[S.121]

KREISE

In der Psyche des höher geförderten Menschen liegen drei Schichten übereinander. Die unterste, entwicklungsgeschichtlich älteste, ist die des subsozialen Tieres; sie besteht aus den Urinstinkten, die der Erhaltung des Lebens und der Art dienen: "Erhält sich das Getriebe durch Hunger und durch Liebe." Die mittlere Schicht ist die des sozial gebundenen Individuums; sie enthält die im Gesellschaftsleben entwickelten Triebe, die der Erhaltung der Gesellschaft dienen, und zwar wieder in zwei Schichten von sehr verschiedenem Alter. Die ältesten sind die in Jahrmillionen entwickelten kategorischen Imperative der Pflicht, der Sittlichkeit, die jüngeren die nur in dieser Gesellschaft, nur in dieser Gruppe geltenden Normen und Imperative der Sitte. Diese letztgenannten sind es, die das Individuum nicht nur binden, sondern geradezu fesseln; sie stellen in ihrer Gesamtheit die ungeheuerste soziale Macht dar, das "Man": "das tut man", "das tut man nicht". Je sklavischer das Individuum von diesem Codex beherrscht wird (die Soziologie nennt das seit Herbert Spencer "die persönliche Gleichung"), um so mehr ist er Philister. Einen Rest von dieser Sklavenkette schleppen fast alle, auch die höchstgeförderten Menschen mit sich herum, "ein Erdenrest, zu tragen peinlich", ja, sehr oft gilt gerade für diejenigen Individuen, die sich ganz radikal von jenen Ketten befreit zu haben glauben, das andere Wort: "Es ist nicht jeder frei, der seiner Ketten spottet." Derjenige, der alle Bindungen leugnet und sprengt, ohne Ausnahme, auch die kategorischen der Pflicht, gerade der ist der Erzphilister: auch er ahmt nur nach, was man ihm vorahmt, nur mit dem psychologisch unwesentlichen Unterschiede, daß er immer genau das Gegenteil von dem sagt und tut, was "Man" sagt und tut. Das ist die von Gabriel Tarde zuerst beschriebene "Imitation par Opposition", zu der nicht ein Deut mehr Gehirnschmalz gehört als zu der eigentlichen Nachahmung. Nur der ist und hat "Persönlichkeit", der auf Grund eigenen besonnenen Entschlusses, weil er sie als unnötig oder falsch klar erkannt hat, einen Teil jener Imperative und Normen verwirft. Je mehr er sich befreit, je stolzer und stärker er sein eigenes Gesetz über sich stellt, und je gewissenhafter er ihm dann folgt, um so höher ist er auf der Leiter emporgeklommen, deren drei Stufen [S.122] heißen: die führende, die schöpferische, die freie Persönlichkeit. Diese letzte Stufe, wo der "vollkommen gebildete Mensch das wirklich Vorzugswürdige fehllos erkennt und wirklich auch immer vorzieht", haben in der Geschichte der Menschheit nur wenige der erlauchtesten Genien erstiegen.

Zu dieser Befreiung kommt der Mensch nur dadurch, daß er aus seinem engeren Kreise in andere Kreise gerät, und um so leichter, in je mehr Kreisen oder Gruppen er verkehrt. Denn jede Gruppe hat ihre eigenen Sitten und Normen, die von denen der anderen häufig stark abweichen. Wer das erlebt, dem drängt sich die Relativität aller dieser Gesetze auf, die ihm zuerst als absolut bindend erschienen; und das ist der Beginn der Entfesselung, ist das Tor zur Gewinnung eigener Persönlichkeit.

So will ich denn von den Kreisen erzählen, in denen ich mir das wenige gewonnen habe, was ich hoffe, vom "höchsten Glück der Erdenkinder" zu besitzen. Schon in der engeren Jugendgruppe meiner nächsten Freunde war ich mit jungen Leuten verschiedener sozialer und nationaler Herkunft zusammengeraten, deren Blickfeld und deren persönliche Gleichung anders waren als die meinen: der kosmopolitische Türke Eskenazi, der Stettiner Patriziersohn Schleich, der Sohn der försterlichen Kleinbürgerfamilie Dehmel, der verbummelte Bohemien Kröger. Bald trat diesem Kreise ein Mann bei, der zwar auch ein Bohemien war, der aber ursprünglich adliger Offizier gewesen war und sich ein gutes Stück von der persönlichen Gleichung dieser Gruppe bewahrt hatte, mindestens in bezug auf die äußere Haltung, aber sonst schon fast ganz ein völlig Freier, eine schöpferische Persönlichkeit hohen Ranges: Detlev von Liliencron! Ich lernte ihn durch Dehmel kennen und fand in ihm den Dichter meines Herzens. Wenn du in ein geöffnetes Klavier hineinsingst, so tönen nur gewisse Saiten mit, durchaus nicht alle. Und so schwingen auch empfindende Menschen nicht mit jedem Künstler und mit jedem Kunstwerk mit, sondern nur mit denjenigen, die auf die gleiche Wellenlänge gestimmt sind. Nur der Snob, der ewig verständnislose, versucht sich und anderen einzubilden, daß er mit aller Kunst empfinde. Freilich gibt es Künstler von so gewaltiger Vielseitigkeit, ich bin fast versucht zu sagen: Vielsaitigkeit, daß, wenn sie erklingen, jede überhaupt gespannte Saite in den Erlebenden mitschwingt; das sind die ganz großen Weltgenies, ein Shakespeare, ein Goethe, ein Michelangelo. Zu diesen Größten gehörte [S.123] mein Detlev nicht, aber ich war auf ihn "gestimmt" und schwang tönend mit, wo seine Geige oder vielleicht besser: seine Trompete klang. Ich bin ihm wohl etwas verwandt gewesen in seinem rücksichtslosen Draufgängertum: hat mir doch erst vor kurzer Zeit mein verehrter Kollege Leopold von Wiese meine "prachtvolle Raubtiernatur" öffentlich bescheinigt, wozu ich, nebenbei bemerkt, erwiderte, daß ich jedenfalls keine "prachtvolle blonde Bestie" sei. Ich verliebte mich leidenschaftlich zuerst in Liliencrons Gedichte und dann in ihn selbst. Ich habe in mehreren Aufsätzen, die in der Sonntagsbeilage der Vossischen Zeitung, etwa 1894, erschienen, das Publikum als einer der ersten auf den damals noch wenig bekannten Dichter aufmerksam gemacht; auf seinen und Dehmels Wunsch sind diese Aufsätze in etwas erweiterter Gestalt in dem damals bahnbrechenden Verlage von Schuster & Löffler als Buch erschienen. Es ist längst vergriffen. Das war der Beginn einer Freundschaft, die bis zu seinem Tode währte. Noch kurz vorher besuchte ich ihn in Alt-Rahlsdorf und fand ihn, wie ich einst auch Wilhelm Raabe getroffen hatte, im befriedeten Genuß eines spät erworbenen Ruhms, mit einem kleinen Anflug jenes Selbstbewustseins, das nach Otto Erich Hartlebens köstlicher Prägung der alte Geheimrat von Goethe besaß, als "zielbewußter Klassiker". Er war im langen Gehrock, bei Gott, im Gehrock, und sollte gerade für ein Familienblatt photographiert werden. Ich liebte ihn um dieser kleinen Schwäche willen fast noch zärtlicher.

Damals wohnte er im eigenen Häuschen und wurde von seiner Gattin betreut, die die Kassenverwaltung in der Hand hatte. Als ich ihn kennenlernte, lebte er als Junggeselle in einem winzigen Stübchen in der Palmaille in Altona; von dem Mobiliar gehörte ihm kein Stück, nur an dem großen Schreibtisch hatte er eine Art von Untereigentum. Ein Dichterverband hatte ihm das Stück geliehen, damit es nicht, als sein Eigentum, von Gerichtsvollzieher gepfändet werden könnte. Und von Kassenverwaltung war nicht im mindesten die Rede, kaum von Kasse. Ihm lief das Geld durch die Finger wie Wasser; als ihm die Freunde eine Rente aussetzten, wurde ihm allwöchentlich die entsprechende Quote ausgehändigt: so hatte er wenigstens an vier Tagen des Monats einige Stunden lang (wenn es gut ging) Geld in der Tasche. Wenn es jemals eine "Natur in Goethes Sinne gegeben hat, so war es dieser stramme kleine Herr mit dem martialischen Schnurrbart und den großen lichtblauen [S.124] Kinderaugen, wie sie ein solches geniales Kind haben mußte. Suggestibel und autosuggestibel wie ein Kind, das sich ein Stück Holz mit einem Lappen herum zur herrlichsten Puppe, ja, zum lebendigen Baby umdichten kann. Er brauchte keinen besonderen "Trank im Leibe" zu haben, um "Helena in jedem Weibe zu sehen". Jede Bauernmagd wurde ihm, wie seinem großen Gruppen- und Geistesverwandten Don Quichotte, zur Dulcinea von Toboso und jede Schindmähre zur Rosinante, wie jeder Landwein zum Johannisberger.

Mir steht eine Szene mit besonderer Deutlichkeit vor Augen, die mir zeigte, wie sehr er sich beeindrucken ließ und zugleich, wie stürmisch er darauf reagierte. Wir kamen vom Westen her eines Nachts durch die verlängerte Zimmerstraße, die Prinz-Albrecht-Straße, geschlendert. Vor dem Kunstgewerbemuseum sahen wir uns ein seltsames Paar entgegenkommen, einen Riesen und einen Zwerg, Meyerheim, den witzigen Urberliner, den berühmten Genre- und Tiermaler, und - Menzel. Ich flüsterte ihm den Namen zu, da machte er Front wie vor dem Kaiser, riß den Hut herunter und stand lange, den beiden nachschauend. Und dann hauchte er begeistert: "Der ist ja unermeßlich klein."

Seine Träume waren echte Erlebnisse, bei aller Phantastik des Ganzen in jeder Einzelheit so unerhört naturgetreu, daß sich das Bild auch dem Leser mit gleicher Deutlichkeit aufdrängte. Der Behemoth erhebt sich aus dem Morast, und "der schwarze Moorgrund klackert von ihm ab". Ich habe nur ein einziges Mal einen Traum von dieser Lebendigkeit geträumt, und der gehört zu meinen schönsten Reiseabenteuern: lange bevor das erste Flugzeug sich in die Luft erhoben hatte, flog ich in einer "Luftdroschke" von England nach Wien. Ich sah die Downs Südenglands und die Kreideklippen von Dover, so deutlich, wie ich sie kurz zuvor mit wachen Augen gesehen hatte, als ich, ein Gast des Lloyd, durch den Kanal dampfte, um von Cherbourg aus die Pariser Weltausstellung von 1900 zu besuchen. Dann flog ich über die Nordsee und sah Helgoland, wie ich es noch ein Jahr früher an einem stürmischen Abend auf der Dampferfahrt zum Nordkap erblickt hatte: hinter dem schwarzen Klotz breitete die untergehende Sonne einen gewaltigen Strahlenfächer in Gold und Dunkelgrau, und an der Küste brandeten die weißen Wogenkämme. Dann war ich über den Gartenfeldern von Erfurt, und als ich entzückt hinunterschaute, hoben die Blumen sämtlich zarte Flügel und umschwärmten mich, Tausende von [S.125] blauen, roten, gelben Vögeln. So träumte Detlev unzählige Male, und "ihm gab ein Gott, zu sagen, was er träumte".

