FRANZ OPPENHEIMER

ERLEBTES, ERSTREBTES,
ERREICHTES
LEBENSERINNERUNGEN

Geleitwort von Bundeskanzler Ludwig Erhard

und mit einer Einleitung von Joachim Tiburtius

Ergänzt durch Berichte und Aufsätze
von und über Franz Oppenheimer
Herausgegeben von L. Y. Oppenheimer

JOSEPH MELZER VERLAG


Alle Rechte - auch die der Übersetzung - vorbehalten

Nachdruck - auch auszugsweise - nur mit Genehmigung des Verlages gestattet

© by Joseph Melzer Verlag, Düsseldorf, 1964

Druck: Kalima-Druck, Düsseldorf-Benrath

GELEITWORT*)

*)  Aus der Ansprache des Herrn Bundeskanzlers bei der Gedenkfeier der Freien Universität Berlin zum 100. Geburtstag von Franz Oppenheimer am 30. April 1964.

Oppenheimer nannte seine Lehre einen "liberalen Sozialismus". Wenn man, wie ich, im politischen Leben steht, wird man auf Herz und Nieren geprüft: Predigst du nur so oder wirkst du tatsächlich im Sinne eines liberalen Sozialismus? Nun, ich habe Adjektiv und Substantiv umgelagert - das hat übrigens auch mein Freund Wilhelm Röpke getan -  und sagte dazu, daß ein "Sozialer Liberalismus" die Akzente gewiß etwas verlagert, aber dem Prinzip, um das es geht, dennoch treu bleibt. Es ist der gleiche Geist.

Man reiht mich gemeiniglich ein in die Kategorie der "Neoliberalen". Es mag so geschehen, denn Gelehrte von Rang, von Walter Eucken angefangen, über Wilhelm Röpke, Alexander Rüstow zu Hayek und Franz Böhm, um nur einige zu nennen, haben im tiefsten Grunde Oppenheimersches Gedankengut in sich aufgenommen und in unsere Gegenwart übersetzt, indem sie einen leidenschaftlichen Kampf gegen die Beschränkung des Wettbewerbs und vor allen Dingen gegen Monopole führten.

Als mir im Jahre 1948 der Auftrag zuteil wurde, das deutsche wirtschaftliche, soziale und gesellschaftliche Leben aus dem völligen Zusammenbruch heraus neu zu ordnen, war ich mir über eines klar: Die praktischen Bilder und Modelle der Vergangenheit reichen zu einer Lösung nicht aus.

Das erste, was ich aufgegriffen habe, war der entschiedene Kampf gegen Monopole und gegen die mannigfachen wettbewerbshemmenden und verfälschenden Bindungen, die menschliche Abhängigkeiten und Unfreiheiten schaffen. Aus dieser Haltung heraus wurde das deutsche Kartellgesetz oder besser gesagt Antikarteilgesetz geprägt.

Auch meine Einstellung zur "Macht" hat ihre Wurzel in der geistigen Haltung von Franz Oppenheimer. Ich meine dabei nicht nur die wirtschaftliche Macht, ich meine auch die politische Macht. Nicht, daß ich an die Verbrechen einer tragischen Vergangenheit erinnern möchte, - nein hier handelt es sich darüber hinaus um ein modernes gesellschaftspolitisches Problem überhaupt.

Die wirtschaftliche Macht kann man bändigen, wie auch in Richtung der Herstellung einer freien Konkurrenz vieles zu besorgen ist. Ich habe z. B. dieses Ziel dadurch zu erreichen versucht, daß ich, ohne nach einer Gegenleistung zu fragen, die deutschen Zölle einseitig immer weiter gesenkt habe. Ich habe dem freien Wettbewerb dadurch zum Siege verholfen, daß ich in einer Situation, in der das ein großes Wagnis bedeutete, die Grenzen unseres Vaterlandes öffnete. S.6 Ich glaube, daß der Weg, auf den wir gekommen sind, - die Barrieren zwischen den Staaten mehr und mehr niederzulegen und einen verlogenen Nationalismus zu überwinden, den Entartungen des Protektionismus und des Egoismus entgegenzuwirken - durchaus in der Oppenheimerschen Linie des Denkens und in der praktischen Verwirklichung seiner Theorie liegt.

Wie sehr Oppenheimer in mir lebt, das habe ich neulich erfahren, als ich in einer freien Rede zu "Europa" sagte: Was ich mir vorstelle, das ist ein Europa der "Freien und der Gleichen". Und als ich dann sein Buch "Erlebtes, Erstrebtes, Erreichtes" zur Hand nahm, las ich aus seiner Feder zunächst fast erschreckt aber nicht minder beglückt von "einer Gesellschaft der Freien und der Gleichen". Diese Gesinnung ist also offenbar so sehr Bestandteil des eigenen Wesens geworden, daß man sich selbst in der Sprache und im Ausdruck unbewußt , wieder begegnet.

Franz Oppenheimer, mein geliebter Lehrer, war ein Mann, der mit heißem Herzen, aber mit kühlem Kopfe an die Probleme herangegangen ist, und er hat alle verachtet, die in der Umkehrung mit schwülem Kopf und kaltem Herzen ein Volk beglücken zu können glaubten. Er hatte das rechte Augenmaß für die Dinge.

Solange ich lebe, werde ich Franz Oppenheimer nicht vergessen! Ich werde glücklich sein, wenn die soziale Marktwirtschaft -  so vollkommen oder so unvollkommen sie auch sein mag -  weiter zeugen wird auch für das Werk, für den geistigen Ansatz der Gedanken und die Lehre von Franz Oppenheimer.

Die meisten Menschen können es nicht ermessen, wie viel sie ihm, dieser großen schöpferischen Persönlichkeit, zu verdanken haben. Ich weiß es, und ich habe dem auch dadurch Ausdruck gegeben, daß in meinem Arbeitszimmer lange Zeit über nur e i n Bild stand, das meines Lehrers Franz Oppenheimer.

Ich denke auch noch mit Wehmut und Trauer an den Abschied. Er hatte Tränen in den Augen, als er sagte: "Nun muß ich mein Vaterland verlassen". Denn er fühlte sich als Deutscher. Er verkörperte im reinsten und edelsten Sinne deutschen Geist und deutsche Kultur. Seinem Andenken sei darum für heute und immerdar Dank und Ehre!

Signatur

(Ludwig Erhard)
Bundeskanzler

[S.7]

FRANZ OPPENHEIMER

Von Joachim Tiburtius

Unser Franz Oppenheimer war ein Berliner. Hier war er geboren, hier baute er seine grundlegenden Theorien auf, hier gewann er dankbare Schüler, und von hier aus trat er gegen Ende seines Lebens den bitteren Weg an, der ihn "aus seinem Vaterland und seiner Freundschaft" nach den Vereinigten Staaten führen sollte - in ein Land, das Gott ihm zwar nicht gezeigt hatte, in das er aber übersiedelte, um bösestem Schicksal zu entgehen.

Berliner war Franz Oppenheimer in der Schärfe und Prägnanz seines Geistes, in dem grandiosen Humor, der von Heiterkeit bis zur Bitterkeit, auch auf eigene Kosten, gerüstet war. Berliner war er in seinem tiefen Gefühl für die karge Natur dieser Stadt und ihrer Umgebung und für die belebende Kraft ihres einzigartigen Arbeitsklimas. Ber1iner war er auch in der leidenschaftlichen Liebe zum Wandern, zum Aufsuchen von Bergen, in denen seine mächtig bewegte Natur die sportlichen Ziele und Reibungen fand, die seine Heimat ihm vorenthielt, und die er als Ausgleich brauchte, solange er einmal nicht arbeitete.

Er war Deutscher aus natürlicher Bedingtheit, nicht aus der Assimilation des guten Willens. Anders konnte er nicht sein, er hat es oft genug betont. Was diesem Land an Großem, an Schwerem und Glückhaftem widerfuhr, traf ihn stets im eigenen Bereich. Er berichtet in diesem Buch von der Stunde, in der er im Herbst 1918 fröhlich plätschernden Schwätzern mit der Donnerstimme eines Propheten zurief: "Meine Herren, Deutschland liegt im Sterben!" Wie tief gewurzelt diese Liebe zu Deutschland war, hat er noch 1933 geäußert, ehe das ganze Unrecht an den Juden zu übersehen war: in seiner Sorge ginge es ihm nicht nur um das Schicksal der Juden, sondern um Deutschland.

