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SCHRIFTSTELLER

Als das neue gewaltige Interesse mich bis zur "Besessenheit" eingenommen hatte, war es mir unmöglich, die Praxis als Arzt beizubehalten. Sittlich unmöglich: ich hatte das Interesse an meinen Patienten nicht mehr wie früher, ich empfand ihr Erscheinen geradezu als Störung meiner Arbeit. Aber ich konnte nicht so ohne weiteres abbrechen. Ich hatte Weib und Kind und für meine Familie zu sorgen, und so mußte ich mir erst eine andere bescheidene Existenz schaffen. Wie die Dinge lagen, konnte vorerst nur die Tätigkeit als freier Schriftsteller in Betracht kommen; die Möglichkeit, durch meine neue Wissenschaft genügend zu erwerben, erwog ich gar nicht; und selbst wenn ich daran gedacht hätte, hätte ich mir sagen müssen, daß es Jahre brauchen würde, bis ich auch nur zur Privatdozentur gelangen könnte. Und so war ich denn eine Zeitlang, etwa zwei Jahre hindurch, nebeneinander Arzt, Schriftsteller und Student der Nationalökonomie als Autodidakt, bis ich es wagen durfte, mich von der Praxis ganz zurückzuziehen.

Auch hier wieder war mir das Glück hold. Ich hatte mir schon durch meine "Wanderbriefe" einen hübschen Erfolg errungen und mir selbst bewiesen, daß das Publikum meine Plaudereien gern aufnahm. Und so beteiligte ich mich mit einem gewissen Vertrauen an einem Preisausschreiben, das eine Feuilletonkorrespondenz ausgehen ließ. Zwei Preise von je 500 Mark waren ausgesetzt für die beste Plauderei und die beste Novelle, die beide den gleichen Gegenstand, "Norddeutsch und Süddeutsch", behandeln sollten. Die Arbeiten waren wie üblich mit einem Kennwort und einem verschlossenen Briefumschlag einzureichen, der außen das gleiche Kennwort und in der Einlage Namen und Adresse des Verfassers enthielt. Ich beteiligte mich an beiden Konkurrenzen; vorsichtshalber ließ ich das eine Manuskript von einem Freunde schreiben, damit nicht etwa die Gleichheit der Handschrift auffiele. Ich erhielt beide Preise. Es soll eine große Sensation gewesen sein, als aus den beiden Briefumschlägen der gleiche, in der Schriftstellerwelt so gut wie völlig unbekannte Name hervorging. Die beiden kleinen Arbeiten wurden sehr viel abgedruckt, und ich war mit einem Schlage ein begehrter Autor geworden. Die Familienblätter bestürmten mich um Beiträge, [S.180] und die Sicherheit einer bescheidenen Existenz als freier Schriftsteller war mir geboten. Ich habe diese Brotarbeit viele Jahre hin durch ohne großes inneres Widerstreben, ja sogar mit einer gewissen Arbeitsfreude geleistet, habe es mir aber zum Grundsatz gemacht und ihn ehrlich durchgeführt, auch nicht eine Stunde mehr, als für ein bescheidenes Auskommen durchaus erforderlich war, ihr zu widmen. Alle Zeit, die nur irgendwie zu erübrigen war, gehörte und gebührte meiner Wissenschaft. Ich habe diese Scheidung auch vor meinem eigenen Gewissen und Bewußtsein sehr streng aufrecht erhalten: als Schriftsteller empfand ich mich als einen Handwerker, von dem man nicht mehr verlangen kann, als daß er anständige marktgängige Ware liefert, als Gelehrter aber konnte ich mir niemals genug tun; jedes meiner Bücher ist immer wieder durch gearbeitet, umdisponiert und stilistisch gefeilt worden, bis ich es widerstrebend in Druck gab, in der Erkenntnis, daß ich es zu der gegebenen Zeit doch nicht mehr besser machen könnte.

Maximilian Harden schrieb damals von meiner Tagesschriftstellerei, daß ich auf jeden Hasen schösse, der mir in den Weg liefe. Er hatte nicht so ganz unrecht, ich schrieb, um einen alten Kulissenausdruck anzuwenden, "alles, was Gott verboten hat": volkstümliche Aufsätze über Medizin, Sport, Schilderungen von Wanderungen und Reisen, ja sogar in einzelnen Fällen unverantwortlicherweise Märchen und Novellen, und zwar unter den verschiedensten Pseudonymen, die noch heute im "Kürschner" paradieren, obgleich ich seit etwa dreißig Jahren keines von ihnen mehr benutze. Wenigstens zwei dieser Jugendsünden haben literarische Folgen gehabt. Ich hatte eine Allegorie unter dem Namen "Ali der Löwe" verbrochen. Eine junge Löwenwaise wird von einer Rehfamilie aufgenommen und lebt als Rehbock, bis er einer Löwin begegnet, die gerade ein Stuck Wild gerissen hat. Die Moral ist ebenso klar wie hausbacken: ein junger Mensch, der unter seiner spießbürgerlichen Umgebung litt, wollte sich gerne einreden, daß er von ganz anderer, von edlerer, von Raubtierart sei. Es unterliegt für mich keinem Zweifel, daß Gustav Meyrink aus diesem literarischen Stück Unglück die Anregung zu seiner köstlichen Humoreske "Der Löwe Alois" empfangen hat. Ebenso vermute ich, daß Georg von Ompteda die Anregung zu einem seiner Bergsteigerromane, dessen Titel ich vergessen habe, durch meinen Sketch "Die Führerlosen" erhalten [S.181] hat. Ich will beileibe hier keine literarischen Prioritätsansprüche anmelden oder Anklagen wegen Plagiats erheben.

Inzwischen arbeitete ich mich immer tiefer in die ökonomische Theorie und Praxis hinein und konnte bald diese Tätigkeit als besserer Tintenkuli für die, wie man begreifen wird, von mir nicht besonders hochgeschätzten lammfrommen Familienblätter mehr und mehr hinter der Tätigkeit als politischer Schriftsteller zurücktreten lassen. Ich schickte zuerst der Volkszeitung einige Leitartikel ein, die sofort abgedruckt wurden; das Blatt, das damals von Vollmar redigiert wurde, war mir am nächsten gesinnungsverwandt; es lehnte den Kommunismus ab, war aber entschlossen demokratisch und im höchsten Maße arbeiterfreundlich. Nach einer gewissen Zeit nahm Vollmar aber nichts mehr von mir an; ich gehe wohl nicht fehl, wenn ich annehme, daß der regierende Herr in mir den möglichen Ersatzmann fürchtete. Dann gewann mich der alte Ullstein für seinen Verlag, für Berliner Zeitung und Morgenpost, als gelegentlichen Mitarbeiter. Auf diese Weise kam ich zu einem nicht üblen Ruf als politischer Schriftsteller.

