereinstimmung von »Vergesellschaftung« und »Verstaatlichung« vorgaukelten, ohne sich daran zu stören, daß die von Marx theoretisch erwartete Phase der »Sozialisierungsreife« einen an bestimmte Voraussetzungen gebundenen gesellschaftlichen Gesamtzustand bezeichnet (z. B. Verschwinden der Kleinbetriebe und Vereinheitlichung der proletarischen Masse), der 1919 zweifellos nicht gegeben war und auch zukünftig nicht zu erwarten sei.
[S. 14] Alle Welt spricht heute von Vergesellschaftung. Jeder versteht darunter etwas anderes, und jeder beruft sich dabei auf Karl Marx. Fragen wir ihn selbst.
Marxens Bedeutung liegt, wie er selbst wohl erkannte und scharf zu betonen liebte, darin, daß er den Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft erhob. Das heißt, daß er das willensmäßige Ziel des älteren Sozialismus als das naturnotwendige Ergebnis einer gesellschaftlichen Entwicklung ableitete.
So lange das nicht geleistet war, war der Sozialismus nichts anderes als die Ideologie des Proletariats. Jede Klasse hat ihre notwendige Ideologie; aber sie steht jeweils in bestimmten Beziehungen zu anderen Klassen derselben Gesellschaft; diese wirtschaftlich, vor allem auch durch den Zustand der Technik bestimmte Lagerung, ist der »Unterbau«, dem ein ganz bestimmter Oberbau von Vorstellungen und Wollungen naturgesetzlich entspricht. So z. B. ist die Ideologie jeder feudalen Aristokratenklasse der »Legitimismus«, ist die Ideologie jeder Bourgeoisie nach innen die Vulgärökonomie, nach außen der Imperialismus. Und so entspricht auch der spezifischen Lagerung jedes industriellen Proletariats ihre spezifische Ideologie: der kollektivistische, demokratische Sozialismus. Denn die Klasse muß sich scharf entgegensetzen, erstens politisch dem noch starken Feudalismus, ist also antilegitimistisch, d. h. demokratisch; - und sie muß sich scharf entgegensetzen zweitens wirtschaftlich der Bourgeoisie, muß mithin den Markt und seine Konkurrenz verwerfen und die Vergesellschaftung aller Produktionsmittel, die marktlose Wirtschaft, erstreben. So lehrt die materialistische Geschichtsphilosophie, eine der großen Leistungen von Karl Marx.
Das war also das Ziel allen älteren Sozialismus, wie es das des Marxschen ist. Solange es aber nicht mehr war als ein willensmäßiges Ziel, als eine naturnotwendige Ideologie, als der Reflex einer sozialen Lagerung - solange blieb der Sozialismus »utopisch«; solange hatte dieses Klassenziel keine stärkere Beweiskraft als irgend ein anderes. Das erkannte Marx mit voller Klarheit, und darum setzte er dem Sozialismus die Aufgabe, den Schritt von der Utopie zur Wissenschaft zu tun, ihn nicht mehr [S. 15] "aus dem Kopfe zu erfinden", sondern "mittels des Kopfes in den Entwicklungstendenzen der kapitalistischen Gesellschaft selbst zu entdecken".
Ich bitte, wohl aufzufassen: Marx hat dem Sozialismus kein neues Ziel gestellt; auch ihm erschien, wie allen seinen Vorgängern, die marktlose Wirtschaft als das einzige Gehäuse, in dem die von allem Mehrwert erlöste und darum brüderlich geeinte Gesellschaft der Freien und Gleichen bestehen könnte. In dieser Beziehung war, kein Geringerer als Eduard Bernstein sagt es, "dieser große wissenschaftliche Geist Gefangener einer Doktrin", ... "daß es eine lange vor seiner Konzipierung fertige These beweisen will". In dieser Beziehung schleppt, nach der gleichen Autorität, "der Marxismus noch gewisse Reste von Utopismus mit sich herum".