Daß Franz Oppenheimer Jude war, hat er immer mit tiefem Ernst betont. Er war es mit stolzem Bewußtsein seiner Abstammung; aus väterlicher und mütterlicher Familie stammt er von Menschen, die für Juden und nichtjüdische Deutsche zu den großen Repräsentanten [S.8] von Geist und guter Sitte gehörten. Dieser Stolz auf seine Abstammung hinderte ihn freilich keineswegs daran, den religiösen und sittlichen Werten des Christentums mit Verständnis, ja zuweilen sogar mit tief empfundener Sympathie gegenüberzustehen.

Seine tiefe naturhafte Zugehörigkeit zum deutschen Volke zeigte sich während des ersten Weltkrieges in der selbstverständlichen inneren Bereitschaft, mit der er seine Söhne in den Krieg ziehen ließ und sich für die Sicherung der wirtschaftlichen und sozialen Voraussetzungen eines wirksamen Kriegseinsatzes verantwortlich wußte.

Der Tod der geliebten Tochter trieb ihn aus dem Hause seiner ersten Ehe. Er fand liebevolle Heimstätte bei seiner Schwester Paula Dehmel und ihren Töchtern. Die Leichenrede, die er dieser zarten großen Frau im August 1918 hielt, zeigte Empfindungen, die sonst verborgen waren.

In höchstem Maße kennzeichnend für Franz Oppenheimers Wesen ist der Weg, der ihn zur Wissenschaft führte. Er ging ihn aus innerer Notwendigkeit, ein Helfer, vielleicht ein Erretter zu werden. Als junger Arzt im Norden. und Osten Berlins hatte er so viele Notstände, namentlich bei Kindern und Müttern erlebt, daß er auf den Ursprung dieser Leiden kommen mußte. Er wurde wirklich wie ein Parzival "durch Mitleid wissend". Die Ursache dieser Leiden lag im sozialen Bereich, in der Elendslage weiter Teile der Berliner Arbeiterschaft. Den Abbau dieser proletarischen "Reservearmee" konnte nach Franz Oppenheimers Grundanschauungen nur herbeiführen, wer den Arbeitern den Weg zum Landerwerb freimachte. Das industrielle Monopol sei durch die Bodensperre und die Abwanderung von Bauern und Landarbeitern entstanden und könne nur auf dem selben Wege beseitigt werden. Der Entwicklung dieser Auffassungen zu einer sozialwirtschaftlichen Lehre hat er etwa 50 Jahre seines reichen Lebens gewidmet. Auf diesem Wege mußte er sich mit Karl Marx auseinandersetzen und die Inkonsequenzen seiner Theorie von Mehrwert und Akkumulation auf dem Wege zur klassenlosen Gesellschaft darlegen, und zwar so darlegen, wie es kein anderer vor ihm und nach ihm in gleich zwingender Konsequenz einer "immanenten Kritik" getan hat. Er gewann dabei eine Anschauung des Wesens der vollständigen Konkurrenz in der von ihm sogenannten "reinen" Ökonomie, ohne Störung durch Macht und Monopole. Den Zugang zum Landerwerb sah Oppenheimer [S.9] als die Voraussetzung dafür an, daß sich künftig kein Arbeiter mehr Monopolabstriche von dem durch Qualifikation bestimmten "richtigen" Lohn würde auferlegen lassen.

Es ist seltsam zu denken, wie viel Scharfsinn seit dem Erscheinen der großen Oppenheimerschen Bücher auf die Wesenserkenntnis dieser reinen Ökonomie des vollständigen Wettbewerbs, ihre Herbeiführung und Sicherung verwandt worden ist, ohne daß die Autoren Franz Oppenheimers Werk mehr als in kargen Fußnoten gewürdigt hätten.

In der Landwirtschaft sollten bei großen Gütern Reingewinne nach voller Kostendeckung einschließlich der notwendigen Abschreibungen an die Arbeiter verteilt werden. Nicht "Gewinnbeteiligung", sondern "Gewinnverteilung" war die von Franz Oppenheimer gewünschte Form. Hieraus sollte eine "Anteilswirtschaft" entstehen, d. h. Arbeitern mit entsprechender Neigung und Eignung sollte die Möglichkeit gewährt werden, Teile des auf sie entfallenden Reingewinns in Anteilen am Eigentum des Gutes anzulegen. Damit sollte allmählich aus der Anteilswirtschaft eine genossenschaftliche Eigentumsform entstehen. Franz Oppenheimer sagte, daß in Fällen, in denen die Bedürfnisse der Produktion es nahelegten, mit Einverständnis der neuen "Genossen" ein Restgut unter Leitung des bisherigen Besitzers des Gesamtgutes bestehen bleiben könne. Er sagte öfters, er wolle den Angehörigen der alten Großgrundbesitzerklasse die Möglichkeit einräumen, in diesem Rahmen den "freien Bauern" als geistige und technische Leiter zu dienen. Diese kühne und großzügige Konstruktion hat er auf seinem mühseligen Wege nach fehlgeschlagenen Versuchen in den letzten etwa zwanzig Jahren seines Lebens in Bärenklau auf den verheißungsvollen Anfang des rechten Weges bringen können. Dann zerschlug ihm der politische Umbruch auch diesen Ansatz.

Der ganze Weg der Erwartungen, des Leidens und der endlichen Bestätigung ist in diesem Buch ehrlich und lebendig geschildert worden. Franz Oppenheimer ist ihn in stetiger innerer Verbindung zwischen Praxis, Forschung und Lehrtätigkeit gegangen. Uns als seine Schüler regte in seinen Vorlesungen insbesondere die Weite der Anschauungen und der Ableitung seiner Erkenntnisse an, ja sie regte uns auf. Wir erfuhren hier, wie er die Klassenlage der Arbeiterschaft aus dem Gewalteigentum an Grund und Boden herleitete und wie er sich von dieser geschichtlichen Grundanschauung aus [S.10] sowohl mit der "Kinderfibel" des Liberalismus als auch mit den genialen Fehldeutungen von Karl Marx auseinandersetzte. Uns ergriff dieser Kausal-Monismus ebenso stark wie die Konstruktion der Abhilfe durch die Eröffnung des Zugangs zum Erwerb von Landeigentum für die Arbeiter. Solche Schüler, die wie ich aus einer von Schmoller und Otto Hintze gepflegten preußischen Geschichtsbetrachtung herkamen, wurden vor allem dadurch berührt, daß Franz Oppenheimer den Zusammenhang zwischen Bauern- und Arbeiterpolitik scharf herausarbeitete und die Fürsorge des preußischen Staates für Bauernschutz und seit dem 19. Jahrhundert auch für Arbeiterschutz von der ganz andersartigen Entwicklung in England und etwa im Baltikum abhob. Tief beglückte uns seine Erschlossenheit gegenüber Fragen und Zweifeln, die wir ihm in vertrauten Gesprächen äußerten, etwa darüber, ob das Gewalteigentum der Gutsherren nicht durch Übernahme von militärischen und anderen Lehnsverpflichtungen zugunsten der Bauern genossenschaftliche und vertragliche Züge angenommen habe. Franz Oppenheimer war so wenig daran gewöhnt, in Gesprächen mit Kollegen seine eigenen Grundansichten in die Tiefe gehend diskutieren zu können, daß er auch schülerhafte Ansätze seiner Hörer zu einer solchen Diskussion gern aufnahm und gewähren ließ.

Seltsam tritt aus dem Buch zutage, daß die Zulassung zur Habilitation nicht nur von dem ihm geistig und methodologisch immer nahestehenden Adolf Wagner, sondern auch von der viel kühleren "Exzellenz" Gustav von Schmoller erleichtert worden Ist. Max Sering stand in Reserve gegenüber Oppenheimers Ansichten. Sering und Oppenheimer waren sich außerordentlich nahe in der Überzeugung von der Überlegenheit bäuerlicher, auch kleinbäuerlicher Betriebe für ihre traditionellen Produktionsrichtungen der Viehzucht und Veredelungswirtschaft auf dafür geeignetem Boden. Beide waren überzeugt davon, daß durch Erweiterung des Anteils der Betriebe unter 100 ha nicht nur bessere Nutzung der landwirtschaftlichen Nutzfläche, sondern auch Entwicklung von Verbrauchermärkten für die gewerbliche Wirtschaft zu erwarten sei. Sie stimmten gleichfalls in der grundsätzlichen Wertschätzung der staatsbürgerlichen Bedeutung des Bauerntums überein. Auseinander gingen beide Männer in der Beurteilung der Möglichkeit genossenschaftlicher Großgüter, wie sie Oppenheimer anstrebte und wie Sering sie bezweifelte. Ich habe beide Männer als ihr Schüler [S.11] und Sering als sein langjähriger Assistent sowohl Worte bittersten Unmuts als auch höchster Anerkennung übereinander sprechen hören. Was Franz Oppenheimer in solchen Diskussionen in besonderem Maße kennzeichnete und auszeichnete, war seine tief gewurzelte Loyalität, ja sogar herzliche Freude gegenüber dem "Sünder" preußisch-konservativer Herkunft, der die "Buße" tat, sozialistischen Idealen Verständnis und Achtung entgegenzubringen, wie dies bei Max Sering öfters aus ehrlicher Überzeugung zu erleben war. Daher auch die herzliche Anerkennung Franz Oppenheimers für solche preußische Beamte und Offiziere, bei denen er diese Gesinnung verspürte. Sie reichte von seinem ehemaligen Rekrutenoffizier über namhafte Männer des preußischen Kriegsministeriums, denen wir gemeinsam begegneten, bis zu dem damals noch nicht so alten Hindenburg während der Zeit des ersten Weltkrieges. Allerdings wird sich ihm das Bild dieses Mannes nach 1933 düsterer dargestellt haben, als es der moralische Optimismus dieses schon vor 1933 abgeschlossenen Buches zeigt.