Ich vertrat die mir eigene Synthese von Liberalismus und Sozialismus mit einer in Journalistenkreisen nicht gerade alltäglichen Beherrschung der Theorie und der Tatsachen; und wenn auch die gegnerischen Parteiblätter mich notgedrungen ablehnten, so war die Stellung der Personen mir gegenüber sehr bald eine ganz andere, sehr achtungsvolle. Ich konnte diese Wirkung einmal an einer Persönlichkeit oder Person beobachten, die damals sich auf kurze Zeit in den Vordergrund der politischen Bühne gedrängt hatte. Es war im Jahre 1895; Herr von Kupfer, der Chefredakteur des damals noch ziemlich jungen Berliner Lokalanzeigers, der meine Wanderbriefe schätzte, hatte mich als "Künstlerfeuilletonisten" zur Einweihung des Kaiser-Wilhelm-Kanals entsandt. Nach Beendigung der Feierlichkeiten in Kiel fuhren wir, Parlamentarier und Pressevertreter, mit der "Trave" des Norddeutschen Lloyd als dessen Gäste durch Kattegat und Skagerak nach Bremen. Als ich zum ersten Diner in den Speisesaal kam, fand ich einen Platz neben einem mir unbekannten wohlbeleibten Herrn, dessen offenbar nicht nach Maß gearbeitetes steifgestärktes Oberhemd sich in sehr komischer Weise aus dem Ausschnitt der Frackweste emporwölbte: ein besonders kleinbürgerlicher Kleinbürger in jedem Zuge! Man kam in ein allgemeines politisches Gespräch, der dicke Mann äußerte sehr seltsame [S.182] Ansichten über die soziale Frage, und ich erfuhr, es sei Ahlwardt, der Verfasser der berüchtigten Schrift "Judenflinten", der "Rektor aller Deutschen". Ich griff mit allem Schneid und aller Angriffslust, die mir damals schon eigen waren, in die Debatte ein, die Tafelrunde hörte immer gespannter zu, und Ahlwardt fragte zuletzt mit groß geöffneten Augen und dem Tone des tiefsten Respekt: "Wer sind Sie denn? Ich kenne Sie ja nicht."

Um die Schilderung meiner kurzen Laufbahn als politischer Tagesschriftsteller in einem Zuge darzustellen, so habe ich zu erzählen, daß ich im Jahre 1897 die Chefredaktion der jungen "Welt am Montag" übernahm. Sie war von Karl Ploetz und Felix Holländer begründet worden; jener hatte die Politik, dieser das Feuilleton geleitet. Aus irgendeinem Grunde kam es zu einem Konflikt zwischen den Herausgebern und dem Verleger Martin Langen, einem reichen Rheinländer, dem Bruder des erfolgreicheren Verlegers Albert Langen in München; sie traten zurück, und ich übernahm die Redaktion. Das Feuilleton leitete der sehr vorgeschrittene August Schulz, für den Handelsteil warb ich Georg Bernhard, der mir als sehr sachverständiger und unerschütterlich ehrenwerter Mann empfohlen war. Er war damals noch ein kleiner Bankangestellter; die bescheidene Stellung an unserer Zeitung wurde für ihn das Sprungbrett zu der großartigen Laufbahn, die ganz Deutschland kennt.

Es gelang mir, das Blatt in kurzer Zeit in die Höhe und zu einer befriedigenden Rentabilität zu bringen. Jung, furchtlos und von der Wahrheit meiner Gedanken überzeugt, richtete ich meine Schläge nach allen Seiten: gegen den Marxismus, gegen das allzu zahme Bürgertum, selbstverständlich vor allem gegen die Großagrarier, in Leitartikeln, die, wie Professor Erik Nölting zur Feier meines sechzigsten Geburtstages schrieb, "von Geist und Angriffslust funkelten". Ich scheute auch nicht davor zurück, meine spitzen Pfeile auf die höchste Stelle des Reiches abzuschießen. Ich habe den letzten Kaiser Deutschlands von allem Anfang an richtig eingeschätzt und seine Politik für verderblich gehalten; ich habe schon damals gewußt und gedruckt, daß die unglückselige Flottenpolitik Deutschland mit Notwendigkeit in einen Krieg mit England verwickeln müsse, den wir zu vermeiden hätten, ehe wir nicht vor Rußland völlig sicher waren. Ich habe das persönliche Regiment und die philisterhafte Kulturpolitik des Mannes mit heißer Inbrunst angegriffen und bin damit nach oben hin sehr unangenehm aufgefallen, wie ich aus [S.183] sicherster Quelle erfuhr. Aber ich habe niemals mit Keulen zugeschlagen, sondern mich immer der feinen und eleganten Waffe des Floretts zu bedienen vorgezogen, und bin derart einer Anklage wegen Majestätsbeleidigung mit ihren Folgen entgangen: so unzweideutig meine Angriffe auch waren, so waren sie doch in einer Form abgefaßt, die für einen Zugriff des Staatsanwalts nicht recht die Handhabe boten; die Lacher wären allzusehr auf meiner Seite gewesen. Ich habe Wilhelm II. damals viel schärfer angegriffen als je nach seinem Sturze; es ist mir immer als unvornehm erschienen, einem toten Löwen einen Fußtritt zu geben, womit ich nicht gesagt haben will, daß ich den Gegenstand meiner Abneigung für einen Löwen hielt oder halte.