Das Ziel ist also das alte geblieben. Was Marx von seinen Vorgängern, sehr zu seinem Vorteil, unterscheidet, ist, daß er es strikt ablehnt, jene marktlose Gesellschaft, jene vollendete Vergesellschaftung aller Produktionsmittel irgendwie zu konstruieren. Sie kann ihm zufolge nicht das Werk eines klugen Mechanikers sein, sondern ihm bedeutet sie einen gesellschaftlichen Prozeß, die Reifung der sozialistischen Gesellschaft im Schoße der kapitalistischen; einen Prozeß des Wachstums, der durch willkürliche Eingriffe von Menschen weder beschleunigt, noch zu Ende geführt werden kann, gerade so wie der Prozeß der Schwangerschaft. Versucht ein Ungeduldiger das Unmögliche, so kommt kein lebensfähiges Wesen zur Welt, sondern eine traurige Totgeburt. Nur wenn die junge Gesellschaft reif ist, kann die Gewalt, die Revolution, die Rolle des Geburtshelfers übernehmen.
Worin besteht dieser gesellschaftliche Prozeß, und wann ist die junge Gesellschaft geburts- und lebensreif?
Der Prozeß ist der der kapitalistischen Produktion und Akkumulation selbst: ein Prozeß, der die alte, in unzählige Kleinbetriebe zersplitterte vorkapitalistische Gesellschaft auf das Großartigste vereinheitlicht und zugleich vereinfacht. Er vereinheitlicht sie, indem er in allen Ländern des Weltmarktes aus den gleichen Rohstoffen mit den gleichen Maschinen die gleichen Produkte herstellt und nach dem gleichen Schlüssel an die gleichen Klassen verteilt, während die alten bodenständischen Produktionsbetriebe und Konsumgewohnheiten verschwinden. Und er vereinfacht sie, indem er allmählich alle alten Stände und Klassen ausrottet und nur zwei neu entstandene noch übrig läßt: die Bourgeoisie, die immer kleiner, und das Proletariat, das immer größer an Zahl wird. Denn die Konkurrenz vernichtet zuerst die alten und dann immer wieder die neu erstehenden Mittelstände, bis zuletzt eine Handvoll Expropriateure übrig bleibt, im Besitz sämtlicher Produktionsmittel, die in wenigen ungeheueren Mammut-Betrieben konzentriert sind, während die [S. 16] gesamte übrige Menschenmasse, verwandelt in Proletarier, für sie Mehrarbeit leistet, die sich als Mehrwert realisiert.
Wenn die Dinge so weit gediehen sind, dann ist die Vergesellschaftung der Produktionsmittel faktisch vollzogen! Es gibt keine oder doch keine nennenswerten individuellen Produktionsmittel mehr; sie werden gesellschaftlich in Großbetrieben verwendet und bringen ein gesellschaftliches Produkt zu gesellschaftlichem, d. h. für die große Volksmasse durchaus einheitlichem Konsum hervor. Die sozialistische Gesellschaft ist reif und kann entbunden werden, das heißt, daß die faktische Vergesellschaftung nur noch formal, durch ein neues Recht, anerkannt zu werden braucht. Und das geschieht jetzt ohne weiteres. Die ungeheuere Überzahl und Übermacht des Proletariats, vom Kapital selbst gleichfalls vergesellschaftet, d. h. zusammengeführt, technisch gedrillt und politisch zu einem einzigen Klassenbewußtsein erzogen, expropriiert die Expropriateure, die gar keinen ernsthaften Widerstand leisten können, und übernimmt den vollkommen fertigen Mechanismus der Produktion und Verteilung, der unverändert und unerschüttert weiterläuft. Man braucht nur die Mehrarbeit einzuschränken - durch Verkürzung der Arbeitszeit - und den noch verbleibenden Mehrwert ebenfalls zu vergesellschaften, indem man ihn z. B. auf bessere Schulbildung, öffentliche Hygiene u. dgl. verwendet - und alles ist erledigt.