Ich habe hier nur von der in dem Buch behandelten Lebensperiode gesprochen, muß aber in dem mitunter auch von Oppenheimer beliebten militärischen Sprachgebrauch Fahnen und Degen senken, wenn ich daran denke, daß ich mich von diesem großen Menschen und Lehrer im November 1938 in meinem Hause zu verabschieden hatte, als Schimpf und Schande des deutschen Volkes ihn in diesem allerletzten Augenblick zur Ausreise trieben.

Uns, die er seine Schüler nannte und liebte, liegt es ob, dem heranwachsenden Geschlecht zu sagen, wer er gewesen ist. Der Weg über das Bild des Menschen Franz Oppenheimer soll dazu führen, gegenüber seinem wissenschaftlichen Vermächtnis die Pflicht der Gegenwart besser zu verstehen.

[S.13]

ERINNERUNGEN

VON FRANZ OPPENHEIMER

[S.15]

DER GROSSE HOF UND DAS KLEINE BERLIN

Das freilich kann ich nicht behaupten, daß ich "mit Spreewasser jedooft" bin; aber ein echter Berliner bin ich, sogar ein "janz echter", wenn es nämlich wahr ist, was wir selbstverständlich immer behaupteten und was die anderen ebenso selbstverständlich entrüstet bestritten, daß das echte Berlinertum, die echte Muttersprache und die echte ",jroße Schnauze" nicht in den feinen Bezirken der inneren Stadt ihre Heimstätte und sturmfreie Burg hatten und haben, sondern in "Berlin j. d.", wie man heute sagt. (In Parenthese für Leser, die nicht das Glück haben, den schönsten Dialekt Deutschlands in allen seinen Abschattungen und mit seinen Schikanen zu beherrschen; das ist keine postalische Bezeichnung, sondern bedeutet "janz draußen", und "Berlin V" heißt - - "Viehhof". Heute freilich ist meine engere oder engste Heimat zwar nicht postalisch, aber wohl geographisch Berlin-Mitte; aber damals war sie wirklich "janz draußen"; was noch dahinterlag, war allenfalls "Kietz". Meine ganze Jugend spielte sich ab zwischen dem Rosenthaler und dem Neuen Tore, also im Norden; die Spree war die südliche Grenze meines Jugendreiches.

In der Krausnickstraße erblickte ich das Licht dieser bunten Welt, einer krummen Gasse, die von der Oranienburger zur Großen Hainburgerstraße führt, benannt nach einem verschollenen Bürgermeister der Haupt- und Residenzstadt, angelegt wahrscheinlich auf einem der ungeheuren Hinterhöfe, die noch zu meiner Studentenzeit daran erinnerten, daß einst in der eisenbahnlosen, der schrecklichen Zeit Frachtwagen den Verkehr zwischen Hamburg und Berlin zu vollziehen hatten, die auf jenen Riesenhöfen der "Ausspannungen", wahren Karawansereien, ihre Stätte der Ruhe fanden. In der Krausnickstraße Nr. 5, im zweiten Stock, beschrie ich zuerst die Wände, ein langer, äußerst magerer Junge mit einem Gesicht, das, wie meine Mutter mir lachend erzählte, aus nichts als Augen und Nase bestand. So häßlich erschien ich ihr, daß sie nicht mit mir ausgehen mochte, nicht aus Scham, sondern aus echtem Mutterkummer; sie wollte nicht erleben, daß jemand ihren Jungen mitleidig anschaute. Eine alte Nachbarin tröstete sie: "Frau Doktorchen, große Fenster zieren das Haus." Allmählich rundeten sich die Züge des Gesichts; [S.16] eine alte Photographie, die mich zusammen mit meiner damals dreijährigen Schwester Paula als noch nicht Zweijährigen zeigt, stellt mich als recht fettes Baby dar; aber zu klassischer Schönheit hat es niemals kommen wollen; die berühmte "Hethiternase" blieb und stempelte mich als den Angehörigen einer Rasse, die der im allgemeinen blonde Berliner mit einer traditionellen, sozusagen liebevollen Feindschaft betrachtete und behandelte, einer Feindschaft, die sich aber von dem späteren, sozusagen wissenschaftlich begründeten Antisemitismus der oberen Klassen sehr stark unterschied. Ich habe als Bub nicht selten hinter mir, auch wohl ins Gesicht, das als Schimpfwort gemeinte "Jude", sehr selten das inzwischen wohl ausgestorbene "Hepp-hepp" gehört; aber das war, wie gesagt, mehr der Ausdruck einer uralten und durch ihr Alter geheiligten Überlieferung als Hass, war mehr die typische Verspottung, die alle Gruppen gegen alle Gruppen des gleichen Kreises üben, solange es eine Geschichte gibt, war mehr der Ausdruck des Gefühls, das der Berliner so schön geprägt hat mit dem geläufigen Satz: "Mang uns mang is eener mang, der nich mang uns mang gehört." Gerade so freundlich-feindlich standen wir Gymnasiasten den Realgymnasiasten gegenüber; sie schimpften uns "Gumminesen", wir sie "Realklepper", obgleich die beiden Anstalten, das Friedrich-Gymnasium in der damals noch so genannten "Großen" Friedrichstraße und das Friedrich-Realgymnasimun in der Albrechtstraße erst soeben als Zwillinge aus dem einen Ei der Krechschen Anstalt gekrochen waren, und prügelten uns, wo wir uns trafen - und wir trafen uns immer! Und gerade das gleiche Verhältnis von Feinden, die sich nicht entbehren können, bestand zwischen uns und den Moabiter Gemeindeschülern, in deren Reich und Bereich wir wöchentlich zweimal gerieten, wenn wir auf dem Ballodschen Turnplatz zu erscheinen hatten, der in der Gegend des heutigen Kriminalgerichts gelegen war. Nur überwog hier nicht der homerische Einzelkampf der Helden, sondern bereits der organisierte Krieg der Massen; bandenweise zogen wir zum Kampfe, und das Schlachtenglück neigte sich bald dieser, bald jener Partei zu, je nachdem Zeus von der Höhe des wolkengekrönten Berliner Ida, des Kreuzbergs, die Waage schwanken ließ. Einmal waren wir von erdrückender Übermacht in einem "Torweg" eingeschlossen, den wir mit Todesverachtung - die Garde stirbt, doch sie ergibt sich nicht - verteidigten. Ein Kriegsrat beschloß, unseren Achilles, den starken Düwel, den uns [S.17] anderen wesentlich mehr durch seine Jahre als durch seine Kenntnisse und seinen Fleiß überlegenen Sohn eines Polizeioffiziers, herbeiholen zu lassen; mir, als einem der Flinksten und Kleinsten, fiel die ehrenvolle Aufgabe zu, mich bei Gelegenheit eines zu diesem Zwecke eigens unternommenen Ausfalls durch die Reihen der Moabiter Trojaner zu schleichen. Aber ach, was helfen List und Mut, wenn die Götter gegen uns sind; sie fingen mich, bedachten mich mit jener Tracht, zu der man keinen Schneider braucht, fesselten mich an Händen und Füßen und "verbuddelten" mich an abgelegener Stelle in den Sand der märkischen Heimat, wo sie am allersandigsten ist; nur der Kopf des Märtyrers ragte noch hervor als ein Tummelplatz unzähliger Fliegen und einiger sehr mißtrauisch betrachteter Wespen; zum Glück behielt das Sprichwort Recht, daß die Wespen nicht an den schlechten Früchten (und Früchtchen) nagen. So lag ich in herzdurchbohrender Einsamkeit, bis der letzte Schein der Abenddämmerung verblichen war; und ich kann von Glück sagen, daß doch zuletzt noch ein paar der Feinde Verstand genug hatten, mich auszugraben, loszubinden und mit einer nochmaligen gehörigen Verwarnung zu meinen heimischen Penaten zu entlassen. So spät war ich noch nie nach Hause gekommen; mehrfach war ich ernstlich ermahnt worden, mich ohne Verzug heimzuscheren, jetzt war mein Maß voll, und die Geduld meiner sonst so geduldigen Mutter erschöpft; ohne den Beschuldigten auch nur anzuhören, "verwamste" sie mich nach Strich und Faden mit meinem eigenen Spazierstöckchen- es war nicht dick - und das schlimmste dabei war, daß dieses hochelegante Requisit eines Jungen up to date jener Zeit dabei zerbrach. So kam ich, unschuldig-schuldig, der reine Tor, zu der dritten Tracht Prügel an diesem Tage des Unheils und der Niederlage, und es war mir damals ein geringer Trost, daß ich so oft keine Prügel bezogen habe, wo ich sie mir ehrlich verdient hatte.