Wenn er nach Berlin kam, war er regelmäßig mindestens einmal mein Mittagsgast zu allem, was nur Keller und Küche hergeben konnten. Nachher saß er schwelgerisch bei Kaffee und Kognak, eine edle Havanna in der Hand, und meine erste Frau, die einen sehr gut ausgebildeten herzbewegenden Mezzosopran besaß, mußte ihm stundenlang seine Lieblingslieder singen: Schumann, Schubert und Brahms. Dann drückte er mir die Hand und sagte schwärmerisch: "Franz, was haben Sie für eine Frau Gemahlin!" So kennzeichnend für ihn: er war, rein gefühlsmäßig, denn um Politik kümmerte er sich gar nicht, im tiefsten Herzensgrunde ein Mittelding zwischen Anarchist und Sozialist, aber die anerzogene Form seiner Gruppe war ihm wie die eigene Haut, wie er denn auch, trotz aller seiner Rebellengesinnung, kaisertreu war und blieb. "Und ruft mich mein Kaiser in Not und Gefahr", so beginnt der letzte Vers seines wunderbaren Gedichts "Cincinnatus", und einmal schwärmte er mir von der Kaiserin, bitte, von Auguste Viktoria, nicht von Hermine: "Mit ihrem Handschuh am Helm möchte ich mich in den Kampf stürzen." Er war "kein ausgeklügelt Buch, er war ein Mensch mit seinem Widerspruch" und gerade darum so über alle Maßen liebenswert.

Ein Kreis, in dem es ungefähr so aussah wie in Detlev Liliencrons Herz und Hirn, war der einzige wirkliche "Salon", über den Berlin damals noch verfügte: die Sonntagsabende im Hause von Ludwig Pietsch, der ja weder als Maler noch als Schriftsteller Anspruch auf den höchsten Ruhmeskranz erhob, aber einer der lebendigsten Menschen und gewiß einer der hinreißendsten Plauderer war, die es je gab. Sein reiches und buntes Leben als Berichterstatter der Vossischen Zeitung hatte ihn weltläufig und völlig vorurteilsfrei gemacht; er hatte, von der Einweihung des Suezkanals an bis zum letzten Presseball, so ziemlich alles mitgemacht, was seine Zeit an sensationellen Geschehnissen hervorbrachte, hatte alle interessanten und bedeutenden Menschen kennengelernt und wußte zauberhaft von allem zu erzählen. Seine Wohnung im alten Berliner Westen (die übrigens einem Museum glich, denn die Wände waren mit Bildern und Stichen bedeckt wie etwa im Louvre) füllte sich am Sonntag mit der buntesten Menge, die sich erdenken läßt: Christen und Juden, Fürsten und Sozialisten, Offiziere im Waffenrock und Bohemiens in manchmal sehr salopper Kleidung, das alles verkehrte auf [S.126] das zwangloseste miteinander, saß bei einfachem Butterbrot und Bier freundnachbarlich an einem Tische, machte gemeinsam den schönen Frauen und Mädchen den Hof, die alle in den entzückenden alten Herrn verliebt waren, und nahm voneinander neugierig Kenntnis. Ich entsinne mich, einmal in einer Ecke mit dem Bruder der Kaiserin, Herzog Ernst Günther, und dem Dichteranarchisten Mackay geplaudert zu haben. Zuweilen wurde Musik gemacht; hier hörte ich zum ersten Male die dunkle wunderbare Cellostimme von Frau Magda Lossen, die jetzt als Gattin meines verehrten Freundes Robert Friedländer-Prechtl bei Starnberg haust; zuweilen mußte auch meine Frau singen, und selten einmal ließ sich Heinrich Grünfeld dazu bringen, sein Cello zu streicheln. Man hört immer gern von seinen berühmten Scherzen, und so will ich einen selbsterlebten zum besten geben. Als wir uns einmal im Schnellzuge Berlin-Wien trafen, und es sich herausstellte, daß wir das gleiche Schlafabteil hatten, fragte ich einigermaßen besorgt: "Sagen Sie mal, Grünfeld, schnarchen Sie?" Er antwortete kühl: "Na ob! Ich schnarche manchmal so stark, daß ich selbst davon aufwache." "Was machen Sie dann?" "Sehr einfach: ich lege mich ins Nebenzimmer."

Kaum weniger gemischt war der sogenannte "Ethische Klub", dem Julius Bab sein feines Büchlein über die Berliner Boheme gewidmet hat. Kein Mensch weiß, wie die Gesellschaft zu diesem Namen kam, denn von Ethik war in ihren Debatten kaum je die Rede. Hier stand alles unter dem Zeichen nicht der künstlerischen, sondern der großen politischen, sozialen und kulturellen Probleme. Eine merkwürdige Gruppe: nicht im mindesten ein "Verein"; es gab weder Statuten noch Vorstand, noch Beiträge, noch sonst etwas; der junge kränkliche, sehr taktvolle Rechtsanwalt Mühsam leitete die Debatte und verstand es, immer rechtzeitig Öl auf die Wogen zu gießen, wenn sie gar zu hoch aufschäumten. Ab und zu wurde man gebeten, fünfzig Pfennig für die Portokosten beizusteuern, denn die regelmäßigeren Besucher der Abende wurden von dem Erörterungsgegenstande der nächsten Tagung benachrichtigt. Dennoch hielt die Gruppe jahrelang erstaunlich fest zusammen, bis sie fast plötzlich aufflog, und zwar kennzeichnenderweise nach dem ersten, sozusagen offiziellen Auftreten in der Öffentlichkeit, nach einem Feste, wo die hervorragendsten Schauspieler Otto Erich Hartlebens köstliche Ibsen-Parodie "Der Frosch" spielten, wo Schleich sang und sein Cello weinen ließ, und wo auch meine bescheidene kleine [S.127] satirische Dichtung "Die Frösche" vorgetragen wurde: die geschichtsphilosophische Vision eines verkaterten Studenten. Es ging wohl den meisten wie mir: wir hatten aus dieser Blume allen Seim gesogen, den sie uns geben konnte; jetzt flog jeder heim zum eigenen Stock, um Honig und Wachs zu bereiten.

Merkwürdig, was diese Diskussionsabende für eine Anziehungskraft hatten. Kaum einer der jungen Männer, die in der Folgezeit zu Führern der geistigen Bewegung wurden, blieb ihnen fern. Unser ganzer engster Kreis war regelmäßig anwesend; wir lernten dort Heinrich und Julius Hart kennen, das wunderlich-herzige Brüderpaar, beide von der reinsten sozialen Gesinnung beseelt; Wolzogen hat in seinem lustigen Schauspiel "Das Lumpengesindel" mit zärtlichem Spott dargestellt, wie diese Gesinnung der echten brüderlichen Menschenliebe so oft gemißbraucht wurde. Namentlich Heinrich Hart ist mir bis an sein allzu frühes Ende ein Freund geblieben. Sehr regelmäßig erschien auch Otto Erich Hartleben, dessen rebellisches Drama "Hanna Jagert" damals Berlin ebenso erregte, wie es durch seine satirischen Meisterstückchen vom "Gastfreien Pastor" und vom "Abgerissenen Knopf" ergötzt wurde. Als der größte Komiker des damaligen Berlin, Georg Engels, das zuletzt genannte Stückchen in der Singakademie vorlas, durchbrausten Lachstürme den Saal, wie sie nicht oft in der nüchternen Atmosphäre von Spreeathen erklungen sein werden. Ich darf hier einschieben, daß ich die Ehre hatte, eine Zeitlang Otto Erichs Hausarzt zu sein; wenn ich mittags zu ihm kam (vorher war er nicht sichtbar, denn er war einer der "Ehrenpräsidenten des Vereins der Bettschoner"), fand ich ihn gewöhnlich im Bett, aber bei der Arbeit; er schrieb mit seiner wunderfeinen Handschrift, ohne jemals zu korrigieren, nieder, was er im Kopfe gedichtet hatte. Einmal stieg ich wieder die Treppen im linken Seitenflügel des Hauses Karlstraße 38 empor, um ihn zu besuchen, da schnurrte etwas die Treppe herunter, und vor mir stand, unvergeßlich hat es sich meinem inneren Auge eingegraben, ein bildschönes, blühendes, blutjunges Frauenwesen, auf deren rechter Schulter ein riesenhafter gelber Angorakater krummbuckelte und mich aus grünen Augen anfunkelte: "Wollen Sie zu Herrn Hartleben?" Ich stellte mich in meiner Eigenschaft als Äskulap vor und erhielt die Auskunft, der Freund sei verreist und habe ihr und ihrem Gatten die Wohnung zur Verfügung gestellt. "Ich bin Frau Bierbaum." Wenn ich das noch heute berühmte Lied höre: "Ach, mein [S.128] Schatz ist fortgegangen, larida", steht sie wieder vor mir auf der halbdunklen Treppe; sie war es, über deren Untreue sich Bierbaum mit jenem Liedchen tröstete - und grausam rächte. Durch Hartleben lernte ich flüchtig auch Georg Engels kennen und war ein- oder zweimal im Kreise der "Stammesbrüder" beim Pilsener Bier. Mit ihnen habe ich auch die zwerchfellerschütternde Szene mitgemacht, wo Engels im "Böhmischen Bauerntheater", das ein Spaßvogel nach Berlin importiert hatte, mitten in der Aufführung eines blutrünstigen Ritterstücks sich erhob, dem "hochverehrten Herrn Direktor, wenn ich so frei sein darf, hochverehrten Herrn Kollegen" (Lumpe hieß er auch noch) eine Rede hielt und einen Schild aus Blech überreichte: "Sie kämpfen ja alle Abend." Bei diesen Worten brach ihm die Stimme, das Publikum heulte, aber - Lumpe erwiderte so treffend, daß der Sieg in diesem merkwürdigen Zweikampfe mir etwas zweifelhaft war.

Um zum Ethischen Klub zurückzukehren, so waren seine regelmäßigen Mitglieder zwei Philosophen, Keibel und Rickert, (ich weiß nicht, ob er mit dem berühmten Professor der Logik identisch ist), ferner Felix Holländer, der Dichter und Dramatiker, Türck, einer der Begründer der Freien Volksbühne, Wilhelm Bölsche, der Häckelianer, Bruno Wille, der Dichter und Philosoph; zuweilen erschienen Gerhart Hauptmann und sein Schwager Moritz Heimann, ein- oder zweimal auch der Afrikareisende Peters, sehr blond, sehr preußisch, sehr reserviert.