Die Tätigkeit gefiel mir eine Zeitlang nicht übel. Ich hatte ein Sprachrohr für meine Gedanken, dessen Reichweite ich freilich stark überschätzte, und niemand hinderte mich oder konnte mich hindern, mit allem Freimut auch das letzte zu sagen, was mir nötig schien. Es war ja eine recht anstrengende Arbeit. Der Sonntagsruhe wegen durfte der Druck erst um zwölf Uhr nachts beginnen; zwei Stunden vorher trat ich zur Redaktion des Hauptblattes an (die anderen Blätter waren selbstverständlich in der Woche vorher gedruckt worden), ordnete und kommentierte die eingelaufenen Depeschen, und war einige Male gezwungen, in aller Eile einen anderen Leitartikel zu schreiben, weil irgend etwas sehr Wichtiges sich ereignet hatte. So zum Beispiel am Abende jenes Sonntags, wo eine Straßenrevolte in Wien den Grafen Taaffe zum Rücktritt zwang. Dann hieß es, wie im Fieber zu schaffen: denn um drei Uhr morgens spätestens mußte alles gesetzt, stereotypiert und gedruckt sein, um die Morgenpostzüge noch zu erreichen. Bei all dieser Hetze durfte doch die nötige Kritik nicht außer acht gelassen werden. So habe ich einmal eine mir verdächtige Wolffsche Depesche nicht gebracht, die von einem Attentat berichtete, das im Zoologischen Garten von Athen ein Österreicher auf den König von Griechenland verübt haben sollte. Am nächsten Tage stellte sich denn auch heraus, daß es ein Strauß gewesen war: ein schwacher Übersetzer hatte das französische Wort "autruche" mit "Autrichien" verwechselt! So wenigstens habe ich die einzig mögliche Lösung des Rätsels gefunden.

Ich habe diese Redaktion etwa einundeinhalbes Jahr hindurch geführt, mit entschieden starkem Erfolge. Zunächst rein journalistisch. Ich galt allgemein als der "kommende Mann"; wo immer [S.184] der Gedanke auftauchte, für Berlin die große, entschieden arbeiterfreundliche und dennoch nicht marxistisch orientierte Zeitung etwa nach Art der "Frankfurter" zu schaffen, war ich als der leitende Mann ins Auge gefaßt; ich wäre auch dazu zu haben gewesen, mußte aber auf Grund meiner Erfahrungen die Bereitstellung eines Millionenkapitals fordern, das nicht aufgebracht werden konnte. Auch von Seiten der beiden Parteien, zwischen denen ich stand, und die in einen einzigen gewaltigen, ja unwiderstehlichen Stoßkörper zu verschmelzen mein wichtigstes Lebensziel war und ist, der entschiedenen bürgerlichen Linken und der Sozialdemokratie, wurden mir Avancen gemacht; ich hätte sehr leicht ein parlamentarisches Mandat haben können. So zum Beispiel ließ sich August Bebel mit mir zusammen durch einen gemeinschaftlichen Bekannten, den Redakteur Neustädter, einladen und fühlte, selbstverständlich mit äußerster Vorsicht, aber doch unzweideutig bei mir an. Ich sagte ihm offen, daß ich nicht glaubte, der Partei viel nützen zu können, wenn ich mein Bestes nicht einsetzen könnte: meine wissenschaftliche Überzeugung. Soweit war aber damals die Partei noch nicht und ist sie auch heute noch nicht. Noch immer steht zwischen ihr und dem politischen Siege die Marxsche Lehre, die zur Zeit ihrer Veröffentlichung eine großartige wissenschaftliche Leistung war und in vielen ihrer Teile das unerläßliche Fundament aller weiteren Entwicklung, auch meiner Lehre, geblieben ist, die aber längst in das Pantheon der großen wissenschaftlichen Leistungen gehörte. Sie ist in sich so widerspruchsvoll, daß sie den verschiedensten, einander feindlich gegenüberstehenden Gruppen gleichzeitig als Gedankengrundlage dienen kann; und sie ist gerade in bezug auf ihre Zukunftsprognose vollkommen und hoffnungslos widerlegt. Erik Nölting, ein hervorragendes Mitglied der Partei, durfte von ihr als einer "spukhaft ragenden Bruchstückgröße" sprechen. Die Partei wird sich, vermutlich erst zehn Jahre nach meinem Tode, doch endlich dazu entschließen müssen, mein System anzunehmen, das einzige vollausgestaltete und rechtsphilosophisch wie universalgeschichtlich breit unterbaute System, das besteht. Sie kann unmöglich auf die Dauer mit einem kommunistischen Programm den immer stärker werdenden kommunistischen Gegner abwehren, der sie von links her bedroht. Sie hat mit dem Agrarprogramm A gesagt und wird einmal B sagen müssen.

[S.185] Als der große Streit zwischen dem Revisionismus unter Eduard Bernstein und der Marx-Orthodoxie unter Karl Kautsky ausbrach, schrieb ich an Bernstein, damals noch nach London, der als der einzige seiner Partei und fast als der einzige überhaupt meine bis dahin vorliegenden Schriften ernsthaft würdigte, ich erwäge, mich der Partei offiziell anzuschließen; wenn für ihn in ihr Platz sei, so auch für mich. Er riet mir ab, und ich bin ihm dankbar dafür; ich könne, so schrieb er, der Partei "als Freilanze" mehr nützen denn als Mitglied. Es wäre denn wohl auch meines Bleibens nicht lange gewesen; ich hätte nicht geschwiegen und das schwere Verdammungsurteil des Dresdner Parteitages über die Intellektuellen, die "roten Primadonnen". hätte mich wohl an erster Stelle betroffen und mich zum Wiederaustritt gezwungen, wie das auch Georg Bernhard traf.