"Aber ich greife vor", sagte Paula Erbswurst, auch eine gute Bekannte aller alten Berliner. Der Chronist ruft sich selbst zur Ordnung und kehrt zur historischen Reihenfolge zurück.

Wir waren Mietsnomaden. Der Klapperstorch war damals noch ein freier Wildvogel, "man weiß nicht, von wannen er kommt und geht", und kein domestiziertes Haustier, das nur auf ausdrückliches Kommando antritt. Er brachte meine Schwester Elise, ebenso flachshaarig und blauäugig, wie ich selbst schwarz und braunäugig; die Wohnung wurde wohl aus diesem Grunde zu eng; außerdem [S.18] mußten die Eltern sich entschließen, das allzu kleine Einkommen des Vaters durch die Aufnahme von Pensionären zu ergänzen; wir zogen nach der Auguststraße, wieder Nr. 5. An den Norden waren wir gebunden; hier lag, in der Johannisstraße, das kleine bescheidene Bethaus der jüdischen Reformgemeinde, an der mein Vater Prediger und Religionslehrer war. Damals "konnte man" noch der Auguststraße wohnen. Es war nicht gerade eine "feine" Wohngegend wie etwa die "Neue Promenade", aber immerhin eine "janz jute Jejend". Berlin war noch nicht verwöhnt, die großen Prachtlogis kamen erst seit der Zeit nach dem Kriege von Siebzig mit dem Milliardensegen auf, wenigstens für den Mittelstand; einige große Bankiers, Fabrikanten und Beamte mögen in ihren Dienstwohnungen und Eigenhäusern schon große, elegant ausgestattete Räume gehabt haben, aber ein Badezimmer hatte nicht einmal das kaiserliche Palais Unter den Linden; einer der Besitzer des Hôtel de Rome hat mir später einmal erzählt, daß sich der alte Kaiser regelmäßig einmal wöchentlich die volle Badewanne herüberschicken ließ. Und was den Nebenraum anlangt, den unser Wilhelm Busch "die Klause, still berühmt im ganzen Hause" nennt, so rückte sie damals erst ganz allmählich in das Innere jeder Wohnung und in den privaten und ausschließlichen Gebrauch ihrer Insassen ein; sehr oft befand sie sich noch "auf der halben Treppe" und war zwei bis vier Mietparteien zugänglich. Den Fortschritt brachte erst die gewaltige Kulturerrungenschaft der Wasserspülung, die erst zu meiner Kinderzeit sich allgemein durchsetzte, im Gefolge einer schweren Choleraepidemie, die um 1870 herum gehaust haben muß, wenn meine Erinnerung mich nicht täuscht; keinesfalls täuscht sie mich - der Geruchssinn ist bekanntlich der Erinnerungssinn par excellence - über Quantität und Qualität der Düfte, die emporstiegen, wenn der Unternehmer der Abfuhr seine abgehärteten Mannen in Bewegung setzte. Er hieß Bolle und war einer von drei Brüdern, die der stets reimfreudige, wenn auch nicht im höheren Sinne poetische Berliner in einen anmutigen Gedächtnisvers gebracht hatte; der eine, der eine Weißbierbrauerei betrieb, hieß der Weißbolle, der zweite, Inhaber eines Eiswerkes, der Eisbolle. - Ähnlich wurden später drei andere Brüder Topf berühmt, die in der Belle-Alliancestraße eine Tag und Nacht offene, bekannte Restauration unterhielten. Zwei von ihnen teilten sich in den Dienst des Tages; der eine hatte den Bier-, der andere den Schnapsausschank unter sich; sie hießen der [S.19] Bier- und der Schnapstopf; der dritte hatte den Nachtdienst allein und von ihm seinen Zunamen.

Das finstere Miethaus meiner Geburt in der finsteren Krausnickstraße habe ich nie wieder betreten; keine Erinnerung verknüpfte mich mit ihm. Wohl aber bin ich als erwachsener Mann einmal durch den Torweg des Hauses in der Auguststraße getreten, des ersten, mit dem ich hellbewußte Erinnerungen verband. Ich wollte den riesigen Hof wiedersehen, auf dem sich unsere Kinderspiele zu meist abwickelten, wo der Leiermann die Orgel drehte, und wir ihm die "Dreier" aufsammelten, die mitleidige Hausfrauen und musikalische Köchinnen aus allen Fenstern, na, sagen wir, regnen ließen; wo die Mannschaft des Holzhändlers mit Säge, Beil und Sägebock antrat, um vor unseren staunenden Augen lange Scheiter in kurzes Brennholz umzuwandeln, wo stündlich die "Musik der Großstadt" erklang: "Lumpen, Knochen, Papier, alte Stiefel, alte Hüte, Haaasenfelle!" oder "Beesinge, Beesinge, Beesinge" (dem Nichtberliner sei gesagt, daß das Wort Blau- oder Heidelbeeren bedeutet, ein altes deutsches Wort; schon zur Zeit Julians des Abtrünnigen nannten die Thüringer einen nicht sehr populären König Bisino); oder es rief in heißer Sommerzeit: "Fliejenstecke, Fliejenstecke", alles nach einer feststehenden, offenbar aus Urzeiten stammenden, sozusagen geheiligten Melodie, die nie aus meinen Ohren weichen wird.

Ja, also, diesen riesigen Hof wollte ich wiedersehen mit dem Monument in seiner Mitte, dem ungeheuren Müllkasten, um den zur Sommerzeit die Mannen des dritten Bolle erfolgreich wetteiferten. Aber ach! Man soll die Stätten seiner großen Eindrücke sorgfältig meiden, so sorgfältig wie einstige Geliebte: es gibt immer eine Enttäuschung. Dieser große Hof war nicht größer als alle an deren Berliner Höfe; er entsprach ganz und gar dem schönen Bilde, das Eckstein in seiner unvergeßlichen Ode des Oberlehrers auf die Mietskaserne gezeichnet hat:

"Denn eng und hoch, vier Stock tief eingekeilt,
liegt steil und schluchtig dieses Hofs Gevierte.
Hier hat der sanfte Phöbus nie geweilt,
und Luna nie die Schläfer hier genierte.
Von ihren Sommersprossen ward geheilt
die Nähterin, seit sie sich herquartierte;
denn was hier haust, Flickschneider, Wäscherin, Schuster,
umwebt ein ewiges märchenhaftes Duster."

[S.20] Eheu! Die Zeiten ändern sich, und wir mit ihnen! Die Maßstäbe verschieben sich, was groß war, wird klein, was klein war, groß. Beim sechzigsten Jubiläum meines Friedrichsgymnasiums vor sieben Jahren wurde ich seinem ehemaligen Direktor vorgestellt, dem verdienten Trendelenburg. Er ist (ich hoffe, er ist noch am Leben) ein Mann von kleiner Gestalt, den ich ein ganzes Stück körperlich überragte. "Mein Gott", sagte ich, "ich habe Sie als einen ganz großen Mann im Gedächtnis." Und er in schnellem Verstehen: "Dann müssen Sie als Sextaner bei mir gewesen sein", was denn auch stimmte. Ganz so war es mir auch, natürlich sans comparaison, mit meinem großen Hof ergangen.