Von hier spannen sich für uns die Fäden zu dem Kreise der Friedrichshagener, dem Richard Dehmel eine Zeitlang ganz angehörte. Außer Wille, Bölsche und den beiden Hart gehörten dazu, der Dichter und Musiker Przybyszewski, der hinreißend Chopin zu spielen wußte; seine schöne schlanke Frau, eine Norwegerin, war eine Zierde des Kreises. Er hatte später seine Zusammenkünfte im "Schwarzen Ferkel" in der Neuen Wilhelmstraße nahe den Linden; die Gaststätte hatte ihren Namen von einem echten orientalischen Bocksschlauch, der über der Türe hing. Hier thronte in feierlicher und düsterer Majestät Strindberg während seines Berliner Aufenthalts, und hier verkehrte auch der Maler Munch, das rote Tuch der meisten Berliner Kunst- "Sachverständigen" jener Zeit. Dorthin bin ich nur selten gekommen; ich war schon zu tief in meiner Arbeit, und mir war das Trinken dort zu scharf.

[S.129] Bruno Wille war der erste entschiedene Sozialist, den ich kennenlernte. An ihn wandte ich mich mit der Bitte, mir einige Bücher zu empfehlen, um mich in diese mir gänzlich neue Gedankenwelt einzuführen; in meinem Elternhause, wo für alle Bewegungen der Kultur die offenste Empfänglichkeit bestand, hatte ich nie etwas davon vernommen. Vater war als alter Achtundvierziger entschlossen liberal und als Festbesolderer allen wirtschaftlichen Problemen allzu fern. Wille, aus dessen vornehmer Haltung und schöner Gesinnung ich darauf schloß, daß doch schließlich hinter der Bewegung mehr stecken müsse als bloß ein "Sklavenaufstand", empfahl mir, soweit ich mich entsinne, August Bebels "Die Frau" als erste Einführung. Damit war mir das Tor aufgestoßen zu einer neuen Welt, die fortan meine Welt sein sollte.

[S.130]

IRRWEGE

Seit meiner Niederlassung als Arzt fühlte ich mich im tiefsten Grunde unbefriedigt. Nicht, daß meine Tätigkeit mir zuwider gewesen wäre! Ich freute mich, doch vielfach helfen und noch mehr, trösten und seelisch heben zu können. Meine Patienten hingen an mir und glaubten an mich, und ich hoffe, kein schlechter und kein inhumaner Arzt gewesen zu sein. Solange die Praxis regelmäßig und kräftig wuchs, überwog auch wohl zumeist die Freude am Gelingen und, was ich durchaus nicht zu leugnen beabsichtige, auch die Freude daran, daß ich zum ersten Male in meinem Leben nicht mit dem Pfennig zu rechnen brauchte. Es schreckte mich auch nicht ab, daß ich wie jeder andere viel Undank erlebte. Aber meine besten Fähigkeiten lagen doch brach; ein junger Praktiker sieht selten Fälle, in denen mehr als handwerkliches Können erfordert ist, zu denken gab es nicht viel. All das wurde ärger und ärger, als nach meiner Heirat und dem damit verbundenen Umzug die Praxis zurückging und sich nicht wieder heben wollte; der materielle Druck, der daraus folgte, war viel schwerer zu ertragen als der fröhliche "Dalles" meiner früheren Zeiten; denn ich hatte viel größere Verpflichtungen.

Ich tastete nach Auswegen, zuerst auf dem Gebiete meines Berufes. Ich füllte Lücken meines Wissens und Könnens aus, besuchte Kurse zur Ausbildung in mehreren Spezialitäten, für die während des Studiums kein Raum gewesen war, und landete schließlich bei Professor Hermann Krause, unter dessen Leitung ich mich in mehrjähriger Assistententätigkeit zu einem geschickten Facharzt für Hals- und Nasenkrankheiten ausbildete, tauschte mit Jansen, dem später zu höchstem Ruhm und fast beispielloser Praxis gelangten Assistenten an der Lucaeschen Ohrenklinik, Belehrung, und ging 1892 auf mehrere Wochen nach Wien, um bei den berühmten Meistern meiner Sonderfächer, Politzer, Schrötter und Schnitzler, mich weiterzubilden. Mit Schnitzlers beiden Söhnen, von denen der eine, Arthur, damals ein recht verdrossener Assistent seines Vaters war, um später sich als einer der feinsten Dichter der Zeit zu entpuppen, und vor allen Dingen mit ihrem Schwager Markus Hajek, der heute Direktor der laryngologischen Abteilung am Allgemeinen Krankenhause und einer der ersten Fachärzte der Welt ist, hat mich seitdem die herzlichste [S.131] Freundschaft verbunden. Hajeks große Kunst hat mich vor einigen Jahren von einer sehr unangenehmen, meine Gesundheit ernstlich bedrohenden Entzündung des Siebbeins erlöst. Um mir auch die feste Grundlage für mein Sonderfach zu verschaffen, arbeitete ich lange unter meinem Verwandten Professor Benda am Physiologischen Institut in Berlin am Mikroskop. Aber all das gewährte mir keine Befriedigung. Ich habe diese Stimmung später als dasjenige zu erkennen gelernt, was sie war: als eine innere Schwüle, als den Drang ungebrauchter Kräfte, die nach Entladung verlangten und sich dann auch regelmäßig im Gewitter eines Werkes entluden. Ich gehe jedesmal, bevor ich an ein neues Werk herantrete, in einer Art von schwarzem Nebel umher, nicht eigentlich traurig, nicht einmal verstimmt, aber freudlos, stumpf, sozusagen tot. Ein Werk muß in mir immer erst reifen, und ich muß jedesmal erst eine gewisse Angst überwinden, ehe ich mich wirklich daran mache: weiß ich doch aus Erfahrung, daß es mich nicht eher wieder zur Ruhe kommen läßt, als bis der letzte Federstrich getan ist; daß ich, einmal "in das Getriebe hineingeraten", nicht Ruhe noch Rast finde und bis zum Zusammenbruch meiner nicht unbeträchtlichen Kraft schaffen muß. Der dumpfe Zustand vorher ist eine Schwangerschaft, die Schöpfung selbst einer Geburt wohl zu vergleichen, und meine erste Frau, die des Witzes nicht entbehrte, hatte nicht unrecht, wenn sie einmal halb im Scherz und halb im bittern Ernst ausrief: "O Gott, warum hast du mich mit einem so fruchtbaren Manne gestraft?"

Irgendwo mußte sich die zurückgedämmte Spannung Luft machen. Und es ist weiter kein Wunder, daß ich, der ich fast nur mit Künstlern verkehrte, in jener Zeit der fast tollen Begeisterung für die in voller Umwälzung begriffene Kunst, mir einbildete, auch ich sei zum Dichter bestimmt. Ich besaß eine gewisse Fähigkeit zur gebundenen Rede, hatte viel gelesen, und mein ästhetischer Geschmack war damals noch so wenig entwickelt, daß ich meine Nachempfindelei für originär und die ganz und gar landläufige, reichlich abgeschliffene und abgegriffene Form meiner "Dichtungen" für eigenwüchsig ansehen konnte. So veröffentlichte ich denn 1888, oder vielmehr so ließ ich denn drucken (denn an die "Öffentlichkeit" ist das Produkt zum Glück nicht gelangt) eine Dichtung in Terzinen, unter dem Titel: "Ein Weg zur Liebe": der Mantel der duldenden Liebe sei für ewig darübergebreitet. Es war der Grundidee nach so etwas vom "Faust" darin: man wird sich vorstellen können, was der Dreiundzwanzigjährige, [S.132] völlig Weltunerfahrene, der echt dichterischen Gestaltung Unfähige, daraus gemacht hat! Wenn ich es heute unter Kopf schütteln einmal wieder ansehe, so interessiert mich nur, daß ich schon damals, mir selbst unbewußt, mich eines sozialen Gewissens erfreute, das sich allerdings recht katzenjämmerlich ausdrückte.

Es kam die Zeit, wo auf die Anregung meines hochgeschätzten Freundes Paul Block, des Gatten der ausgezeichneten Schauspielerin Rosa Bertens, Siegmund Lautenburg, der eine feine Nase für die literarische Konjunktur besaß, sich der jungen Dramatik anzunehmen begann: hatte doch die "Freie Bühne" mit Johannes Schlaf, Arno Holz und vor allem mit Gerhart Hauptmann das Publikum gewonnen. Das Residenztheater, das bis dahin kaum anderes als sehr saftige französische Possen gebracht hatte, veranstaltete Matineen und hatte mit dem ersten Versuche, mit Halbes "Jugend", gleich einen großen Erfolg, der, nebenbei gesagt, Halbes einziger großer Erfolg geblieben ist. Ich wohnte kurz vor der Aufführung meines eigenen Schauspiels, von dem ich sogleich zu erzählen haben werde, der Uraufführung seiner "Amerikafahrer" bei: niemals habe ich einen solchen Theaterskandal erlebt.

Damals hatte Björnstjerne Björnson, den ich übrigens sehr liebe und hoch über Ibsen stelle, ein stark moralinsaures Drama spielen lassen: "Der Handschuh". Die heutige Jugend würde völlig verständnislos davorstehen. Soviel ich höre und lese, hat sie ja aufgehört, von der Frau bzw. den jungen Mädchen die "Reinheit" zu fordern. So weit war die Emanzipation der Frau damals noch nicht gediehen, wohl aber doch schon weit genug, daß sie in einzelnen Exemplaren die gleiche Reinheit, wie von sich selbst, auch von dem Manne verlangte. Zu meinem Kreise gehörten damals einige Verfechterinnen der Frauenbewegung, z. B. Hanna Bieber-Böhm, die Begründerin des Vereins "Jugendschutz", und das schwache Stück wurde der Gegenstand heftiger Erörterung. Schließlich setzte ich mich hin und schrieb ein Gegenstück, das ursprünglich gleichfalls den Titel "Der Handschuh" tragen sollte, aber dann in "Föhn" umgetauft wurde; wie dieser heiße Wind von Süden den Schnee der Alpen zum Schmelzen bringt und die Flüsse in zerstörenden Überschwemmungen über ihre Ufer treten läßt, so, das sollte schon der Titel andeuten, fährt der heiße Wind der Leidenschaft auch über den starken Mann dahin und bringt seine festesten Grundsätze zum Schmelzen. Wäre der Stoff von einem reifen Manne voller Humor [S.133] behandelt worden, so hätte es ein vergnügliches Lustspiel werden können. Aber mir fehlte sowohl die Reife wie auch der rechte Humor, und so wurde es ein schlechtes Schauspiel. Ich will gleich vorausschicken, daß die Kritik der Berliner Zeitungen außerordentlich vielfältig ausfiel; ich erhielt ebenso viele Einser wie Fünfer; wäre all das wahr gewesen, was Günstiges gedruckt wurde, so wäre Shakespeare im Vergleich zu mir ein armer Hund gewesen; wenn umgekehrt alle mir vorgeworfenen Schwächen vorhanden gewesen wären, so wäre es noch eine Gnade gewesen, wenn man mich nur, um den alten Kulissenausdruck anzuwenden, "mit nassen Lappen erschlagen hätte". Aber ich selbst war vollkommen davon durchdrungen, daß mir ungefähr eine Fünf gebührte.