Ich erkannte immer klarer, daß meine Hoffnung, in naher Zeit eine der großen Parteien zur Annahme meines Programms zu bewegen, eine Utopie war, wie gesagt, die einzige Utopie, die ich mir vorzuwerfen habe. Die sogenannte wissenschaftliche Presse der Sozialdemokratie, nicht nur Kautskys "Neue Zeit", sondern auch die revisionistisch gerichteten "Sozialistischen Monatshefte" ließen jedes meiner Bücher auf das unverständigste verreißen. Der Pole Marchlewski, der als Volkskommissar der Sowjets starb, hat mir gegenüber offen ausgesprochen, daß er es sehr bedaure, unter seinem Pseudonym Karski mein Erstlingswerk "Die Siedlungsgenossenschaft" so unverdient schlecht behandelt zu haben, aber die anderen Schwertgenossen Kautskys, der jetzt selbst zu spüren hat, was eine feindselige Kritik bedeutet, behandelten mich nicht anders, sondern schlachteten mich nach dem bekannten Schema regelmäßig ab, das mit größerem Wissen und unendlich mehr Geist Marx selbst gegen Proudhon, und Lassalle gegen Schultze-Delitzsch, aber schon ganz plump und roh Friedrich Engels gegen Dühring angewendet hatten. Mein alter Kampfgenosse, der spätere badische Staatspräsident Hellpach, der unter dem Namen Ernst Gystrow das Referat über die psychologischen Dinge in den "Monatsheften" hatte, schrieb damals gegen einen der größten Fanatiker der Orthodoxie, gegen Mehring, einen bekehrten Demokraten, der wie jeder Apostat zum Extremismus neigte, es sei nachgerade eine Ehre geworden, "in die Galerie von Idioten und Sykophanten aufgenommen zu werden", die er sich angelegt habe. An dieser üblen Praxis haben auch die [S.186] folgenden Jahrzehnte noch nicht viel geändert; noch 1919 hat kein Geringerer als Adolf Braun mich in seiner Kritik meines "Kapitalismus, Kommunismus, wissenschaftlicher Sozialismus" als einen schurkischen Karrieremacher denunziert, der sich durch seine "Marxtöterei" emporgeschoben hätte. Und dabei war ich soeben erst durch seinen eigenen Parteigenossen Hänisch als Mann von fünfundfünfzig Jahren zum Ordinarius in Frankfurt berufen worden!

Noch viel weniger war von der bürgerlichen Linken zu erhoffen. Freilich brachte 1896 das Berliner Tageblatt aus der Feder seines landwirtschaftlichen Sachverständigen, des späteren Ökonomierats Dr. Lothar Meyer, eine Anzeige meiner Siedlungsgenossenschaft, die mich für einige Tage in St. Moritz, wo ich zufällig weilte, zum Mittelpunkt der Aufmerksamkeit des internationalen Kapitalistenpublikums machte. Aber selbst ein so naher Freund wie der tüchtige liberale Volkswirt Dr. Gustav Levinstein wollte und konnte nicht verstehen, daß mein System durchaus nichts anderes darstellte als die konsequente Ausgestaltung des echten alten Liberalismus, wie Adam Smith selbst ihn begründet hatte, und lehnte mich in der "Nation" Theodor Barths freundlich, aber energisch ab. Und als ich einmal zu dem freisinnigen Abgeordneten Pachnicke kam, um ihn um die Förderung meiner praktischen Pläne zu bitten, strich er sich den "eitlen Vollbart" und hielt mir ein Kolleg von der Art, daß ich aufstand und mich mit den folgenden Worten empfahl: "Ich muß um Entschuldigung bitten, ich sehe, daß ich mich in der Adresse geirrt habe; ich dachte, zu einem freisinnigen Politiker zu kommen und sehe, daß ich zu einem konservativen geraten bin."

Diese Erfahrungen verleideten mir meine Tätigkeit als Schriftleiter der "Welt am Montag". Ich mußte erkennen, daß ich durch sie meinem letzten, ja einzigen Ziele, der rettenden Praxis, dem unmittelbaren Angriff auf die Wurzel aller Übel, die Bodensperre, nicht näherkam. Ich hatte mehr und mehr das Gefühl, von dem Publikum, das jeden Montag meinen mit "Janus" unterzeichneten Leitartikel verschlang, als eine Art von Löwenbändiger eingeschätzt zu werden; man wartete nur darauf, daß ich doch einmal von der Staatsanwaltschaft für meine Keckheit gefaßt würde. Das aber war nicht die Rolle, die ich auf die Dauer zu spielen gedachte. Dazu war es mir denn doch viel zu ernst; ich führte meine Streiche nicht, um meine Fechtkunst zu zeigen, sondern um zu siegen, um meine Gedanken zum Siege zu führen. Und so gab ich die Schriftleiterschaft [S.187] auf. Ich hatte eingesehen, daß es, wenn überhaupt, nur einen einzigen Weg zu meinem Ziele gehen konnte: den der Wissenschaft. Ich mußte meine Theorie positiv derart aus- und unterbauen, und negativ, durch die Kritik der entgegenstehenden Lehrmeinungen, derart sichern, daß ich alle Opposition zum Schweigen brachte. Diesen Weg bin ich seitdem ohne jedes Schwanken gegangen; er war freilich länger und mühsamer, als ich damals dachte.

So war ich denn wieder auf freie schriftstellerische Tätigkeit angewiesen, um mich zu ernähren. Damals gründete Scherl den "Roten Tag" mit der guten, allerdings bald wieder aufgegebenen Absicht, eine Plattform zu schaffen, von der aus Politiker aller Richtungen zu der Öffentlichkeit sprechen könnten. Es war fast selbstverständlich, daß man mir die Vertretung der schärfsten demokratischen und zugleich arbeiterfreundlichen Richtung übergab. Als das Blatt immer mehr in die staatsfromme und kapitalistenfreundliche Richtung einbog, beschränkte ich meine Mitarbeit auf gelegentliche Buchkritiken und auf die Verfertigung satirischer Verse, die ich mit dem Kriegsnamen "Gottlieb" zeichnete. Leider habe ich mir das Recht auf diesen Namen nicht vorbehalten, und so sind dann später eine ganze Anzahl solcher Verse unter diesem Namen erschienen, für die ich die Verantwortung nicht zu tragen habe. Zuletzt wurde meine Stellung bei dem Verlag eine reine Sinekure; August Scherl, der das größte Vertrauen zur Graphologie hatte, hatte sich in meine Handschrift verliebt; außerdem hatte ich ihm bei der Redaktion seiner berühmten Broschüre über die Sparlotterie Dienste geleistet, die er über Gebühr einschätzte. Er stellte mich mit einem für meine damaligen Begriffe fabelhaften Gehalt an, unter der einzigen Bedingung, für keine andere Tageszeitung zu schreiben und ihm gelegentlich für seine philanthropischen Pläne schriftstellerische Hilfe zu leisten. So war mir Jahre hindurch die sehr erwünschte Möglichkeit gewährt, mich sorgenfrei nur meiner wissenschaftlichen Arbeit zu widmen.