Aber es gibt ja, zu Glück oder Unglück, auch objektive Maßstäbe, und an ihnen gemessen war das Berlin meiner Kinderjahre sehr klein, wenigstens im Vergleich zu seinem heutigen Umfang. Als ich bis zur "Heimatkunde" vorgeschritten war, lernte ich, die Stadt habe 700000 Einwohner. Darunter kann ich mir auch heute nicht viel vorstellen. Aber ich weiß noch sehr gut, wo Berlin damals anfing und aufhörte, wenigstens in meiner engeren Heimat, dem Norden. Wenn ich zum Turnen ging, überschritt ich bereits an dem kleinen Kanal, der in der Gegend des heutigen Lehrter Bahnhofs die Invalidenstraße kreuzt, das Gebiet der Bebauung. Dicht dahinter gab es nur noch das immer scheu betrachtete Zellengefängnis, vulgo Zuchthaus, und die Ulanenkaserne; wohl auch schon den alten, jetzt an deren Zwecken dienstbaren Hamburger Bahnhof; aber der "Lehrter" (ich habe als Tertianer über ihn einen Aufsatz zu machen gehabt; da war er ganz neu und ein Wunder der Technik), das Ausstellungsgebäude, die Feuerwerkerschule und alles andere lag damals noch unter der Schwelle der Zeit; nichts war vorhanden als eine Sandwüste, der nur die Kamele fehlten; in ihr wuchsen ein paar magere Kiefern, auf berlinisch Kusseln, und ein paar kummergewöhnte Hungerblumen, Lichtnelken und Wolfsmilch und dergleichen, die wir für den Unterricht in der Botanik bei meinem unvergeßlichen, allzufrüh dahingeschiedenen Lehrer Hohnhorst sammelten und, damals noch nach Linné, bestimmten. Von Moabit - der Sturm auf das so genannte katholische Kloster war noch in frischer Erinnerung - standen nur ein Stück der Straße Alt-Moabit und zwei kurze Stückchen Turm- und Werftstraße; hier hausten unsere Erbfeinde, von denen ich erzählte. Aber auch vor dem Kanal war nur die linke Seite vollbebaut; rechts gab es weder die drei großen Gebäude der [S.21] Landwirtschaftlichen Hochschule, des Naturhistorischen Museums und der Bergakademie, noch die Invalidenkirche und das heutige Arbeitsministerium, die ehemalige Pepinière, offiziell genannt "militärärztliche Bildungsanstalt": die befand sieh noch in ihrem alten Heim in der Friedrichstraße nahe der Weidendammer Brücke. An ihrer Stelle erstreckten sich die alten, wohl noch friderizianischen, überaus bescheidenen Gebäude und schönen Gärten des Invalidenhauses weit nach Norden. Hier bin ich viel gewesen; zwei meiner Mitschüler waren die Söhne des Lehrers und Küsters der Anstalt Löchner, den ich in liebevollster Erinnerung bewahre. Er war "der redliche Thamm" in Person, ein hochgewachsener, magerer, schweigsamer Mann, der mit seiner langen Pfeife zufrieden und philosophisch seine Rosen pflegte, uns Jungens zuzuhören und unmerklich zu lenken verstand und mir besonders den ersten Keim meiner Leidenschaft für die Alpen und die Steigekunst ins Herz legte. Wenn er von den großartigen Wanderungen sprach, die er alljährlich machte, wie man sie damals noch machte, mit wenig Geld, gar keinem Komfort und unendlicher Naturfreude, dann leuchteten seine guten Augen, und wurde sein verschlossener Mund beredt.

Dahinter also war die Wüste, die echteste denkbare "Streusandbüchse" deutscher Nation. Und nicht ganz ohne gefährliche Bestien! Kannst du dir vorstellen, mein lieber junger Berliner, daß in der Gegend des heutigen Kriminalgerichts ein armseliges Büblein, das pflichtgetreu zum Turnen trabt, plötzlich sechs bis zwanzig wütende Wespen auf seiner unbestrumpften Wade spürt, in deren Nest er sehr wider Willen getreten ist? Kannst du dir denken, was das für ein Gebrüll setzte? Der alte Ballod, noch ein persönlicher Schüler Jahns, wie die Sage ging, strich sich mitleidig durch seinen merkwürdigen altdeutschen Riesenbart, dessen Hauptfarbe bei Gott grün war, als ich humpelnd und tränenbeschmiert anlangte, und verordnete mir die Wohltat nasser Erde, ehe er mich heimschickte, wo mich Mutter, eines Arztes erfahrene und gar nicht ängstliche Tochter, in sachgemäße Behandlung nahm. Kannst du dir denken, daß mich ein anderes Mal eine Biene gerade in dem erhabenen Moment ins Genick stach, als ich den Springstock einsetzte, um den Tief-Weitsprung auszuführen? Wahrscheinlich hatte ich unwissentlich auch wieder ihr Familienleben zerstört. Lederstrumpf! Unkas, der letzte der Mohikaner am Marterpfahl. Was sind alle Abenteuer des nur gelesenen Karl May gegen solches Erlebnis? Ja, sogar die Jagd glückte [S.22] zuweilen noch im Berliner Urwalde. Ich fand einmal am späteren Königsplatz, den damals die Siegessäule, der "Reichszigarrenabschneider mit der Reichswespe", noch nicht zierte, an dem noch kein Reichstag prangte, kein Denkmal für Rom und Bismarck sich er hob, an dem nur, hinter Bäumen versteckt, das Krollsche "Etablissement" des unvergeßlichen Geheimen Kommissionsrates Engel bestand, in einer hohlen Weide eine "richtiggehende" Fledermaus, die sich den Flügel gebrochen hatte. Ich zog sie mit zagen Fingern hervor, weil ich zoologisch noch nicht weit genug gediehen war, um zu wissen, ob so ein Vieh nicht etwa beißt (im Vertrauen, ich weiß es noch heute nicht), brachte es nach Hause und wies ihr ein zerbrochenes Weißbierglas als Wohnung an. Aber das undankbare Tierchen verweigerte jede Nahrungsaufnahme, trat in den Hunger streik ein wie nur ein Gefangener der Schlüsselburg, und ich mußte es zurücktragen, von wannen ich es genommen, einem ungewissen Schicksal entgegen. Auch dort war Berlin zu Ende; auf dem ungeheuren Platze spielten wir Indianer und Pflanzer oder Räuber und Gendarmen oder probierten erfolglos den neugeschenkten Bumerang, der mir wenigstens niemals gehorsam in die Hand zurückkam. Einer meiner Kameraden war geschickter, aber nur mit dem Erfolge, daß ihm die heimtückische Waffe der Australier eine gewaltige Beule am Kopfe schlug. Seine Eltern verklagten dann mich als den Urheber des Unfalls und Verführer der Jugend bei meinen Eltern.

Dahinter erstreckte sich der Tiergarten in unbekannte Weiten. Er war durchaus noch nicht überall der gepflegte Park von heute, sondern erhielt noch große Strecken in der Gegend des Neuen Sees, wo unternehmungslustige Jungen sich in Brombeerhecken verstecken, beziehungsweise mit geschwungenem Tomahawk und dem Kriegsgeschrei ihres Volkes aus besagten Hecken über die überraschten Bleichgesichter herfallen konnten. Nur an der Spree gab es noch die "Zelte" und die Straße "Unter den Zelten", eine der vornehmsten Wohngegenden des neueren Berlin. Aber der Fluß selbst floß dort wenigstens noch nicht zwischen künstlichen Ufern, hohen Kaimauern dahin, sondern hatte noch sein natürliches Bett. Da fand ich einmal einen toten Fisch und hob ihn auf; wer jemals einen toten Fisch in der Hand gehabt hat, weiß, daß der Geruch ebenso anhänglich wie peinlich ist. Es ist das eine der wenigen Erfahrungen meines Lebens, die mir wirklich eine Lehre für immer gewesen ist.

[S.23] Hier verwirren sich meine Erinnerungen. Habe ich noch mit eigenen Augen das Omnibus-Schiff gesehen, das von den Zelten aus die vergnügungssüchtigen Berliner nach dem fernen Charlottenburg führte, oder weiß ich das nur aus Erzählungen und Bildern? Lokalhistoriker mögen mich belehren. Aber das weiß ich, daß es nach Charlottenburg eine Landpartie war, die man lieber mit "Kremser" als in der ersten Pferdebahn machte, deren Berlin sich rühmen durfte. Sie ging wie heute durch die Charlottenburger Chaussee über den Großen Stern, den noch keine Jagdszenen zu verschönern vorgaben, über das Knie nach der Berliner Straße, die damals mit einigen kurzen Querstraßen alles war, was von der heutigen Großstadt schon da war. Auch zwischen Berlin und seiner Nachbarresidenz bestand jene liebevolle nachbarliche Abneigung, die ich schilderte. "Er macht einen Charlottenburger", sagte der Berliner, wenn jemand in Ermangelung eines Taschentuches - nun, man versteht mich! Unübertrefflich war damit die Einschätzung der schönen Stadt als eines "Bauernkaffs" gekennzeichnet. Aber der Schloßpark und das Mausoleum waren doch herrliche Dinge für den unverwöhnten Geschmack. Gott, man war ja so anspruchslos! Hinter dem Zoologischen Garten, der damals auch noch eine Landpartie darstellte, zu der man sich rite verproviantierte, war in den Landwehrkanal eine Schleuse eingebaut, durch die das Wasser schäumend strömte. Hier konnte ich oft und lange stehen und in die Wirbel hineinträumen, die mir als die größte Naturherrlichkeit erschienen, mir Sohn des Tieflandes, der kaum wußte, daß Wasser sich auch schnell bewegen und rauschen kann.