Noch bei den Proben, denen ich selbstverständlich pflichtgetreu beiwohnte, war mir nichts aufgegangen. Als ich aber bei der Aufführung die Wirkung auf das Publikum beobachtete, erkannte ich mit unerbittlicher Mitleidlosigkeit, daß ich zum dramatischen Dichter verdorben war. Ich hatte ein ernstes Stück schreiben wollen, das ich nach berühmten Mustern durch einige heitere Gestalten und Szenen zu würzen beabsichtigte. Und es zeigte sich, daß das Publikum sich über die heiteren Szenen so glänzend amüsierte, daß es mir die ernsten verzieh. Paul Schlenther von der "Voss", damals neben Oskar Blumenthal und Paul Lindau der einflußreichste Theaterkritiker Berlins, der mich meiner "Wanderbriefe" halber liebte, versuchte vergeblich, mich zur Weiterarbeit auf diesem Gebiete zu bewegen. Er sah meine Schwächen deutlich genug und verschwieg sie mir nicht, aber er glaubte doch, daß ich ein recht erfolgreicher Dramenbaumeister werden könnte. Vielleicht hatte er recht; ich hatte ein gewisses architektonisches Geschick im Aufbau der Szenen und einigen behenden Witz bewiesen, und meine Personen sprachen kein Theaterdeutsch, sondern ein lebendiges Idiom. Vielleicht hätte ich wirklich so eine Art von Ohnet werden können: aber das war kein Ziel, das meinem innersten Wollen genügt hätte. Alles oder nichts! Da ich kein wirklicher Dichter sein konnte, so wendete ich der Kunst überhaupt entschlossen den Rücken. Ich habe nie wieder eine Szene geschrieben.

Lautenburg oder vielmehr Block hatten übrigens für das Stück getan, was nur möglich war. Die Rollen waren durchweg mit ausgezeichneten Kräften besetzt. Jarno spielte den Mann, bei dem der Föhn keine eisigen Grundsätze zu schmelzen vorfindet, mein hochgeliebter [S.134] geliebter Rittner den Helden, dessen hoffnungsvolle Saatfelder die Überschwemmung vernichtet, der prächtige Werner einen humorvollen alten Herrn, und niemand Geringeres als Irene Triesch, damals ein kleines mageres Theatermädchen mit unerhörten schwarzen Augen, betrat in einer Nebenrolle zum ersten Male vor der Öffentlichkeit die Bretter,

Lautenburg verlangte von mir, ich solle den Schluß ändern: happy end! Ich lehnte ab und war bei alldem recht froh, daß das Stück nicht wieder aufgenommen wurde. Der Mißerfolg, und zwar der innerliche weit mehr als der gar nicht so arge äußerliche, hätte mich wohl viel schwerer getroffen, wenn sich mir nicht gerade damals das Tor geöffnet hätte, das in mein "gelobtes Land" führte.

Ich hatte mich schon seit einiger Zeit mit nationalökonomischen Dingen oberflächlich befaßt, in dem Wunsche, herauszufinden, was in dem damals jugendfrisch aufwogenden Sozialismus von Wahrheit stecke. Meine Freunde hatten mir volkstümliche Werke aus dem Marxistischen Lager in die Hand gegeben: ich war, durch die Erfahrungen meiner ärztlichen Praxis längst wohl vorbereitet, mit dem Ziele des Strebens sofort einverstanden, hielt aber den vorgeschlagenen Weg zum Ziele für verkehrt, den Kommunismus auch in seiner gemilderten Gestalt als Kollektivismus, wie Marx ihn vertritt. Rationelle Gründe für diese Haltung kann ich damals noch nicht gehabt haben; erst ein volles Jahrzehnt später habe ich in meinem Buche: "Das Grundgesetz der Marxschen Gesellschaftslehre" die bisher unwiderlegte Kritik der Hauptsätze des großen Meisters drucken lassen können, den ich auch als einen meiner großen Meister aufs höchste verehre. Aber man kann sich zu einem Meister zwiefach verhalten: als Jünger und als Schüler. Der erste betrachtet jedes Wort als heilig, der zweite glaubt dem Meister am besten zu dienen, wenn er sein Werk von den notwendigerweise immer vorhandenen Schlacken befreit und weiterbildet. Meine jungen Freunde werden mir bezeugen, daß ich für mich von ihnen niemals Jüngerschaft, sondern immer nur Schülerschaft gefordert habe; und so habe ich mich gegen alle meine Meister selbst verhalten.

Was mich damals am marxistischen Sozialismus abstieß, kann also nichts anderes gewesen sein, als die aus meiner Gruppe mitgebrachte Summe von Vorurteilen, meine "persönliche Gleichung". Ich war schließlich ein Bürgersohn, und dem Bürger steht die Freiheit höher als dem Arbeiter, den der Schuh ganz woanders drückt: [S.135] im Wirtschaftlichen, und der mit ganz anderer Stimmung auf die krassen Ungleichheiten des Einkommens und Vermögens blicken muß als der, wenn vielleicht auch knapp, so doch ausreichend versorgte Bürger. Man kann verstehen, daß ein junger Mensch, wie ich, der sich soeben erst mit schwerem Herzen in das Joch eines regelmäßigen Berufs gefügt hatte, einen wahren Abscheu vor der Staatsallmacht haben mußte, die im vollendet gedachten Marxschen Zukunftsstaate ihn sozusagen mit Haut und Haar verschlingen würde. Meine Erfahrungen als Soldat konnten es mir auch nicht gerade lockend erscheinen lassen, als Soldat der Arbeit, sei es sogar als Feldwebel oder Offizier, in die Uniform gesteckt zu werden. Ich wollte die Gleichheit mit meiner ganzen Seele, weil ich genug von der Welt gesehen hatte, um zu wissen, daß fast alle unsre Übel aus der Ungleichheit stammen. Ich dachte wie Lessing in seinen Gesprächen mit Freimaurern: "Und nun überlege man, welche unserer Uebel aus dieser Scheidung der Stände (heute würden wir sagen: der Klassen) nicht entspringen." Aber ich sah mit gleicher Klarheit, daß die Unfreiheit ebenso viele und ebenso schwere Leiden und Übel gebären müsse; wer Augen hat zu sehen, den wird der Bolschewismus Rußlands darüber belehrt haben. Es ist mir ein trauriger Triumph, daß ich in meinem Buche von 1919, das ich beim Manometerstande 99 schwerkrank herauswarf, um womöglich die Explosion noch zu verhüten, "Kapitalismus, Kommunismus, wissenschaftlicher Sozialismus", die dortige Entwicklung vorausgesagt habe. Und ich war vorläufig nicht gesonnen zu verzichten; ich hielt es noch nicht für bewiesen, daß die Menschheit in alle Ewigkeit nur die Wahl zwischen den beiden Übeln haben sollte, die beide tödlich sind, der Unfreiheit und der Ungleichheit.

[S.136]

LIBERALER SOZIALISMUS

Und nun fügte es mein gutes Geschick, daß ich gerade in dem kritischen Augenblicke, wo wieder einmal ein Tor hinter mir zugefallen war, und ich nach einem neuen Ziel und Lebensinhalt Umschau hielt, mit dem liberalen Sozialismus in Berührung kam, der der Menschheit die Qual der Wahl zwischen beiden tödlichen Übeln zu ersparen, der ihr die beiden höchsten Güter, die Gleichheit und die Freiheit, gemeinsam zu bringen verspricht. Diese welterlösende Lehre, deren Verfechter ich seitdem bin und bis zu meinem Tode bleiben werde, zweigt zur gleichen Zeit von dem sozialen Liberalismus des Vaters der Nationalökonomie, Adam Smith, ab, wie die sogenannte "bürgerliche" Ökonomik, von der wieder der Marxismus ein Abkömmling ist. Wie hier David Ricardo, so steht dort der Graf Saint-Simon, einer der größten Genien der Neuzeit, der Schöpfer des modernen Sozialismus und zugleich der modernen Soziologie, bestimmend am Ursprung der Bewegung. Es sind zwei Ströme, die von dem gleichen Hochgipfel aus nach verschiedenen Seiten hin sich ihr Bett gegraben haben, sich oft einander näherten, aber erst in meinem Werke endlich in ein gemeinsames Bett geflossen sind: Ricardos Methode und Saint-Simons Geschichtsphilosophie.

Wenige, auch unter den sogenannten Fachmännern, wußten von jeher und wissen auch heute noch von der Existenz dieser zweiten großen wissenschaftlichen Schule des Sozialismus. Die Sonne des Marxismus hat alle dem gleichen Hochziel zustrebenden Gedanken so allmächtig überstrahlt, daß sie dem Bewußtsein der Zeitgenossen entschwunden sind. Wer weiß denn heute noch, daß es von jeher Sozialisten von Rang gegeben hat, die den allmächtigen Zwangsstaat verwarfen? Sozialismus und Kommunismus sind nicht das gleiche; zwar ist jeder Kommunismus auch Sozialismus, aber beileibe nicht jeder Sozialismus Kommunismus. Sozialismus, das bedeutet ein Ziel; Kommunismus aber bedeutet einen angeblichen Weg zu diesem Ziele, den Weg, den seine Vertreter für den einzig möglichen halten und deshalb zu gehen entschlossen sind, gehe darüber auch eine Welt in Trümmer.

Die großen Namen, die die Etappen des liberalen Sozialismus bezeichnen, sind Bazard und Enfantin, Saint-Simons unmittelbare Schüler, dann, weitaus der größte von allen, Proudhon, der Amerikaner [S.137] Carey, und, wieder von überragender Bedeutung, der Deutsche Eugen Dühring. Stark beeinflußt durch Saint-Simon, und zwar durch Vermittlung seines Schülers Auguste Comte, war in seiner letzten Periode der Kirchenvater der nachklassischen bürgerlichen Theorie, John Stuart Mill, der zum Entsetzen seiner Schule in seinen alten Tagen fast schon den Übergang zum Sozialismus vollzog. Von Mill einerseits und Dühring andererseits angeregt, bildet das letzte Glied der Reihe der Ungar Theodor Hertzka. Und durch Hertzka wurde ich dem liberalen Sozialismus gewonnen.