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KRITIK UND KRITIKER

"Die Büchlein haben ihre Geschichte." Man kann als Schriftsteller auch in der Wissenschaft Glück oder Unglück haben, je nachdem die Gedanken, die man vorträgt, von einer Welle der Zeitströmung emporgetragen oder im Wellental begraben werden. Drei der besten Namen meiner Wissenschaft traf das letztgenannte Schicksal: Der erste war der wohl bedeutendste aller Merkantilisten, Sir James Stuart, dessen Werk von 1766 von dem zehn Jahre später erschienenen berühmten "Völkerwohlstand" des großen Schotten Adam Smith überstrahlt und in Vergessenheit gebracht wurde, von einem Werke, das im übrigen auch einen Teil seines ungeheuren Erfolges sicherlich der Konjunktur verdankt. Der zweite war Friedrich List, den die Verständnislosigkeit seiner Zeit zuletzt zum Selbstmord trieb, und der dritte Hermann Gossen, der Schöpfer der "Grenzwertlehre", der verzweifelt sein Buch*) zurückzog und einstampfen ließ. Er starb an gebrochenem Herzen. Hätte sich nicht zufällig das einzige gerettete Exemplar an der Stelle gefunden, wo alle Bücher sich finden, in der Bibliothek des Britischen Museums, so würde niemand heute von dem Manne und seinem Buche etwas wissen, das dreißig Jahre später, bei günstiger Konjunktur, die Gedankengrundlage einer Schule geworden ist, die dann mehrere Jahrzehnte hindurch die Hochschulen fast monopolistisch beherrscht hat, der "Grenznutzenschule".

Meine Bücher, die ich in einer meinen nunmehrigen Fachgenossen geradezu unheimlichen Fruchtbarkeit Schlag auf Schlag erscheinen ließ, fanden für sich die schlechteste Konjunktur vor, die sich wohl erdenken läßt. Die drei Eigenschaften, die ich mitbrachte, waren ebenso viele Hindernisse für einen Erfolg. Ich war Theoretiker, Synthetiker und als solcher parteilos. (Und daß ich Jude war, hat mir sicherlich auch nichts genutzt. Fontane bemerkte, daß die Sortimenter fast durchweg nur die unter dem unzweideutigen Namen Oppenheimer erscheinenden Bücher seines Verlages nicht bestellten.)

Ich war Theoretiker. Gerade zu der Zeit aber war die Theorie, und vor allem in Deutschland, in eine Verachtung gesunken, von der man

Fußnote:
*) Entwicklung der Gesetze des menschlichen Verkehrs. 1853.

[S.189] sich heute kaum eine Vorstellung machen kann. Das hatte geistesgeschichtliche und konjunkturelle Ursachen, die wieder miteinander zusammenhingen und sich gegenseitig verstärkten. In der Zeit der Klassiker, etwa mit dem Höhepunkt Hegel, hatte das theoretische Denken einen Ikarusflug gewagt, bei dem es verunglückte. Diese Philosophie und die in ihr wurzelnde klassische Nationalökonomie hatten, weil sie kosmopolitisch waren, schon an sich den Widerstand der nationalistisch gestimmten Gruppen hervorgerufen, die man mit der sehr allgemeinen Bezeichnung der "Romantik" zusammenfaßt. Ihre Wortführer suchten nicht, was richtig gewesen wäre, in den Voraussetzungen und im Schlußverfahren der ihnen verhaßten Theorie die Ursachen der klar zutage liegenden Fehlschlüsse, sondern machten, was falsch war, die Theorie als solche dafür verantwortlich. Sie setzten der unhistorischen Auffassung der Klassiker die historische entgegen. Diese Revolution vollzog sich zuerst in der Jurisprudenz, als die historische Schule unter Savigny gegen die Naturrechtler auftrat, und hatte ihre Fortsetzung in der Rebellion der Schule gleichen Namens der Nationalökonomie, unter Führung zuerst von Roscher, Knies und Hildebrandt, dann von Gustav Schmoller. Sie verwarf ursprünglich alles theoretische Denken überhaupt und setzte sich das Programm, zunächst einmal alle nur erreichbaren Tatsachen der Wirtschaftsgeschichte und der zur Zeit bestehenden Wirtschaftsordnung genau festzustellen, mit der Hoffnung, aus ihnen die Gesetze auffinden zu können.

Diese Bestrebungen, als geistesgeschichtliche Reaktion gegen Ausschreitungen einer nicht genügend fundierten Theorie wohl verständlich, aber an sich aussichtlos, was im Lande eines Kant jeder sofort hätte sehen müssen, gelangten nun zu einer fast terroristischen Herrschaft über die Hochschulen durch eine eigentümliche Gunst der Konjunktur. Die bürgerliche Theorie der Nachklassiker hatte mit dem sensationellen Abschwenken ihres Parteipapstes John Stuart Mill zu einer Auffassung, die dem Sozialismus außerordentlich nahekam, um 1860 ihren Bankerott erklärt. Fast zur gleichen Zeit meldete sich mit Marx ein Kopf, der mit ungleich größerer Genialität als seine Vorgänger, als selbst ein Proudhon, mit der Methode der Klassiker und von den Grundvoraussetzungen ihres größten Meisters, Ricardo, aus eine vortrefflich aufgebaute und verschanzte sozialistische Theorie vortrug. Dieser staatsfeindlichen Lehre konnte der Staat seine Lehrstühle nicht ausliefern. Unter [S.190] diesen Umständen boten sich ihm die Wirtschaftshistoriker als die prädestinierten Ersatzmänner an. Untersuchungen über eine mittelalterliche Rheinzoll- oder Zunftordnung oder statistische Untersuchungen über das Wachstum irgendeines Gewerbes in irgendeiner Stadt waren für den Staat und für die in ihm herrschende gesellschaftliche Gruppe vollkommen ungefährlich, während die noch bestehenden Theoretiker, z. B. Adolf Wagner, sich doch in sehr peinlicher Weise den sozialistischen Anschauungen und Forderungen näherten.