Im Westen war Berlin am Lützowplatz und an der Potsdamer Brücke zu Ende. Der große Kaffee- und Konzertgarten "Blumes Hof" war sein letzter Vorposten, wie nach Charlottenburg zu die beiden Kaffeegärten Tiergartenhof und Bellevue; hier überall "konnten Familien Kaffee kochen" und zahlten nichts als für das heiße Wasser und ein wenig für das Geschirr; den Kuchen brachte man sich natürlich mit. Hinter Blumes Hof war die Wüste, aus der nur in weiter Ferne, an der jetzigen Pallasstraße, der inzwischen längst eingegangene sogenannte alte Botanische Garten als Oase winkte. Weiter nordöstlich bildete das Oranienburger Tor so ziemlich die Grenze; dahinter gab es nur noch die Maschinenfabriken von Borsig und Egell und eine halb ländliche Straße, die Chausseestraße, die zu dem ein wenig verrufenen Wedding führte. Gleich hinter der Bergstraße [S.24] dehnte sich ein weiter Exerzierplatz bis nach dem Gesundbrunnen hin, der auch das Ziel von sommerlichen Kremserfahrten war, und vor dem Schönhauser Tor lag der Pfefferberg und gar Schultheiß ganz in der Landschaft; Pankow war fast unerreichbar. Und Rixdorf, Lichtenberg, ja sogar Schöneberg und Wilmersdorf waren noch kleine, sehr primitive Bauerndörfer, als die "Ringbahn" sie zuerst dem Berliner erschloß.

"Massenverkehrsmittel" gab es natürlich noch nicht. Der einen Pferdebahn vom Brandenburger Tor nach Charlottenburg folgte erst in den siebziger Jahren die erste Innenstadt-Linie, die vom Rosenthaler zum Oranienburger Tor führte. Sie hat sich allmählich zum "Ring" ausgewachsen und trägt meines Wissens noch heute die Nummer eins. Wir wohnten damals in der Linienstraße nahe der Oranienburger; unser Garten, das erste Paradies meiner Kindheit, reichte nach hinten bis an die Elsasser Straße, die damals noch Torstraße hieß, und ich entsinne mich wohl, mit welchem Interesse wir den ersten Wagen fahren sahen; es war das Wahrzeichen einer neuen Zeit, des kaiserlichen Berlin als Mittelpunkt des geeinten Reiches: das war uns Kindern natürlich nicht klar bewußt, aber wir fühlten doch, wie die Vaterstadt begann, die riesenhaften Glieder zu dehnen. Von den winzigen Wagen, die, von einem Pferdchen gezogen, langsam genug vorankamen, zu den heutigen Straßenbahnzügen und den Autobussen, zur Stadtbahn und der Hoch- und Untergrundbahn; welche Entwicklung! Damals ging man im allgemeinen zu Fuß, die reichen Leute hielten sich ihre "Equipage", der Mittelstand leistete sich nur in Ausnahmefällen eine Droschke zweiter Klasse; eine "erster" war schon ein Luxus, der den Kredit des Benutzers entweder schwer schädigte oder sehr verbesserte, je nachdem man ihn für einen wirklichen "Kootzen" oder nur für einen "Großkootz" hielt. Volksverkehrsmittel war außer Schusters Rappen der "Sechseromnibus"; bei gutem Wetter saß man oben und ertrug stoisch-heroisch die Stöße, die das damalige Pflaster unvermeidlich machte; noch ahnte die Zeit nichts von Asphalt, Holzpflaster und dergleichen Luxus, wie sie noch nichts ahnte von der Lichtflut der heutigen Straßenbeleuchtung; ich habe noch Petroleumlampen in den Straßenlaternen gesehen, und eines der Bilder, die mir immer wieder vor Augen treten, ist der eilige Mann, der mit Leiter und Stange in der Dämmerung durch die Straßen läuft, um innerhalb der ihm vorgeschriebenen Zeit die Laternen zu entzünden. [S.25] Die ersten Lampen in meinem elterlichen Hause waren auf Petroleum umgearbeitete ehemalige Öllampen; ich habe noch meine ersten Bücher hei Petroleumlicht geschrieben, und ach, wie oft kam es vor, daß mir plötzlich ein auf das Manuskript niederfallendes Rahmflöckchen anzeigte, daß die Katastrophe wieder einmal eingetreten war; der Docht hatte "geblakt", das Zimmer war voller Rauch und Gestank, und die Hausfrau oder das Dienstmädchen machten böse Gesichter; denn das weibliche Geschlecht ist zwar in verhängnisvoller  Weise für das Großreinemachen eingenommen, aber nicht zu außergewöhnlichen Zeiten. Von manchen Errungenschaften der Technik ist es mir einigermaßen zweifelhaft, ob ich sie als unbedingte Fortschritte der Kultur zu betrachten habe: aber auf mein elektrisches Licht lasse ich nichts kommen. Welche Entwicklung auch vom Hochrade über das "Känguruh" (ein Zweirad mit sehr kleinem Vorder- und großem Hinterrade) und das Niederrad zum Auto, und hier wieder von den ersten Mißgeburten, die ausschauten wie Wagen, denen die Pferde fortgelaufen waren, und in denen man bei dem Pflaster alle seine Sünden abbüßte, zu den heutigen schlanken und zuverlässigen Gefährten und zum Flugzeuge. Berlin ohne Gas, elektrisches Licht, ohne Telephon, ja sogar damals noch ohne Rohrpost, ohne Radio, ohne Schnellbahnen; welcher jüngere Berliner kann sich das vorstellen?!

[S.26]

KLEINSTADT BERLIN

So klein und arm war mein Berlin. Und doch, wie groß und reich war es in der einen Generation geworden, seit mein lieber Vater um das Jahr 48 herum, erst als Primaner des Königstädtischen Gymnasiums, dann als Student der Philosophie und der orientalischen Sprachen, und zuletzt als Erzieher im Auerbachschen Waisenhause in der Oranienburger Straße auf seinem krummen Pflaster die Stiefelsohlen wetzte. Als ich schon ein großer Junge war, kamen er und ich einmal von einer unserer Wanderungen von Pankow her zurück, sehr durstig, denn es war ein schwüler Tag gewesen. Da entsann sich Vater eines Gartenlokals "ganz draußen, weit vor der Stadt", wo er als Student öfters ausgezeichnete Milch getrunken hatte. Dort wollten wir einkehren. Wir gingen und gingen; die Gärten und kleinen Bauernhäuser zu beiden Seiten der Schönhauser Allee wurden seltener und seltener, die fünfstöckigen Mietskasernen häufiger und häufiger. Wir kamen an die Stelle, wo die Pappelallee, die Fortsetzung des alten "Weinbergwegs" (muß das ein Surius gewesen sein! oder hat sich unser Klima seither dem der Eiszeit genähert?), einmündet; von "Ruhles Hof" - so ähnlich hieß das Lokal - keine Spur! Wir glaubten, es sei eingegangen und pilgerten weiter und weiter, jetzt schon ganz in dem Bezirk vollkommen großstädtischer Bebauung --- und dann fanden wir die Stätte der frohen Erinnerung doch noch, keine fünf Minuten vom Schönhauser Tore, und arg verwandelt. Der Garten war verschwunden, auf dem Hofe einer typischen Mietskaserne standen die typischen grüngestrichenen Kästen mit Kümmer- und Kummerpflanzen, von denen der Berliner spöttelt: "Aujust, stell' den Jarten raus, et rejnet". Und Milch gab es natürlich auch nicht mehr, sondern nur das Bier, das damals -  ich war noch nicht durch mein akademisches Studium zum Sachverständigen geworden - seinen Namen als "Aktienjauche" verdient haben mag. Noch beherrschte die "Berliner Weiße" das Feld, für Männlein zumeist "mit ohne", für die naschhafteren Weiblein meist "mit mit", d. h. Himbeersaft, "Leichenwagen mit Troddel" hieß es wohl auch. Selbst der Student verschmähte damals das heimische Getränk noch nicht; bis tief in die achtziger Jahre, vielleicht noch später, trafen sich die sonst einander recht feindlichen farbentragenden [S.27] Korporationen ziemlich vollzählig in Kortwichs Weißbierstube im nördlichen Teile der Friedrichstraße zum Frühschoppen. Die stärkeren Alkoholica blieben dem Abend vorbehalten.