"Liberaler" - "Sozialismus"?! Wer das hört, denkt in der Regel an den berühmten Bastard von Karpfen und Kaninchen. Kein Geringerer als Goethe hat ausgesprochen: "Wer Freiheit und Gleichheit zusammen verspricht, ist ein Phantast oder Scharlatan." Der Liberalismus, der die Freiheit, und der Sozialismus, der die Gleichheit geben will, wie können die in einem Atem genannt werden?! Nun, ich habe es auf den Phantasten oder Scharlatan hin gewagt. Die Welt wäre für ewig eine Hölle, wenn Goethe recht hätte: denn die Freiheit ohne Gleichheit führt gerade so sicher zur Völkervernichtung wie die Gleichheit ohne Freiheit. Aber zum Glück hatte Goethe unrecht: Gleichheit und Freiheit sind nicht nur vereinbar, sondern sie können sogar nur gemeinsam errungen und besessen werden. Meine Lösung beruht auf den folgenden Grundlagen:

Alle großen Autoritäten sowohl der bürgerlichen wie der sozialistischen Richtung sind in einem Punkt einig: Wo jedermann Zugang zu freiem Boden hat, da ist Ungleichheit unmöglich. Sie kann erst entstehen, wenn jene Bedingung nicht mehr gegeben ist. Rousseau sagt: "Nicht eher kann Ungleichheit entstehen, als wenn alle Hufen, sich gegenseitig berührend, das ganze Land besetzen." Turgot: "Solange noch jeder arbeitsame Mann ein Stück eigenen Bodens in Besitz nehmen kann, wird er nicht gesonnen sein, für andere zu arbeiten." Adam Smith hat klipp und klar zwischen der Zeit vor und der nach der "Vollbesetzung des Bodens" unterschieden; vorher kann es keine vermögenslosen Arbeiter und daher kein Großeigentum, weder an Grund und Boden noch an Kapital geben; nachher aber scheiden sich die Klassen, Großeigentum entsteht und fordert seinen Anteil am Ertrage der Arbeit kraft seiner Monopolstellung, während bis dahin der ganze Ertrag dem Arbeiter selbst zufließt. Und, um noch den letzten großen Theoretiker zu nennen, so hat auch Karl Marx im Schlußkapitel des ersten Bandes seines "Kapital" ganz [S.138] den gleichen Gedanken ausgesprochen. Er erzählt die rührende Geschichte eines vornehmen Engländers mit Namen Peel, der mehrere tausend Personen der englischen arbeitenden Klasse und eine ungeheure Menge von Kapitalgütern aller Art nach Australien brachte, um ein von ihm erworbenes riesiges Landgut am Schwanenflusse in Wert zu setzen. Kaum angekommen, verliefen sich die Arbeiter sofort, nahmen sich jenseits der Grenzen des Peelschen Besitztums selbst Land und arbeiteten für sich, während dem unglückseligen Lord nicht ein einziger Diener zurückblieb, um ihm Wasser zu holen oder das Bett zu machen. "In den Kolonien wird der Lohnarbeiter von heute morgen unabhängiger, selbstwirtschaftender Bauer oder Handwerker. Er verschwindet vom Arbeitsmarkt, aber nicht ins Arbeitshaus. Wo jeder Ansiedler ein Stück Boden in sein privates Eigentum und Produktionsmittel verwandeln kann, ohne den späteren Pionier an der gleichen Operation zu verhindern, kann es keinen Kapitalismus geben." So sagt der Begründer des modernen Sozialismus, leider im Schlußkapitel seines großen Werkes, in einer Art von Anhang, einem "Satyrspiel nach der Tragödie". Wenn er umgekehrt diesen unzweifelhaften Zusammenhang im ersten Kapitel und als Grundlage des ganzen Aufbaus dargestellt hätte, hätte ich mir eine andere Lebensaufgabe suchen müssen.

Niemand von diesen großen Denkern hat es für erforderlich gehalten, den Zustand einer hochentwickelten arbeitsteiligen Volkswirtschaft im einzelnen auszumalen, den sie haben würde, wenn sie bis zur Höhe ihrer vollen Entwicklung über freies Land verfügte. Adam Smith schreibt dazu: "Es würde zwecklos sein, die Wirkungen, die jener erste Zustand vor Vollbesetzung des Bodens auf den Arbeitslohn gehabt haben würde, noch weiter auszuführen."

Gerade das hat nun Theodor Hertzka in seinem Roman "Freiland" getan, und das ist sein größter Verdienst, wobei freilich gesagt werden muß, daß fast die gleiche Konstruktion vor ihm bereits Eugen Düring ausgeführt hatte, und zwar in der zweiten Auflage seines berühmten "Kursus der Nationalökonomie". Aus der dritten hat er sie dann leider wieder ausgemerzt, und zwar zugunsten einer "Gewerkschaftsutopie". Aber Hertzka blieb dem Gedanken treu und formte ihn in Gestalt eines amüsanten Abenteuerromans so aus, daß er sich damit ein größeres Publikum erwarb, leider aber auch den an sich durchaus gesunden Grundgedanken heillos kompromittierte.

Er gründete den Staat oder besser die Gesellschaft seiner Sehnsucht in einem fast unendlich großen, sehr fruchtbaren, ja, in seiner [S.139] Phantasie geradezu paradiesischen Gebiete in Zentralafrika, an den Abhängen und in den Tälern des gewaltigen Gebirgsstocks des Kenia. Hier ließ er die Bedingung der Terra libera für jeden erfüllt sein: das Land gehört der Gesellschaft, wird aber Genossenschaften zur freien Verfügung gestellt mit der einzigen Verpflichtung, jeden sich Neumeldenden aufzunehmen und an der Arbeit und am Gewinn entsprechend seiner Leistung zu beteiligen. Unter dieser Voraussetzung mußte sich hier eine Gesellschaft entwickeln, in der es wohl viele handarbeitende Menschen, aber keine "Arbeiter" im sozialen Sinne gibt, keine "freien Arbeiter", wie Marx sie nennt. Mit anderen Worten: hier erhält jeder einzelne, Arbeiter wie Leiter, den vollen Gegenwert seiner Arbeitsleistung entsprechend dieser Leistung; es gibt keinerlei "Ausbeutung" durch Großeigentümer, keinen Ansatz eines Monopols, gibt weder Kapitalprofit noch Grundrente.

Hertzka hatte hier durchaus nichts anderes getan, als mit großem Geist und Geschick die letzten Konsequenzen aus der liberalen Lehre von der Konkurrenz zu ziehen, wie die Klassiker der Nationalökonomie sie begründet hatten. Aber die Konstruktion litt an einem unverbesserlichen Fehler: in praktischer Beziehung war sie purer "Utopismus". Die Vorstellung, einen Staat oder eine staatsähnliche Gesellschaft auf herrenlosem Grund und Boden weit jenseits der Grenze der Kultur, auf "Niemandsland", aus dem Boden zu stampfen, ist an sich schon überaus verdächtig. Die Kultur macht ebensowenig Sprünge wie die Natur. Aber ganz abgesehen von dieser allgemeinen Erwägung: Hertzka sah, wie alle Utopisten, wohl das Ziel, aber nicht den Weg zum Ziele. Wäre es möglich gewesen, auch nur einige tausend Menschen mit den nötigen einfacheren Werkzeugen und Waffen an den Kenia zu befördern, so hätte wohl die Entwicklung, wenn auch viel langsamer, als Hertzka hoffte, sich vollziehen können. Aber zu diesem Anfang hätten Geldmittel zur Verfügung stehen müssen, die nur durch einen höchst unwahrscheinlichen Glücksfall, nur durch die Bekehrung eines Geldkönigs, beschafft werden konnten. Platon wartete sein Leben lang auf einen Prinzen, Fourier ebenfalls sein Leben lang auf einen Millionär, um ihre Idealgesellschaften zu begründen. Hertzka aber wurde von der Leidenschaft seiner Anhänger, vielleicht auch von seiner eigenen hingerissen und wagte den Versuch mit einigen zehntausend Mark, die er zusammengebracht hatte. Die Expedition wurde von den Engländern nicht ins Innere gelassen, und das war noch ein Glück für sie; wahrscheinlich [S.140] hätten die Masai sie hingemetzelt. Jedenfalls aber hätte dann Hertzka nicht die bequeme Ausrede gehabt, daß ohne den Widerstand des perfiden Albion sein großer Plan sich verwirklicht hätte. Aber er war unausführbar. Es hätten Millionen und Millionen dazu gehört, um auch nur die notwendigen Straßen für den Massennachschub anzulegen, ohne den der ganze Plan zu Wasser werden mußte.

Das waren die Argumente, mit denen ich in die Bewegung eingriff, in einem kleinen Schriftchen unter dem Titel "Freiland in Deutschland" (1894). Der zunächst einzige Erfolg war der, daß ich die, durch den afrikanischen Mißerfolg schon stark erschütterte und gelichtete Anhängerschaft Hertzkas auseinandersprengte. Die Mehrzahl schloß sich mir an. Auch Hertzka war wohl überzeugt: denn er hat die praktische Verwirklichung nicht weiter betrieben. Als ich ihn viele Jahre später, ich war inzwischen ordentlicher Professor in Frankfurt a. M. geworden, und er lebte als überaus frischer und beweglicher alter Mann in Wiesbaden, persönlich kennenlernte, hat er ein Gespräch über diesen Gegenstand vermieden, hat mich aber sonst mit höchster Achtung und Freundschaft beehrt. Es war unser einziges Zusammentreffen; meinen anderen Meister des liberalen Sozialismus, Eugen Dühring, habe ich niemals persönlich kennengelernt; er lebte bis 1919 als steinalter, völlig erblindeter Mann in Nowawes bei Potsdam, ein menschenscheuer Sonderling, der so gut wie niemanden vor sich ließ. Mein lieber Freund Dr. Hermann Schwarzwald, auch einer seiner Anhänger, mehr ein Jünger als ein Schüler, einer der feinsten Köpfe der zeitgenössischen Nationalökonomie, und gewiß einer der besten Kenner der Währungsprobleme, hat ihn meines Wissens ein einziges Mal sprechen können. Ich habe es nie versucht: Dühring, der durch seine Erblindung und durch das schwere, jedem Bahnbrecher beschiedene Schicksal verbittert war, bekannte sich in seinen späteren Jahren zu einem Antisemitismus von so unglaublicher Roheit, daß ich ihn bei diesem Genie nur aus einem starken Anflug von Verfolgungswahnsinn verstehen kann; und ich hatte keine Neigung, eine Annäherung zu versuchen und mir das Bild eines Mannes zu verderben, dessen Werk aus der Zeit seiner geistigen Gesundheit mir überaus hoch stand und steht.