Das ist die Marxsche Theorie von der Vergesellschaftung. Und nun vergleiche man damit, was jetzt über Vergesellschaftung von Betrieben geredet und verhandelt wird.
Man will diejenigen Betriebe »vergesellschaften«, die heute schon dafür »reif« erscheinen, z. B. Bergwerke, Monopolbetriebe, Elektrizitätserzeugung und -verteilung. Wunderschön! Nichts dagegen einzuwenden, wenn es richtig gemacht und wenn die Betriebe nachher richtig verwaltet werden. Aber weshalb sagt man denn auf einmal: »vergesellschaften«? Die Staaten haben ja schon in der kapitalistischen Gesellschaft, z. B. Preußen die Eisenbahnen, die Telegraphie und Postverwaltung, die Telephonie, zahlreiche Bergwerke, Domänen und Wälder in öffentlichen Betrieb übergeführt, und viele Gemeinden sind ihnen mit Straßenbahnen, Markthallen, Gas-, Elektrizitäts- und Wasserwerken etc. gefolgt. Wir nannten das bisher verstaatlichen oder kommunalisieren. Weshalb jetzt auf einmal »vergesellschaften«?
Weil man sich selbst und der großen Masse einreden will, daß hier entscheidende Schritte zum Sozialismus geschehen! Man berauscht sich am Gleichklang des zu diesem Zweck gewählten Wortes; man bildet sich ein, sich der Marxschen »Vergesellschaftung« schrittweise zu nähern, indem man die Verstaatlichung oder Kommunalisierung einzelner Betriebe als Vergesellschaftung bezeichnet. Daher auch die sonst unverständliche geheimnisvolle Wendung von den »reifen« Betrieben. Das [S. 17] gemahnt so hübsch an die »Reifung« der sozialistischen Gesellschaft im Schoße der kapitalistischen.
Vom Marxschen Standpunkt aus ist das - mit Verlaub - purer Unfug. Für ihn kann nur die sozialistische Gesellschaft als ein Ganzes »reif« sein. Einzelne Betriebe oder Betriebszweige können in seinem Sinne gerade so wenig »reif« sein und »vergesellschaftet« werden, wie die einzelnen Organe eines Embryo im vierten Schwangerschaftsmonat reif sein und gesondert zu selbständiger Existenz entbunden werden können. Die Zeiten sind wahrlich zu ernst, als daß wir das Recht hätten, uns und andere mit solchen Wortspielen zu amüsieren.
Der wissenschaftliche Sozialist Marxscher Schule hat demgegenüber nur die Frage zu stellen, ob die sozialistische Gesellschaft als Ganzes schon reif ist. Und die Frage muß jeder Besonnene verneinen. Jene Vereinheitlichung und Vereinfachung ist nicht gegeben, weder technisch noch wirtschaftlich noch klassenmäßig. Es gibt noch Millionen von kleinen Produzenten mit nicht vergesellschafteten, sondern individuellen Produktionsmitteln, noch Millionen also von alten und neuen Mittelständlern. Kein Gedanke, daß man die Expropriateure kurzerhand expropriieren könnte, ohne die Produktion auf das Gefährlichste zu erschüttern, vielleicht ganz zu lähmen. Wer es heute versucht, ist für Marx und seine wahren Schüler ein Putschist, Blanquist und Utopist und kann nichts zuwege bringen als einen blutigen Abort.
Das geben die Stürmer und Dränger auf der äußersten Linken auch stillschweigend selber zu - sonst könnten sie der Einberufung einer konstituierenden Nationalversammlung nicht widerstreben. Das siegreiche Proletariat der großen Marxschen Revolution braucht keine bürgerliche Mehrheit zu befürchten, denn es gibt keine Bürgerklasse mehr, und die paar expropriierten Expropriateure erhielten selbst beim Proporz auch nicht einen Sitz, selbst wenn sie es wagen sollten, eine eigene Liste aufzustellen. Die Möglichkeit allein, daß das Proletariat in die Minderheit geraten könnte, widerlegt vollkommen die Möglichkeit der Durchführung der sofortigen Sozialisierung im großen: denn nach Marx ist die Gesellschaft auch politisch vollkommen für die Sozialisierung reif, in dem gleichen Augenblick, wo sie es wirtschaftlich und technisch ist.