Ja, so klein war Berlin noch zu Vaters Zeit; und zwar nicht seiner, wohl aber meiner Familie Erinnerungen trugen noch weiter und weiter zurück in Zeiten, wo die Stadt noch viel, viel kleiner war. Seit etwa 1690 lebten die Vorfahren meiner Mutter, die Benda, in der Stadt, der sie eine Anzahl hochangesehener Gelehrter und Beamter stellten, Ärzte, Juristen und Professoren. Hier wußte man noch Dinge aus früherer Zeit. So z. B., daß nach den Freiheitskriegen dem Urgroßvater das ungeheure Terrain, damals ein Garten, für achttausend Taler angeboten wurde, das heute von Friedrichstraße, Karlstraße, Albrechtstraße und Spree umfaßt wird, und daß er diese waghalsige Spekulation entrüstet ablehnte. Oder daß in Zeiten einer Geldklemme die wohlhabenden Bürger - oder waren es nur die wohlhabenden Juden? -  gezwungen wurden, für ein paar hundert Taler ein Grundstück an der eben erschlossenen Brunnenstraße zu übernehmen, und wie die Rohrspatzen darüber räsonierten - - - aber nicht lange!

1690, da war Berlin eine winzige Kleinstadt von keinen zehn tausend Einwohnern, eine Ackerbürgerstadt, auf deren Straßen die Schweine umherliefen. Aber mit Preußen wuchs auch seine Hauptstadt. Die vorbildliche Bodenpolitik der Hohenzollern vom Großen Kurfürsten an bis zu Friedrich Wilhelm I die aus ihrem großen Domänenbesitz vor den Toren immer mehr Bauland zur Verfügung stellten, als die wachsende Bevölkerung brauchte, und derart keinen Bodenwucher aufkommen ließen, entwickelte Berlin zur schönsten, wohlhabendsten und loyalsten Stadt des damaligen Europa. Hätten ihre Nachfolger die gleiche weise Politik weitergeführt, wer weiß, ob Berlin heute die Hauptstadt des republikanischen Deutschland wäre?!

Aber wenn auch keine kleine Stadt, so war doch das Berlin meiner Kinderjahre noch immer eine Kleinstadt, wenn man mit heutigen Maßstäben mißt. Noch rannen die Abwässer der Häuser in die "Rinnsteine" und verbreiteten einen unvergeßlichen Geruch; noch vor kurzer Zeit, als ich im Hochsommer einmal in dem schönen Werrastädtchen Eschwege weilte, das sich den Luxus der Kanalisation damals wenigstens noch nicht geleistet hatte, fühlte ich mich im Geiste um mehr als fünfzig Jahre zurückversetzt und sah die [S.28] Auguststraße leibhaftig vor meinen Augen. Ich stand wieder auf dem langen Brette, das als Brücke über das schwärzliche übelduftende Rinnsal führte, und spielte "Brückenmännchen" mit den Freundinnen und Freunden meiner Jugend; einer war der Wächter, und es kam darauf an, an ihm vorüber pfeilschnell das Brett zu überschreiten, ohne von ihm "geschlagen" zu werden; ich sah wieder die fetten langgeschwänzten Ratten mit Blitzgeschwindigkeit heranfahren und unter dem schützenden Brücklein verschwinden, und sah zerlumpte Kinder bei der von uns verachteten und uns streng verbotenen Beschäftigung des "Rinnsteinklauens". Und durchlebte noch einmal den echten Schmerz, den ersten bewußten Schmerz meines Lebens, als mich, der ich in fleckenlosem weißem Anzuge vor dem Hause auf die Eltern wartete, um mit ihnen irgendein Jugendparadies aufzusuchen, ein solcher Klassengegner hinterrücks in die "Renne" stieß; aus dem strahlenden Vollmond war dunkelster Neumond geworden! Und ich sah alle die Stätten wieder im Blitz der Erinnerung: die "Budike" gegenüber mit der Inschrift "Franz. Billard", an der ich lesen lernte; ich habe jahrelang geglaubt, es sei der Name des Kneipwirtes, und war nicht wenig stolz, einen so großen und dicken Namensvetter zu haben. Ich sah die ganze stickige Straße mit ihren vorgebauten Ladentreppen und den ebensoweit oder noch weiter auf den "Bürgersteig" vorragenden Kellerhöhlen, aus denen charakteristische Gerüche aufstiegen; noch heute will ich mich vermessen, mit verbundenen Augen den Keller eines Lumpenhändlers, eines Schuhmachers, eines Tischlers zu diagnostizieren. Jenem verkauften wir- durften wir? jedenfalls taten wir es - die gebrauchten Vossischen Zeitungen; denn selbstverständlich lasen unsere Eltern dieses Blatt des Urberliners wie ihre Eltern und Großeltern vor ihnen; die erlösten "Dreier" setzten wir je nachdem in Kirschen (es gab eine große "Tüte" für einen Dreier, den vierten Teil eines "Groschens", der nicht mit dem "juten Jroschen" zu verwechseln ist, der eigentlichen Münze des Kleinhandels; auf dem Markte kosteten die begehrenswerteren Dinge zwei, vier oder gar acht "Jute"), ja, also in Kirschen oder Frühbirnen um oder erstanden einen "Salzkuchen", so genannt, weil er kein Salz enthielt, oder Lederzucker oder gar eine "Naute": ein sehr klebriges Stänglein aus Mehl und Sirup mit Mohn darauf, das sich beim Gebrauch in die Länge zog wie eine Reichstagssitzung und den großen Vorteil hatte, an der Hose hängen zu bleiben, wenn es bei dem Versuch, es von den Fingern loszukriegen, [S.29] der Anziehungskraft der Erde zu gehorchen tendierte. Der Schuster lieferte uns unsere Stiefel, damals noch "zweibällig", angeblich auf beide und darum auf keinen Fuß passend; wir wollen ihm nicht fluchen, er verstand es nicht besser, aber die Füße hat er uns fürs Leben ruiniert. Neben dem Kellerhalse, der den Eingang in seine pechduftende Werkstatt darstellte, befand sich ein von uns sehr bewundertes Gemälde: zwei Schusterjungen, die sich in den Haaren lagen, mit der witzigen Aufschrift: "Hier gibt's Wichse!" Der Tischler aber, der in irgendeiner geheimnisvollen, angeblich verwandtschaftlichen Beziehung zu unserer Hausfee stand, war unser großer Freund, der mir den ersten Schild nicht nur schnitt, sondern sogar wölbte, so daß ich unter meinen Kampfgenossen im Waffenschmuck strahlte wie einst Achilles, als ihm Hephaistos die Prachtrüstung geschmiedet. Achilles war übrigens eine meiner beliebtesten Gestalten; ich konnte Schwabs "Sagen des klassischen Altertums" fast auswendig und habe meine ersten Lehrer wahrscheinlich stark erheitert, wenn ich beim Satzbilden in der Sexta und Quinta auf den Pfaden Homers und Vergils wandelte.

Ja, es war noch Handwerkerzeit im Berlin meiner ersten bewußten Jahre, "Zeit der einfachen Warenproduktion", um mich marxisch auszudrücken. In wie vielen Werkstätten habe ich gestanden und der Arbeit zugeschaut! Einmal war es ein Stukkateur, ein anderes Mal ein Drechsler oder Sattler oder Glaser oder Schlosser, der in unserem eigenen Hause oder in dem von Kameraden seine "Profession" ausübte. Und neben dem Handwerker stand noch in alter Rüstigkeit der kleine Händler, ja, nicht nur der Ladeninhaber, sondern auch noch der "Höker", der auf dem offenen Markte "hockt". Man hatte seinen bekannten Spezialisten für alles Gewerbliche, was man brauchte; und Mutter kaufte auf dem Markte am Oranienburger Tore, der zweimal wöchentlich, am Freitag und Dienstag, stattfand, Obst, Gemüse und oft auch Fleisch oder Fische. Noch hatte der Kapitalismus nicht die Axt an die Wurzeln aller dieser bescheidenen und doch so tüchtigen Elemente gelegt. Es gab ein paar Maschinenfabriken und große Druckereien und vielleicht auch noch andere Großbetriebe, von denen ich in meiner Unschuld nichts erfuhr, weil sie in einem anderen Stadtteile gelegen waren, aber die machten dem Handwerker und Händler kaum schon Konkurrenz; von Großgeschäften bestanden in bescheidener Größe kaum andere als Gerson, Rudolf Herzog, Israel, Jordan.