[S.141] Meine Kritik an Hertzkas "Freiland" hatte bewiesen, daß der von ihm vorgeschlagene Weg ungangbar war. Aber ich begnügte mich nicht mit der Negation, sondern ich zeigte einen anderen gangbaren Weg. Das deutet schon der Titel meines ersten Schriftchens an: "Freiland in Deutschland". Ich behauptete, daß es möglich sei, zum Ziel zu gelangen, ohne in die Wildnis zu flüchten, ohne die ungeheuren Kosten des Transports für Menschen und Dinge aufzuwenden, ohne alle Schöpfungen der Kultur im alten Lande preiszugeben, um sie im neuen Lande neu aufbauen zu müssen. Hertzka hatte den Gedanken, ob es nicht möglich sein könnte, seinen Plan inmitten der bestehenden kapitalistischen Kultur zu verwirklichen, flüchtig erwogen, aber mit einem Argument abgewiesen, das auf den ersten Augenblick unwiderleglich schien: Überall, wo sich in der heutigen Gesellschaft eine zahlreiche und wohlhabende Siedlung bildet, steigt in der Nachbarschaft in gleichem Schritt der Grundwert, und die arbeitslose Grundrente der Bodeneigentümer schöpft sozusagen den Rahm ab, beansprucht für sich und nimmt für sich fast alle Vorteile, die die wachsende Arbeitsteilung mit sich bringt, verhindert, daß dieser wachsende Reichtum sich auf alle Mitglieder der Gesellschaft gleichmäßig verteile. Nun sah Hertzka wohl, daß eine, nach seinen Prinzipien begründete Genossenschaft auch in Europa schnell zu verhältnismäßig bedeutender Zahl und blühendem Wohlstande kommen könne, aber er meinte, sie müsse isoliert bleiben, könne über die privatwirtschaftliche Hebung ihrer zufälligen Mitglieder nicht zur volkswirtschaftlichen Bedeutung, d. h. zur Hebung der gesamten niederen Klassen, zur Lösung des sozialen Problems gelangen. Denn die Grundrente werde in der Nachbarschaft ungeheuer steigen und die Siedlung "abschnüren".

Um dieses Argument kreisten meine Gedanken rastlos; um ein Bild zu brauchen, dessen ich mich gern bediene: gleich einem Jagdhunde, der ein Feldstück in immer kleineren Bögen umkreist, aus dessen Mitte ihm seine Nase die Witterung eines Wildes zugetragen hat. Ich fühlte, zunächst ohne es begründen zu können, daß hier der Grundfehler der ganzen Auffassung stecken müsse. Und da kam mir in einer unvergeßlichen Nacht Ende 1893 die blitzartige Erkenntnis, die über mein Leben und Streben entschied, sozusagen der Augenblick der "Gnadenwahl". Von da an war ich im wörtlichsten Sinne des Wortes "besessen": ein Gedanke von ungeheuerster Tragweite [S.142] hatte von mir Besitz genommen; ich gehörte nicht mehr mir, meiner kleinen empirischen Person, sondern fortan nur noch der Sache.

Ich sah in jenem Augenblicke plötzlich, daß im Umkreise einer erfolgreichen Siedlung der Grundwert und die Grundrente fallen, und nicht, wie Hertzka annahm, steigen müssen. Denn in einer solchen Siedlung, wo die Vorteile der immer höher gestaffelten Arbeitsteilung sich auf alle Arbeitenden gleichmäßig verteilen, steht der Arbeitslohn höher als in der Nachbarschaft. Infolgedessen streben die außenstehenden Arbeiter danach, Mitglieder der Siedlung zu werden, und die Siedlung ist jederzeit bereit, sie aufzunehmen, weil mit ihrer Zahl wieder die Arbeitsteilung und mit ihr der Reichtum der Gruppe wächst. Nun können aber die Arbeitgeber der Nachbarschaft ohne Arbeiter nicht wirtschaften; sie sind also gezwungen, deren Lohn in gleichem Schritte ihrerseits heraufzusetzen, um sie sich zu erhalten. Und wieder im gleichen Schritte damit sinkt natürlich ihr eigenes arbeitsloses Einkommen, die Grundrente, und deren kapitalisierter Wert, der Grundwert.

Mit dieser Erkenntnis hatte ich den Anfang des Fadens ergriffen, der mich durch das Labyrinth der Tatsachen führen sollte. Und das war mir in jenem entscheidenden Augenblick bereits vollkommen klar. Ich habe dazu geschrieben: "Wie man in dunkler Nacht im Gebirge in einem Wetterleuchten eine ganze Kette von Gipfeln und Gletschern vor sich sieht, so sah ich damals in einem einzigen Augenblick die ganze Arbeit meines Lebens scharf vorgezeichnet vor mir." Es hat dann fast ein Menschenalter gedauert, bis ich diese Arbeit vollenden konnte, harte und schwere Jahre, namentlich im ersten Jahrzehnt, wo mir kaum das geringste Echo zurückkam, wo ich in geradezu vernichtender Einsamkeit meinen Weg zu gehen hatte. Oft und oft, wenn sich in schlafloser Nacht meine letzten Ergebnisse mir nackt und bloß, sozusagen brutal, plötzlich vor die Augen stellten, fragte ich mich zu Tode erschreckt, ob ich nicht vielleicht doch in schwerem Irrtum, ob ich nicht vielleicht doch geistesgestört sei, wie meine ersten Kritiker es zuweilen andeuteten. Dann fragte ich mich: "Wie kamst du zu diesen Sätzen?" Ging zurück auf ihre Voraussetzung und wieder auf deren Voraussetzungen und so fort bis auf meine grundlegenden Feststellungen, um zuletzt, in kaltem Schweiß gebadet, aufzuatmen und mich zu getrösten: "Und wenn die Welt voll Teufel wär', es ist doch richtig!"

[S.143]

DIE "UTOPIE"

Das also war klar, unbestritten und durch alle Autoritäten der bürgerlichen wie der sozialistischen Schule anerkannt: wo Freiland vorhanden, kann es keinen Kapitalismus geben. Und daraus war der Schluß zu ziehen, daß der Kapitalismus verschwinden muß, wenn es gelingt, in den Ländern seiner Herrschaft das Freiland wiederherzustellen. Sollte das möglich sein?

Die Klassiker, auch Marx haben sich diese Frage niemals vorgelegt. Sie waren ohne weiteres davon überzeugt, daß die Erde zu klein sei. Längst sei das verfügbare Land dadurch besetzt worden, daß "sich eine Hufe neben die andere legte".

Die berüchtigte "Oppenheimersche Utopie" beruht nun auf gar nichts anderem, als daß ich fast zum ersten Male (nur Charles Hall war der Wahrheit nahe) nachgerechnet habe. Dabei hat sich herausgestellt, daß noch heute ungeheuer viel mehr fruchtbaren Landes vorhanden ist, als die etwa 1,8 Milliarden heutiger Menschen brauchen würden. Man kann im Durchschnitt rechnen, daß ein Hektar je Kopf, d. h. 5 - 6 Hektar je Familie für bäuerliche Selbständigkeit ausreichen und gleichzeitig die Arbeitskraft der Familie beschäftigen. Die Erde hat aber nicht weniger als 13,4 Milliarden Hektar Nutzfläche (nach Abzug aller Wasserflächen und allen Unlandes). Selbst wenn man davon noch ein volles Drittel für Forsten ausscheidet, bleibt immer noch das Fünffache des Bedurften, sogar unter der unmöglichen Voraussetzung, daß alle Menschen Bauern wären, daß es keinen einzigen Handwerker, Händler, Schiffer, Bergmann, Beamten usw. gäbe.

Aber noch mehr: die gleiche Rechnung zeigt, daß in allen, auch den am dichtesten bevölkerten kapitalistischen Ländern der Welt nirgends von "Volk ohne Raum" die Rede sein könnte, wenn nur das vorhandene Land richtig verteilt wäre. In Deutschland z. B. kommt auf den Kopf der jetzigen agrarischen Bevölkerung reichlich das Doppelte des Normalbedarfs, 2 Hektar je Kopf, 10 - 12 Hektar je Familie.

Trotzdem hatten wir in Deutschland Großeigentum, Großeinkommen und eine vermögenslose Arbeiterklasse schon vor anderthalb Jahrtausenden, als das Land noch unvergleichlich geringere Bevölkerung [S.144] hatte. Ist also die Theorie falsch? Nein! Aber das Land ist eben von jeher nicht richtig, nicht einigermaßen gleichmäßig verteilt gewesen. Es gab immer genug Land, aber niemals "Freiland". Es war und ist vorhanden, aber es war und ist für den vermögenslosen Mann aus der Unterklasse nicht frei zugänglich. Es war und ist zwar kein natürliches Hindernis da, das es ihm unmöglich machte, "ein Stück Land in sein individuelles Eigentum und Produktionsmittel zu verwandeln", um noch einmal Marx zu zitieren; wohl aber bestand ein rechtliches Hindernis; dieses Hindernis ist ein Eigentumsrecht, das er bei Strafe nicht verletzen darf, und dieses Eigentum heißt Großgrundeigentum. In Deutschland sieht die Sache so aus, daß rund 200.000 Großbauernbetriebe und 18.668 Großbetriebe fast genau 12 Millionen Hektar der Nutzfläche belegen, so daß den nahezu 5 Millionen kleineren Betrieben zusammen nur etwas über 13 Millionen Hektar verbleiben. Daher bei uns "das Volk ohne Raum". Der Grund und Boden ist in der Rechtsform des geschlossenen, massenhaften Großgrundeigentums gegen den Landbedürftigen aus der Unterklasse gesperrt. Der Kapitalismus ruht als auf seiner letzten Grundlage auf der Bodensperre. Und man kann ihm seine Grundlage entziehen, man kann ihn aus der Welt schaffen, wenn man die Bodensperre beseitigt und das Freiland wiederherstellt.

Wie ist denn nun diese Institution entstanden, die unser ganzes Leben verdirbt? Darüber besteht kein Zweifel mehr: sie ist das Ergebnis erobernder Gewalt*). Alle Staaten der Welt sind von Kriegern gegründet worden, die die ansässigen Bauern unterwarfen und sich das Land aneigneten, vor allem auch das gesamte noch unbebaute. So entstanden zugleich die beiden Institutionen, die den "feudalen Raum" charakterisieren: die verfassungsmäßige Scheidung der Stände in Herren und Knechte, Berechtigte und Verpflichtete - und die Bodensperre in Gestalt des geschlossenen Großgrundeigentums.

Die "bürgerlichen" Revolutionen von 1648, 1789 usw. haben die erste dieser beiden feudalen Institutionen ausgerottet: die Ständescheidung; aber die andere haben sie bestehen lassen, die Bodensperre. So blieb das große Werk der Befreiung vom Feudalismus

Fußnote:
*) Auf der vorletzten Tagung der Soziologischen Gesellschaft in Zürich 1928 haben die sämtlichen führenden Ethnologen Deutschlands, die einzigen, die hier zuständig sind, diese von mir schon 1898 vertretene, in ihrer Urform von Saint-Simon und Gumplowitz herrührende sogenannte "Soziologische Staatsidee" bestätigt.

[S.145] unvollendet; und die Folge davon ist, daß wir unter dem Kapitalismus zu leiden haben.