Diese Schule hat in ihrer mehr als dreißigjährigen absoluten Herrschaft über die deutschen Universitäten nicht nur die Theorie, sondern auch die einzig mögliche Grundlage jeder Theorie, die Methode, so gut wie völlig ausgerottet. Was dies für Folgen gehabt hat, das habe ich soeben in einer für den engsten Kreis der deutschen Theoretiker bestimmten Untersuchung über den Wert mit folgenden Worten dargestellt: "Unsere Theorie befindet sich in einer geradezu verzweifelten Lage, wie kaum ein Sachkenner bezweifelt. Ihre Vertreter finden sich in allen denkbaren politischen und wirtschaftlichen Lagern, rechtfertigen alle denkbaren politischen und wirtschaftlichen Maßnahmen mit einander schnurstracks widersprechenden theoretischen Argumenten, und so ist unsere Wissenschaft heute um jeden Kredit gekommen; sie sollte die Führerin sein und ist zur verachteten Magd geworden . . . Das liegt daran, daß der deutschen Fachwissenschaft die Methode in einem geradezu schauerlichen Maße verlorengegangen ist; . . . ich habe zeigen können, daß selbst die elementarsten Begriffe heute von fast allen Vertretern der Theorie nicht mehr richtig aufgefaßt werden. Und es gibt fast niemanden mehr, der einen so grundlegenden Autor wie Ricardo richtig auszulegen wüßte."

Die historische Schule ist nach dem Tode Schmollers plötzlich nicht nur zusammengebrochen, sondern sozusagen spurlos verschwunden wie eine Seifenblase; die geplatzt ist. Es war endlich doch klar geworden, daß es ohne Theorie nicht geht. Die Wissenschaft erstickte in dem massenhaft zusammengebrachten Material; ein Spötter durfte in bezug auf die statistischen Untersuchungen von "Zahlenfriedhöfen" reden, in denen die Veröffentlichungen schlummern, ein anderer durfte mit einiger Übertreibung behaupten, daß die Veröffentlichungen des "Vereins für Sozialpolitik", des Organs der Schule, nur von drei Menschen gelesen würden: von [S.191] dem Autor, dem Korrektor und dem Kritiker. Als ich aber mit meinen ersten Büchern auftrat, war die Schule auf der Höhe ihrer Macht und ihres Selbstbewußtseins, und schon der Umstand, daß hier Theorie vorgetragen wurde, genügte zu ihrer Verurteilung. Dazu kam noch, daß ich gezwungen war, scharf anzugreifen: ich konnte der Schule nachweisen, daß sie den Hauptwendepunkt ihres Hauptarbeitsgebiets, der deutschen Gewerbegeschichte, um hundertachtzig Jahre zu spät angesetzt hatte, auf 1550 anstatt auf 1370, weil sie weder den historischen noch den ökonomischen Zusammenhang richtig verstanden hatte. Da war verächtliches Stillschweigen die beste Abwehr. Der einzige Karl Lamprecht, der zwar selbst ein aus gezeichneter Wirtschaftshistoriker, der Schule aber verdächtig war, weil er seinen Stoff theoretisch zu beherrschen versuchte, stimmte mir bei. Ich habe in der zweiten Auflage meines Buches "Großgrundeigentum und soziale Frage" seinen Brief abgedruckt. Aber auch er wagte es nicht, um eines unbekannten Outsiders willen den Zorn der Allmächtigen auf sich zu ziehen: als Julius Wolf ihn aufforderte, in seiner "Zeitschrift für Sozialwissenschaft" mein Buch anzuzeigen, lehnte er ab. Dieses Buch hat denn auch meines Wissens in zweiunddreißig Jahren noch nicht eine einzige Kritik von wirtschaftshistorischer Seite erfahren*).

Nicht minder stand meinem Erfolge im Wege, daß ich ein Synthetiker bin. Wäre ich nur ein Theoretiker der üblichen Art gewesen, der irgendeinen Lehrsatz oder irgendein älteres Buch zum Gegenstand seiner Lebensarbeit macht, wäre ich, kurz gesagt, ein Spezialist gewesen, so hätte ich mich doch etwas schneller durchsetzen können. Es gab ja noch eine Anzahl von Gelehrten, die sich derart mit Theorie beschäftigten und sogar unter ihnen einige, die wirklich etwas davon verstanden. Aber ein Theoretiker von Format kann nun einmal nicht Spezialist sein. Er stößt notgedrungen überall an den Grenzen seines Gebiets auf Nachbarwissenschaften, die er heranziehen muß, entweder weil sie ihm die Voraussetzungen seiner Arbeit zu liefern haben, oder weil nur mit ihrer Hilfe seine Gedanken weiter entwickelt werden können. Es gibt nämlich nur eine einzige Wissenschaft; wer einmal einen ihrer Zipfel erfaßt hat und

Fußnote:
*) Seit ich dies schrieb, hat Otto Hintze, Berlin, in einer sorgfältigen Anzeige meines Systems der Soziologie dieses Buch wenigstens achtungsvoll erwähnt, aber ohne sich näher darauf einzulassen.

[S.192] zu sich her der bringt das ganze Tuch in Bewegung und muß erkennen, daß es natürliche Grenzen nicht gibt, daß alle zwischen den einzelnen Teilwissenschaften gezogenen Grenzen nur künstliche sind. Nun brachte ich schon in meine ersten Bücher ein gutes Stück der naturwissenschaftlichen Methode und der medizinischen Fragestellung ein und griff über die engeren, künstlichen Grenzen der ökonomischen Theorie unbekümmert überall dort hinaus, wo die Probleme mich dazu aufforderten: auf Ethnographie, Geschichte, Psychologie, Soziologie, Ethik usw. usw. Das aber war die zweite Todsünde gegen den Geist der Zeit. Der Synthetiker weiß den Spezialisten zu schätzen, denn er ist sich darüber klar, daß sicheres Wissen nur durch die spezialistische Bemühung gewonnen werden kann. Aber er weiß auch, daß noch so sicheres und noch so massenhaftes Wissen noch keine Wissenschaft ausmacht. Denn Wissenschaft heißt einheitliches, unter möglichst wenig Gesetze geordnetes und derart beherrschtes Wissen. Das aber will und kann der Spezialist nicht zugeben, und darum haßt er den Synthetiker, den Universalisten aus Herzensgrund. Die Männer, von deren Urteil der zeitliche Erfolg meiner Arbeit damals abhing, die Wirtschaftshistoriker, waren zum Teil Spezialisten im allerengsten und allerkleinsten Sinn. Es ist charakteristisch, daß Ibsen in seiner "Hedda Gabler" einen Gelehrten dieser Schule auswählte, um ihn als einen "Fachmann" im verächtlichsten Sinne dem genialen Lövborg gegenüberzustellen. Die Franzosen haben für jenen den Begriff "érudit",  für diesen das Wort "savant".