[S.30] Ja, Berlin hatte damals noch nicht einmal alle Eierschalen der ehemaligen Ackerbürgerstadt abgestreift. Es fanden sich in allen nach außen führenden Straßen noch echte Bauernhäuser und kleine Katen mit Hof und Scheune, und in der Stadt selbst noch viele Molkereien mit Stallungen, in denen die Kühe gehalten wurden. Von moderner Hygiene war auch auf diesem Gebiete noch nicht die Rede; und die Säuglinge starben denn auch massenweise in den heißen Monaten an der Kindercholera. Ich selbst habe als Achtjähriger meinen sehr geliebten kleinen Bruder Georg an dieser Mißhygiene verloren, und das hat mir den Blick und das Gewissen für die sozialen Bedingungen der meisten Krankheiten geschärft, als ich als junger Arzt in der Eichendorffstraße immer wieder Totenscheine für Säuglinge ausstellen mußte, die ich nie am Leben gesehen hatte; die mörderische Seuche hatte sie hingerafft, in wenigen Stunden, noch ehe sich die Eltern der tödlichen Gefahr bewußt waren.

Hygiene? Ach du lieber Gott. Uns gegenüber in der Auguststraße wohnten drei sehr alte Schwestern Beringer; die beiden älteren waren etwa achtzig; die jüngste, über siebzig, wurde immer noch als "das Kind" angeredet und streng beaufsichtigt, auf daß sie nicht etwa in ihrem jugendlichen Leichtsinn Schaden an Tugend und Gesundheit nehme. Zur Sommerzeit saßen die lieben alten Damen bei schönem Wetter in dem gar nicht so kleinen Garten, und hier waren wir Nachbarkinder wohl gelitten. Und es war im Siebziger Kriege. Männiglich "zupfte Charpie" für unsere Verwundeten, die Großen ohne, wir Kleinen mit Unterbrechungen, indem wir z. B. Regenwürmer aus dem Erdreich an die frische Luft beförderten. Und mit den gleichen überaus schmutzigen Fingerchen kehrten wir dann begeistert an unsere patriotische Aufgabe zurück. Wahrhaftig, diese Erinnerung liegt mir, dem in der Zeit der übertriebenen Antisepsis aufgewachsenen Mediziner, schwer auf der Seele; wenn die Obermedizinalbehörde nicht klüger gewesen ist als die Bevölkerung, dann muß ich mit Faust klagen: "Ich habe selbst den Gift an Tausende gegeben; sie welkten hin, ich muß erleben, daß man die frechen Mörder lobt."

War mein Berlin damals, um die Zeit der großen siegreichen Kriege, noch Kleinstadt, in diesem Übergange vom Biedermeiertum zum Frühkapitalismus, so war es wieder so loyal wie nur zur Zeit des Großen Kurfürsten und des "Alten Fritzen". Die drei großen [S.31] Siege hatten vergessen lassen, was in der Zeit der Heiligen Allianz, der achtundvierziger Revolution und der Konfliktzeit geschehen war. Das Bürgertum war politisch und wirtschaftlich zufrieden; da der preußische Adel sich grollend abseits hielt, beherrschte es die Parlamente durch die nationalliberale Partei, die Vertretung des aufkommenden Großbürgertums. Selbst der "Fortschritt" unter seinem gewaltigen Führer Eugen Richter war entschieden monarchisch, und nur die kleine süddeutsche Volkspartei hielt noch die Fahne der Republikaner in schwachen Händen. Man wußte ja noch von den alten Zeiten: die von Kaiser Nikolaus seinem Schwager von Preußen geschenkten Gestalten der Rossebändiger, die heute noch vor dem Schlosse stehen, hießen noch immer "der beförderte Rückschritt" und "der gehemmte Fortschritt"; man wiederholte noch immer den ersten mir bekannten boshaften Schüttelreim, gemünzt auf Friedrich Wilhelm IV., bei seiner Rückkehr von einer Karlsbader Kur: "Leberleidend ging er weg, leider lebend kam er wieder", und den nicht minder boshaften Denkvers aus der gleichen Regierungszeit, die Illustration zu der bekannten Sitte, daß die Fahne nur dann auf dem Schlosse wehte, wenn der Eigentümer anwesend war: "Ist der Lump drinnen, ist der Lappen draußen, ist der Lump draußen, ist der Lappen drin." Man summte noch mit verstohlenem Lächeln das Lied von dem ersten Attentat auf einen preußischen König: "War wohl je ein Mensch so frech wie der Bürgermeister Czech? Schoß in seiner blinden Wut unserm König durch den Hut und der braven Landesmutter durch den Rock ins Unterfutter." Ja, selbst der alte Berliner Trutzvers aus der Revolution erklang wohl noch bei Gelegenheit: "Komme nur, komme nur, Prinz von Preußen, komme nur, komme nur nach Berlin, da wollen wir dich mit Steinen schmeißen wie die Einwohner von Stettin." Aber die wenigsten haben dabei daran gedacht, daß dieser einstige Prinz jetzt der ehrlich geliebte Kaiser Wilhelm war, dem ganz Berlin zujubelte, wenn er freundlich lächelnd am "historischen Eckfenster" erschien, um die Wachtparade zu grüßen, die klingenden Spiels, geleitet von Hunderten begeistert mitmarschierender Berliner Jungen, vom Brandenburger Tore her die Linden entlang stampfte. Wirklich, wir haben ihn sehr geliebt, den alten schlichten Herrn; als wir ihn als Triumphator durch das Brandenburger Tor einziehen sahen mit seinen Paladinen, standen wohl nur wenige grollend beiseite, und die Attentate von Hödel und Nobiling, die Zeichen einer ganz neuen härteren Zeit, erregten die [S.32] Berliner Volksseele bis in ihre Tiefen. Als ich 1883 als Einjährig-Freiwilliger der Gardefüsiliere, genannt "Maikäfer", in der letzten Herbstparade stand, die der greise Herr zu Pferde abnahm, schlug auch mir das Herz höher bei seinem Gruße: "Guten Morgen, Füsiliere", und auch ich brüllte aus voller Kehle die donnernde Antwort mit: "Guten Morgen, Majestät." Ach, welcher unendliche Schatz von Liebe ist in den Jahren nach seinem Tode vergeudet worden!

So sehr war alles Vergangene vergeben und vergessen, daß sogar der Eroberer des revolutionären Berlin, der Feldmarschall Wrangel, einer der Lieblinge der Bevölkerung geworden war. Als er damals auf Berlin marschierte, drohten ihm die Aufständischen, sie würden seine Frau aufhängen, wenn er weiterginge. Er ließ sich nicht stören; als er aber einzog, sagte er zu seinem Adjutanten, der neben ihm ritt: "Soll mir doch verlangen, ob sie ihr jehangen haben." Die Frankfurter haben es ihm länger nachgetragen, daß er sie mit einem Bombardement vom "Sachsehäuser Berch" her bedrohte, wenn sie nicht sofort die hohe Kontribution bezahlten; aber das Herz der Berliner gewann er schnell, weil er selbst nach Sprache und Witz ein echter Berliner war. Tausend lustige Anekdoten wurden von ihm erzählt. So redete ihn einmal der Kronprinz, der spätere unglückliche Kaiser Friedrich, auf einem Hofball an, ein wenig entrüstet über das unwahrscheinliche Decolleté das damals Mode war: "Haben Sie schon jemals so etwas gesehen, Papa Wrangel?" Und der Feldmarschall: "Seit ick entwöhnt bin, nich mehr, kaiserliche Hoheit." Und auf dem gleichen Hofballe soll er zu einer Schönen gesagt haben (er duzte alle Welt): "Dein Kleed is zu kurz, mein Kindeken." Und als sie erstaunt auf ihre lange Hofschleppe hinwies, erklärte er schmunzelnd: "Unten is et lang jenuch, aber oben is et zu kurz." Wenn wir Jungen ihn trafen, zumeist in der Nähe des Königsplatzes, so schrien wir ihm unser: "Hurrah, Papa Wrangel" mit dem Aufgebot aller Lungenkraft in die Ohren; und er griff in die Tasche und spendete Dreier und manchmal Sechser. Ich sah seinen Leichenzug von dem Fenster unserer Wohnung in der Luisenstraße aus; da war ich schon ein großer Bursch, Obertertianer oder so ungefähr. Ich summte in den Chopinschen Trauermarsch den ruppigen Text hinein, den die Berliner der schönen Melodie unterzulegen pflegen: "Ach, nu trinkt er keenen Rotspon mehr", und dennoch war mir ein bißchen wehmütig um das Herz, als würde mir ein alter Jugendfreund begraben.