Worin besteht nämlich die "Soziale Frage"? Darin, daß bei der gewaltigsten Entfaltung der güterschaffenden Kräfte, die die Weltgeschichte kennt, dennoch sich der Segen des steigenden Reichtums allzu ungleichmäßig auf die Völker verteilt. Die vermögenslose Unterklasse erhält bestenfalls nur einen winzigen Teil davon, während den besitzenden Klassen fast der ganze Zuwachs in Gestalt des Profits und der Grundrente zufließt. Wie ist das zu erklären? Warum steht auf dem Markte der Arbeit der Preis dieser Ware so tief? Oder, was dasselbe sagt, woher stammt das Überangebot dieser Ware?

Darauf antwortet die bürgerliche Wissenschaft mit dem "Bevölkerungsgesetz" von Malthus, und die marxistische mit dem "Gesetz der kapitalistischen Akkumulation". Beide wurden eigens zu dem Zwecke der Erklärung konstruiert, "deduziert", und zwar, wie ich beweisen konnte, falsch deduziert. Ich kann hier die Beweise nicht wiederholen*): es muß genügen zu sagen, daß sie bisher niemals mit ernsthaften Mitteln auch nur angegriffen worden sind. Die richtige Erklärung gibt ein nicht eigens deduziertes, sondern in ganz anderem Zusammenhange beobachtetes, also echtes Gesetz. Theodor Frhr. v. d. Goltz hat es 1893 entdeckt, ein hochkonservativer Agrarpolitiker, der sehr entsetzt wäre, hätte er erlebt, welche Folgerungen man aus seinem Funde ziehen muß. Es lautet: "Mit dem Umfang des Großgrundeigentums parallel und mit dem Umfang des bäuerlichen Besitzes in umgekehrter Richtung wächst die Wanderung." Je größer das Großgrundeigentum, um so gewaltiger die Wanderung; ein Teil der Ausgestoßenen geht über See: Auswanderung; ein viel größerer Teil geht in die Städte und bietet sich auf ihrem Arbeitsmarkte an: Abwanderung. Seit Aufhebung der Leibeigenschaft sind z. B. in Deutschland Landproletarier zu Dutzenden von Millionen in die Industriebezirke eingewandert; in allen anderen

Fußnote:
*) Vgl. dazu mein " Bevölkerungsgesetz des T. R. Malthus" (Jena 1900) und mein "Grundgesetz der Marxschen Gesellschaftslehre" (Jena 1903), dann mehrfach neu aufgelegt.

[S.146] kapitalistischen Ländern hat sich das Gesetz in gleicher Kraft ausgewirkt*).

Hier haben wir die wirkliche Ursache des Überangebots auf dem Markte der städtischen Arbeit, und damit ist der Ring geschlossen. Wir haben keine Schwierigkeit mehr, zu verstehen, wie der künstlich geschaffene Mangel an Freiland und der Kapitalismus zusammenhängen.

Ich fand das Gesetz vor, als ich 1895 an die Ausarbeitung meines ersten größeren Werkes, die "Siedlungsgenossenschaft", herantrat. Es war meine selbstverständliche Aufgabe, es in die Theorie hineinzuarbeiten, die außerordentlich arm an echten Gesetzen ist. Man kann sie an den Fingern einer Hand abzählen. Ich enthalte mich sonst gern starker Worte: aber ich muß doch aussprechen, daß es ein öffentlicher Skandal ist, daß ich der einzige gewesen und geblieben bin, der diese notwendige, ja selbstverständliche Aufgabe übernommen hat. Die wenigsten beamteten Fachmänner meines Gebietes haben jemals auch nur den Namen des Gesetzes gehört; als ich in Frankfurt in einem Prüfungsprotokoll unter den von mir behandelten Gegenständen auch das Goltzsche Gesetz anführte, fragte mich ein Kollege, und wahrlich nicht der geringste Mann der Fakultät, vertraulich, was das sei; und als ich vor einigen Jahren als Thema eines Vortrages vor Studenten, um den ich von einem auswärtigen Ordinarius ersucht worden war, das Goltzsche Gesetz bezeichnete, fragte der mir befreundete Kollege gleich am Bahnhof, wo er mich abholte, was das denn für ein ihm unbekanntes Gesetz sei. Sogar im Handwörterbuch der Staatswissenschaften, einem vielbändigen Werke von Lexikonformat, das mit Recht als ein Stolz der deutschen Wissenschaft betrachtet wird, findet sich in der letzten Auflage weder der Name von der Goltz noch sein Gesetz, weder im Stichwörterverzeichnis

Fußnote:
*) Zwischen 1910 und 1925 gewannen die Großstädte Preußens durch Wanderung allein 658.000, die sonstigen Stadtkreise 178.000 Köpfe, während die Landkreise 385.000 verloren. Sie hätten viel mehr verloren, wenn nicht mehr als eine halbe Million Optanten aus dem Osten eingewandert wären, von denen weitaus der größte Teil, schätzungsweise mehr als zwei Drittel, in den Landkreisen seßhaft geworden sind. In Bayern verloren die Bezirksämter 208.000, gewannen die Großstädte 106.000, die sonstigen kreisunmittelbaren Städte 30.000 Köpfe. Seitdem hat sich die Landwanderung sicherlich noch stark vermehrt. Genaue Zahlen sind noch nicht erhältlich. Man versteht jetzt, woher ein großer Teil der jetzigen industriellen Arbeitslosigkeit stammt.

[S.147] noch unter irgendeinem der Artikel, unter denen es erwähnt sein könnte. Die gegenwärtige theoretische Ökonomik beschäftigt sich mit den lächerlichsten Quisquilien, gräbt die verschollensten Schriftsteller aus allen vergangenen Jahrhunderten aus, aber von diesem Funde, auf den sich in der Zeit der Klassik alles begeistert gestürzt hätte, was einen Namen zu gewinnen oder zu verlieren hatte, ist in keinem einzigen Lehrbuch, das ich kenne, die Rede.

Sehen wir nun zu, wie sich die bisherige Theorie die Entwicklung zum Kapitalismus denkt.

Die bürgerliche Lehre schon der Klassiker ging von einer vollkommen unhistorischen Konstruktion aus. Für sie ist die Geschichte nicht gewesen oder hat doch wenigstens nicht gewirkt. Man kann natürlich nicht bestreiten, daß die Eroberung mit allen ihren Folgen in der Geschichte die größte Rolle spielt, aber man abstrahiert davon und erklärt die Entstehung der Klassen und des Großeigentums an Kapital und Boden auf die folgende Weise: Zu irgendeiner Zeit hat sich in einem weiten, fruchtbaren menschenleeren Lande eine kleine Gruppe von Menschen niedergelassen, die sämtlich frei und gleichen Rechtes und anfänglichen Vermögens waren. Sie sind an Zahl gewachsen und haben zuletzt, selbstverständlich in nichts als Mittelbauerstellen, das ganze Land derart besetzt, daß "alle Hufen, sich gegenseitig berührend, es bedeckten". Bis dahin blieb die Gleichheit vollkommen erhalten; zwar hatten die Begabteren und Fleißigeren ein etwas höheres Einkommen, aber sie konnten daraus kein klassenbildendes Vermögen anhäufen, sondern konnten es nur anwenden, um etwas besser zu leben und für die Zwecke der Allgemeinheit mehr zu leisten, indem sie namentlich die Ehrenämter übernahmen, und ferner, um ihren Nachkommen, die ihre Begabung nur in seltenen Fällen erbten, einen etwas günstigeren Start zu ermöglichen*).

Fußnote:
*) Bis hierher ist die Lehre völlig richtig und wird durch die Tatsachen sowohl der Vorgeschichte wie der Völkerkunde bestätigt. Mindestens 50.000 Jahre lebt der Mensch in Europa; aber bis zum "Zeitalter der Wanderung und Eroberung", in dem der Staat entstand, und das war erst etwa um 3.000 v. Chr. der Fall, findet man nirgends eine Spur von den beiden Zeichen, an denen die Klassenherrschaft erkennbar ist: Burgen und "Herrenkunst": den Luxus einer reichen Klasse. Und die Völkerkunde zeigt, daß alle Naturvölker noch heute so lange in vollkommener Gleichheit leben, bis mit der Einführung von kriegsgefangenen Sklaven die ursprüngliche Gleichheit durch äußere Gewalt zerstört wird. Selbst ein kriegerischer Raubstamm wie die Masai kennt weder Adel noch grobe wirtschaftliche Verschiedenheiten; eines ihrer zehn Gebote befiehlt, einem verarmten Stammesgenossen die verlorene Herde voll zu ersetzen. (Vgl. mein "Rom und die Germanen", Jena 1929).

[S.148] Nachdem aber einmal das ganze Land auf diese Weise "vollbesetzt" war, führten die Verschiedenheiten der Begabung allmählich zur Ungleichheit: die Begabten und Fleißigen wurden reich, die Dummen und Faulen arm und mußten sich jenen als Arbeiter vermieten; und so entstand im Laufe der Zeit die Klassenscheidung in Besitzende und nicht Besitzende, in Herren und Knechte, in Genießer und Fröhner.

Diese ganze Lehre von der Entstehung der Klassen ist vollkommen unhaltbar. Zunächst lassen sich die Unterschiede des Einkommens und Vermögens, die unsere heutige Gesellschaft aufweist, unmöglich aus der Verschiedenheit der Begabung erklären. Sie sind viel zu groß dazu. Der größte Mensch ist nicht dreimal so lang wie der kleinste, der stärkste Mensch nicht dreimal so stark als der schwächste; wir haben nicht den geringsten Grund zu der Annahme, daß die geistige Begabung sich anders verhält, zumal die wirtschaftliche Begabung nicht nur eine solche des Geistes, sondern vor allem auch des Willens ist und dessen Größe läßt sich messen und erweist sich als nicht stärker verschieden als die Anlagen zur Kraft und Größe. Ein Kenner des Seelenlebens wie Adam Smith konnte aussprechen: "Von Natur aus ist ein Philosoph an Genie und Begabung nicht halb so verschieden von einem Lastträger wie ein Schäferhund von einer Bulldogge".

Wäre aber selbst die geistige Begabung so verschieden wie die Größe der Zwerge von Liliput von der der Riesen von Brobdingnag, so könnte selbst diese Verschiedenheit nach dem einhelligen Bekenntnis der Führer beider Schulen sich nicht eher in Klassenverschiedenheit ausprägen, als nachdem alles vorhandene Land durch Bauernsiedlung vollbesetzt ist. Diese Bedingung ist aber, wie wir wissen, auch heute noch nicht erfüllt, nicht einmal in den meistbevölkerten Ländern des Planeten.