Drittens aber war ich parteilos, da ich ja behauptete und behaupte, die versöhnende Synthese im Hegelschen Sinne der scheinbar unversöhnlichen Gegensätze Liberalismus und Sozialismus gefunden zu haben, jene "Aufhebung" im dreifachen Sinne, daß erstens der Gegensatz verschwindet, daß zweitens die kontrastierenden Gedanken aufbewahrt und daß sie drittens auf eine höhere Ebene empor gehoben werden. Da nun in unserem Deutschland noch mehr als anderswo das schöne Wort in Geltung ist: "Und willst du nicht mein Bruder sein, so schlag ich dir den Schädel ein", so war es ein wahres Spießrutenlaufen für mich. Es fiel niemandem ein, meine Gedanken nachzudenken; es war jedem ohne weitere Untersuchung klar, daß alles Unsinn sein müsse. So bekam ich von den Bürgerlichen meine Schläge, weil ich ein Sozialist, und von den Sozialisten, weil ich ein Bürgerlicher sei. Ich muß herzlich lachen, wenn [S.193] ich das Sprichwort lese, wonach "der Weg der Mitte der der höchsten Sicherheit ist".

Dazu kam nun schließlich noch ein viertes: ich warf meine Gedanken dem wissenschaftlichen Publikum sozusagen mit Gewalt, sogleich in zwei starken Bänden, an den Kopf. Mein Schwager Steindorff, damals schon seit einem Jahrzehnt akademischer Lehrer, der die Psychologie der Universitätsbürokratie vortrefflich kannte, gab mir vergeblich den ausgezeichneten Rat, meine Ergebnisse sozusagen im Kleinverkauf auf den Markt zu bringen, d. h. in den verschiedensten Zeitschriften zu publizieren. Dann wären sie bestimmt gelesen worden und hätten, an sich, außerhalb ihres systematischen Zusammenhanges, scheinbar politisch sehr harmlos, wohl auch ihren Eindruck nicht verfehlt. Denn ich hatte ein paar wirklich neue, wichtige und interessante Dinge z. B. über das Genossenschaftswesen herausbekommen. Aber ich konnte den guten Rat nicht befolgen. Ob mit Recht oder Unrecht: ich hatte das Bewußtsein, das ungeheure Problem gelöst zu haben. Als ich an meinem dreißigsten Geburtstage auf dem Petersplatz in Rom stand und auf dem Obelisken die Inschrift las: "Den entscheidenden Sieg hat errungen der Löwe vom Stamme Juda", da hämmerte mir das Herz in der Brust: bin ich doch vom Stamme Juda! Es war zwecklos, einem jungen feurigen Manne, der davon überzeugt war, der Welt eine neue "frohe Botschaft" zu bringen, die Vorsicht eines Karrieremachers anzuempfehlen. Ich mußte meinen Weg gehen, wie ich ihn gegangen bin.

[S.194]

ALPENFAHRTEN

Von meiner Jugend an habe ich immer gewußt, daß mein starker Körper genau so gut der Arbeit bedurfte wie mein Gehirn. Schon als Knabe fühlte ich, ohne es mir klar zu Bewußtsein zu bringen, daß die starken Pubertätsspannungen eines heftigen Temperaments in gesunder Weise nur durch Ableitung auf energische Muskelanstrengung entladen werden könnten. Mein erster Sport in der Zeit waren lange Ruderfahrten, zumeist auf der Oberspree, die mich oder vielmehr uns, eine kleine Schar gleichgesinnter Mitschüler, oft bis in den Müggelsee oder nach Grünau brachten. Dort habe ich zuerst die köstliche Entspannung kennen und bedürfen gelernt, die, während der Körper selig müde ist, dem Geist die Flügel freigibt, um sich in freudiger Kraft emporzuschwingen. Als Student reagierte ich die innere Schwüle auf dem Fechtboden ab, den ich, fast immer Fechtwart, mit der größten Regelmäßigkeit zu besuchen hatte, um selbst auf der Höhe zu bleiben und die jüngeren Semester "einzupauken". Dazu kamen dann die langen Wanderungen in der Nähe von Berlin und in den Ferien durch die deutschen Mittelgebirge. Später wurde ich ein eifriger Radfahrer; ich habe mit meinem um zehn Jahre jüngeren Bruder große Radreisen gemacht, wobei unser Programm selten weniger als hundertfünfzig Kilometer Tagesleistung vorsah. Auch in der edlen Fechtkunst suchte ich mich weiterzubilden; ich habe unter dem leider soeben verstorbenen Meister Schiavoni im Berliner Fechtklub eifrig und mit einigem Erfolge Florett gestoßen. Und ich war unter den ersten Skifahrern in Deutschland.

Aber das große heilsame Gegengewicht gegen die angespannte Geistesarbeit fand ich doch durch Jahrzehnte hindurch in meinen Bergfahrten, vor allem in den Alpen, die ich in allen ihren Hauptgruppen durchstreifte und in denen ich zwischen zwei- und dreihundert Gipfel bestieg, aber auch in der Sächsischen Schweiz, dem wunderbarsten "Klettergarten", der sich erdenken läßt. Vom Jahre 1888 an bis 1921 habe ich fast jedes Jahr vier bis fünf Wochen Gipfel auf Gipfel gestürmt; die Berge waren das Paradies meines Mannesalters; hier fiel von mir ab, was mich in einem nicht immer leichten Leben an Kummer und Sorgen bedrängte; hier brach Jugendfrische

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und Jugendlust immer wieder freudig durch, hier holte ich mir immer wieder die Kraft der Muskeln und des Herzens und das Selbstvertrauen zur eigenen Stärke und Dauer, das vielleicht wichtiger ist als die rein körperliche Kraft. Selbstverständlich hätte ich die zuweilen an die Grenze des Unmöglichen streifenden Anstrengungen nicht ertragen können, wenn mir nicht von meinen Eltern ein starker Körper und ein eiserner Wille mit ins Leben gegeben worden wären: aber auf der anderen Seite bin ich fest davon überzeugt, daß ich mir beides nicht hätte erhalten können ohne diese Fahrten. Wenn ich heute, an der Schwelle des Greisenalters, mit siebenundsechzig Jahren, immer noch, trotz einer peinlichen Familienerbschaft, einer schweren Bronchitis, ein verhältnismäßig frischer Mann von ungebrochener geistiger Schaffensfreude bin, so danke ich das meinem Lieblingssport, dem Alpinismus.