Hier kann das Proletariat die Diktatur übernehmen, weil das ganze Volk Proletariat ist, eine völlig einheitliche Masse mit völlig gleichgerichteten Interessen; weil es hier auch nicht die leiseste Meinungsverschiedenheit mehr gibt, weder in Bezug auf das Ziel noch auf die Wege zum Ziel.
Man sollte darum wirklich damit aufhören, den Schatten unseres großen Toten zu beschwören, um entweder harmlose, vielleicht sogar sehr nützliche Maßnahmen der Verstaatlichung [S. 18] und Kommunalisierung zu rechtfertigen, oder um die nicht an Marx gebildete Masse zu Experimenten von furchtbarster Gefährlichkeit und zweifellos verderblichem Ausgang mitzureißen.
Sondern man sollte lieber darüber nachdenken, ob sich nicht in die geharnischte Marxsche Beweisführung ein Fehler eingeschlichen hat. Irgend etwas kann nicht stimmen: denn Marx selbst erwartete die Geburt der jungen sozialistischen Gesellschaft schon vor ungefähr fünfzig Jahren. Aber sie ist auch heute noch lange nicht »reif«, und man kann sogar zweifeln, ob sie überhaupt jenem Ziel äußerster Vereinheitlichung und Vereinfachung näher gekommen ist. Da muß etwas falsch sein.
Es ist hier nicht der Ort, diesen Dingen weiter nachzugehen. Und so will ich nur eine einzige These aussprechen, und möchte es so laut tun können, daß alle Ohren Europas davon gellen. Das Erfurter Programm beginnt mit dem folgenden Satze: "Die ökonomische Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft führt mit Naturnotwendigkeit zum Untergang des Kleinbetriebes". Dieser Satz ist die Grundvoraussetzung der Marxschen Ableitung, die mit ihm steht und fällt. Und dieser Satz ist falsch! Er gilt nur für die Industrie, nicht aber für die Landwirtschaft, soll aber für die Gesamtwirtschaft gelten und ist daher falsch. Das läßt sich unter Fachmännern in zwei Minuten ohne Widerspruch beweisen, eine Erörterung, die ich seit fünfzehn Jahren vergeblich fordere.
An diesem einen Satz ist Rußland gestorben: es war meine Pflicht, alles zu tun, damit nicht auch Deutschland ganz daran zugrunde gehe. -
Anmerkung von Werner Kruck zum vorletzten Absatz:
Oppenheimer schrieb diesen Aufsatz in einer Zeit, als maximale Unternehmensgrößen und Monopole in der Industrie noch nahezu ohne Widerspruch als Ideal angesehen wurden. An den landwirtschaftlichen Unternehmen erkannte Oppenheimer, daß das Dogma von der Vorteilhaftigkeit der Großunternehmung in der Praxis nicht stimmte. Mit unseren heutigen Erfahrungen können wir hinzufügen, daß aus den gleichen Gründen auch im industriellen Sektor Größe nicht immer von Vorteil ist. Richtiger scheint zu sein, daß die natürliche und optimale Unternehmensgröße von dem Komplexitätsgrad des herzustellenden Produktes, der Teilbarkeit der dafür notwendigen Anlagen und der durch Zentralisierung entstehenden (oder entfallenden) Transportkosten abhängt. Die unter diesen Randbedingungen kleinstmöglichen Unternehmen sind die produktivsten und innovativsten - also wettbewerbsfähigsten -, was nicht bedeutet, daß die Existenz von Übergrößen in kapitalistisch monopolisierten Märkten ausgeschlossen werden kann. In der von Oppenheimer vorgestellten »reinen Ökonomie« der Zukunft wäre hingegen eine systemimmanente Beschränkung der Unternehmensgröße zu erwarten.