Karl Marx hat diese bürgerliche Lehre als eine "Kinderfibel" mit der ganzen Lauge seines ätzenden Spottes übergossen - und dennoch ist sie, ihm selbst unbewußt, die Grundlage seiner kommunistischen Einstellung geblieben. Denn das ist ja klar: aller Kommunismus [S.149] hat nur eine logische Wurzel, die Überzeugung, daß die freie Konkurrenz zu der verhängnisvollen Scheidung der Klassen führen muß. Nur darum soll ja die freie Konkurrenz mit allem ihrem Zubehör: mit Markt, Geld und Preis, abgeschafft werden, um von der bisher nie mit Erfolg versuchten und in ihrer Wirksamkeit mehr als zweifelhaften Konstruktion der von einer Stelle aus geleiteten, auf Grund statistischer Erhebungen disponierten Gesamtwirtschaft ersetzt zu werden.

Marx war also nicht gänzlich unhistorisch wie die Klassik, aber er war nicht historisch genug. Er hat den Begriff des Kapitalismus zu eng gefaßt; er läßt ihn erst beginnen mit der Entwicklung der städtischen Gewerbe; für ihn ist Kapitalismus erst gegeben, wenn freie Arbeiter von den Besitzern der Produktionsmittel ausgebeutet werden. Das aber heißt die geschichtliche Erscheinung aus ihrem Zusammenhange reißen. Ganz abgesehen davon, daß auf diese Weise der Kapitalismus der antiken Sklavenwirtschaft ganz aus dem Bilde fällt, ist heute völlig sichergestellt, daß dem industriellen Kapitalismus überall eine Epoche des agrarischen Kapitalismus zuvorging, wobei der Freizügigkeit beraubte Arbeiter exploitiert wurden. G. F. Knapp hat für Deutschland gezeigt, daß der ostelbische Großgutsbetrieb der erste kapitalistische Betrieb der Neuzeit war, und das gleiche hat Brodnitz für England bewiesen. Für Rußland braucht niemand es zu beweisen. Kapitalismus muß definiert werden als eine Gesellschaft, in der die Erzeugnisse ausgebeuteter Arbeiter auf einem geldwirtschaftlich entfalteten Markte verwertet werden. Der industrielle Kapitalismus der Neuzeit ist nur eine, freilich die alles überstrahlende Teilerscheinung des größeren Ganzen: er wurzelt im agrarischen Kapitalismus, folgt ihm nur sehr langsam und zögernd, und entwickelt sich erst von dem Augenblicke an zu seinen Riesenmaßen, in dem die bürgerlichen Revolutionen die Freizügigkeit des Landvolks erzwingen, das auch in England faktisch, wenn auch nicht gesetzlich, an die Scholle gefesselt war.

Wieder schließt sich der Ring vor unseren Augen. Immer wieder, von welchem Ausgangspunkte auch immer, kommen wir auf die gleiche Ursache.

Von hier aus versteht man leicht die entsetzlichen Zustände, die der Frühkapitalismus brachte. Sobald die Freizügigkeit erkämpft ist, ist es, als sei ein Staudamm gebrochen. Das Landproletariat strömt in so ungeheuren Massen in die Städte, daß der Arbeitsmarkt [S.150] plötzlich überfüllt wird und die Löhne in die Tiefe stürzen. Der Wochenlohn der englischen Baumwollspinner sinkt in kurzer Zeit von 22  auf 5,5 Shilling. Die städtischen Theoretiker, die vom Lande nichts wußten, machten die freie Konkurrenz verantwortlich. Aber die war völlig unschuldig aus einem unbestreitbaren Grunde: sie existierte nicht! Noch nie in aller Weltgeschichte hat freie Konkurrenz existiert. Die Aufgabe der Zukunft liegt nicht darin, wie der Bolschewismus glaubt, an ihre Stelle etwas ganz Neues, nie Erhörtes und Erprobtes, zu setzen, sondern die jetzige Gesellschaft erst einmal zu der der wirklich freien Konkurrenz zu erheben. Konkurrenz und Monopol sind einander ausschließende Gegensätze, und unsere ganze Gesellschaftsordnung ist geradezu aufgebaut auf der Grundlage eines ungeheueren Monopols, des Monopols, das eine schwache Minderheit an dem gesamten Boden der Nationen besitzt, besitzt als Erbin wilder Erobererstämme, die es nicht kraft überlegener wirtschaftlicher Begabung, nicht durch höheren Fleiß und größere Nüchternheit und Voraussicht, sondern mit dem Schwerte erwarben. Dieses Monopol muß fallen; das ist der erste notwendige Schritt zum Ziele der Erlösung der Menschheit; dann wird es leicht sein, sollte es noch nötig sein, die weiteren Schritte zu machen, etwa auf dem Wege der Besteuerung die allzu großen Kapitalmammuts zu erlegen. Denn die Geschichte lehrt auf jeder Seite: "Wer das Land hat, hat die Macht", und ein Volk, das sich seinen Boden zurückerobert hat, kann durch niemanden daran verhindert werden, sich jedes Gesetz zu geben, das erforderlich scheint, um die Übergangszeit vom alten zum neuen Zustande abzukürzen und zu erleichtern.

Um mehr als um eine Übergangszeit kann es sich nicht handeln. Wenn die Bodensperre durch das große Grundeigentum erst einmal beseitigt ist, dann ist auch in den am dichtesten bevölkerten Staaten des Planeten das "Freiland" wieder vorhanden, in dessen Gegenwart nach dem einstimmigen Urteil aller großen Köpfe aller Schulen Kapitalismus nicht bestehen kann. Und dann wird sich zeigen, daß die freie, die endlich befreite Konkurrenz zur "rationellen" Gleichheit führt, zur Gleichheit der Entlohnung nach der Leistung für die Gesellschaft. Das ist das Ideal der Platonischen "isotes": den Gleichen Gleiches, den Ungleichen aber Ungleiches; und das entspricht nicht nur der Forderung der Gerechtigkeit besser als die "mechanische" Gleichheit, die der Kommunismus predigt, sondern das [S.151] allein gibt die Sicherheit, daß die Menschheit in Zukunft wird leben können. Bisher hat nur der Sporn des Wettbewerbs die Menschen zum vollen Einsatz ihrer Kraft bewegen können; alle kommunistischen Versuche der Vergangenheit sind an der unzureichenden Arbeitsleistung gescheitert, und auch der gigantische Versuch der Sowjets wird daran scheitern. Wir brauchen sowenig um der Gleichheit willen auf die Freiheit zu verzichten, wie um der Freiheit willen auf die Gleichheit.

Das ist die Oppenheimersche Utopie.

Man wird zugestehen müssen, daß sich dieses Bild der zukünftigen Gesellschaft von allen seinesgleichen in einem entscheidenden Punkte unterscheidet. Jene wollen sämtlich einen sehr komplizierten Bau errichten (siehe Sowjetrußland), dessen Schwierigkeit im wesentlichen darauf beruht, daß man an Stelle eines lebendigen, selbstwüchsigen und sich selbst regulierenden Organismus einen toten Mechanismus zu setzen bestrebt ist, der vielleicht funktionieren kann, vielleicht aber auch nicht. Was ich aber will, ist nicht, etwas Kompliziertes aufzubauen, sondern etwas abzubauen; sozusagen den lebendigen Körper von einer Schlinge zu befreien, die ihn drosselt und zu erdrosseln droht. Das ist gewiß nicht so bis zur Unmöglichkeit schwierig; und den Mann möchte ich denn doch sehen, der den Mut hätte zu behaupten, daß eine Gesellschaft ohne massenhaftes privates Großgrundeigentum unvorstellbar sei. Der geläufige und meines Erachtens richtige Einwand, der gegen den Kommunismus erhoben wird, ist gegen meine "Utopie" nicht anwendbar: daß die Menschen Engel sein müßten, um diese Gesellschaftsordnung aufrechtzuerhalten. Man kann höchstens behaupten, daß die Maßnahme nicht ausreicht; darüber läßt sich sprechen, wenn sie erst einmal durchgeführt ist: es ist aber heute, und nicht zuletzt dank meinen Arbeiten, ein Programmpunkt schlechterdings aller Parteien nicht nur Deutschlands, sondern fast der ganzen Welt geworden, daß das Großgrundeigentum stark zurückgeschnitten werden muß. Das Agrarprogramm der deutschen Sozialdemokratie ist von zwei Männern entworfen worden, von denen der eine, Staatssekretär Krüger, ein unmittelbarer Anhänger von mir ist, während der andere, Baade, meinen Anschauungen zum wenigsten sehr nahe steht. Und in Polen, Jugoslawien und der Tschechoslowakei stehen Schüler von mir an der Spitze der Bewegung. Die Maßnahme ist als notwendig anerkannt aus politischen Gründen: ohne ihre Durchführung ist [S.152] echte Demokratie unmöglich, denn der Satz gilt und hat sich im neuesten Deutschland wieder bewährt: "Wer das Land hat, hat die Macht". Und sie ist als notwendig anerkannt aus den wirtschaftlichen Gründen, die ich zuerst herausgearbeitet habe, wenn auch die wenigsten an eine Wirkung von der Größe glauben wie ich.

Die ganze großartige Logik der Weltgeschichte enthüllt sich unserem Verstehen: Vor etwa fünf Jahrtausenden drang mit der Eroberung die Ungleichheit in den Körper der Menschheit ein, und alle Geschichte seither ist der Versuch, des Krankheitsstoffes Herr zu werden. Die Völker des Altertums sind daran zugrunde gegangen, und auch wir leiden aufs schwerste an ihm. Der Kapitalismus ist im feudalen Raum erwachsen; er hat das Großeigentum an dem wichtigsten Arbeitsmittel und die Klassenscheidung aus ihm übernommen; und nichts ist klarer - es ist der Grundgedanke Saint-Simons -, als daß demjenigen der Ertrag der Arbeit zufließen muß, dem die Arbeitsmittel gehören. Keine Ausflucht der sogenannten Wissenschaft kann diesen evidenten Satz erschüttern.

Der Kapitalismus ist ein Bastard von Knechtschaft und Freiheit. Alles, was groß an ihm ist, verdankt er der Freiheit: die Beseitigung der Stände, die großartige Entwicklung der Arbeitsteilung, die Herrschaft über die Elemente, den Reichtum, den sich frühere Zeiten nicht einmal hätten vorstellen können. Alles aber, was an ihm häßlich und gefährlich ist, hat er von seinem Vater, der Gewalt: die Ungleichheit mit allen ihren furchtbaren wirtschaftlichen und politischen Folgen, die herzzermalmende Armut der Unterklasse namentlich in den Anfängen, die grauenhafte Unsittlichkeit, die nie ausbleiben kann, wo, um mit Rousseau zu sprechen: "einer reich genug ist, um viele kaufen zu können, und viele arm genug sind, um sich verkaufen zu müssen"; den Kampf um die Weltmärkte, der unvermeidlich ist, weil die Arbeitenden aller Länder mit ihrem Arbeitseinkommen nicht zurückkaufen können, was sie erzeugt haben, und die daraus folgende Nebenbuhlerschaft der kapitalistischen Mächte, die Krisen und die vernichtenden Kriege.