Noch im Jahre 1921 konnte ich recht schwierige führerlose Touren in Tirol mitmachen und teilweise sogar führen. Dann aber traf mich ein schwerer Unfall: als Gast meines Freundes Richard Sichler auf seinem Schloß Bürglen bei Basel verunglückte ich, als ich in einer klaren Nacht mich einer meiner großen Freuden hingab, der Beobachtung des gestirnten Himmels. Ich vergaß, daß eines Umbaues wegen die Gartenmauer an einer Stelle durchbrochen war, und stürzte durch die Lücke etwa fünf Meter tief auf die nächste Terrasse hinunter. Ein schwerer komplizierter Bruch des linken Oberschenkels war die Folge, der es mir fortan unmöglich machte, so große und schwierige Wanderungen zu unternehmen. Ein schmerzliches Verzichten! Vor einigen Jahren las ich die erschütternden Verse, die der ausgezeichnete englische Bergsteiger Young dichtete, als ihn ein ähnliches Schicksal getroffen hatte; er hatte im Kriege ein Bein verloren. Sie lauten in einigermaßen getreuer Übersetzung:

Nichts raubt der langen Tage Zauber mir.
Auf sternbeglänztem Pfad
durchwandl' in Träumen ich mein Bergrevier,
Meister von Firn und Grat.
Zerbrach mein Glas, eh halb den Wein ich trank:
Mein sind die Gipfel, mein, die ich bezwang*).

Fußnote:
*) I have not lost the magic of long days, I feel them, dream them still. Still I am master of the starry ways and freeman of the hill. Shattered my glass, ere half the wine had run, I hold the heights, I keep the heights, I won.

[S.196] Dieser Trost ist auch mir geblieben. Wenn ich abends zwischen Schlaf und Wachen liege, zieht oft an meinen Augen ein herrlicher Film vorüber, Talschluß nach Talschluß, silberblinkende Gipfel und stolze gleißende Nadeln über engen Tälern, in die die Gletscherzungen hinabdringen. Ich kann fast niemals Ort und Namen bestimmen; es sind Bilder, die sich in mein Unterbewußtsein eingebrannt haben und herrlich wiederkehren, wenn das Wachbewußtsein erschlafft. Und dann träume ich zuweilen, daß ich wieder als rüstiger Steiger unterwegs bin und fühle beim Erwachen nicht den Schmerz des Verlustes, sondern die Seligkeit des Besitzes.

Mein getreuer Begleiter in diesen dreißig Jahren war mein Bruder Carl, den die gleiche Leidenschaft beherrscht, ein ausgezeichneter Steiger in Fels und Eis und mir weit überlegen durch die große Fähigkeit, sich zu orientieren, die mir nicht gegeben ist. Wir sind uns mehr als nur leibliche Brüder geworden in dieser echten Kameradschaft; wir haben Gefahren und Freuden, wir haben das letzte Stück Brot und den letzten Tropfen Tee redlich miteinander geteilt, wir haben uns mehr als einmal in schwerer Gefahr das Leben gerettet. So waren wir einmal nach langer schwieriger Kletterei auf einem neuen Wege auf den Grat der Spritzkarspitze gelangt, und unser Führer, Georg Futterer, sagte: "Jetzt können wir Rucksäcke und Seil hierlassen, von hier bis zum Gipfel ist es ein Spaziergang." Als wir aber auf dem breiten Grate etwa hundert Meter weiter westlich gegangen waren, fanden wir uns vor einer tief eingerissenen Scharte, die zu überklettern war. Futterer sagte: "Herrgott, bin ich nun das letztemal näher zum Gipfel heraufgekommen oder ist die Scharte inzwischen ausgebrochen! Soll ich das Seil holen? Ach, die Herren klettern so ausgezeichnet, es geht auch so." Wir gingen, Futterer voran, ich in der Mitte, mein Bruder als letzter, rechts und links gewaltige Abgründe. Als wir etwa auf der tiefsten Stelle angelangt waren, hörte ich hinter mir einen unterdrückten Ruf. Ich stand selbst nicht sehr sicher, konnte aber mit der rechten Hand nach hinten greifen und meines Bruders Gürtel fassen. Ich merkte, wie er sich herumwarf, und fragte über die Schulter zurück, was geschehen sei. Er antwortete mit seiner klassischen Ruhe: "Hättest du mich nicht eben gehalten, so läge ich jetzt im Spritzkar." Ihm war ein Block ausgebrochen.

In den ersten Jahren war unser regelmäßiger Begleiter der Privatdozent für mathematische Physik an der Universität Göttingen, [S.197] später Professor in Turin, Max Abraham. Er ist in jungen Jahren gestorben. Frohe und ernste Erinnerungen verknüpfen sich mir mit seinem Gedächtnis. Zwei davon will ich erzählen. Jeder von uns hatte zum gemeinsamen Vorrat ein Kilo bester Dauerwurst mitzubringen gehabt; meine und meines Bruders Beisteuer war längst verzehrt. aber " Abs" hütete die seine mit Argusaugen, für einen Notfall, wie er meinte. Eines schönen Abends stahl ich ihm die Wurst aus dem Rucksack und schleppte sie unverdrossen die Rosengartenspitze hinauf und wieder herunter. Als wir am Gart'l zum Frühstück niedersaßen, sagte ich "Na, Abs, ich will es nur gestehen, ich habe noch eine Wurst." "Heraus damit!" Als wir mit Wilhelm Busch sagen konnten: "Die Wurst ist fort bis auf die Schläue", machten wir ihm ohne viel Schonung die notwendigen Eröffnungen. Seine Empörung war grenzenlos, und wir rollten uns vor Lachen. Diese Episode hieß seitdem in unserem Kreise "das Opfer Abrahams".

Ein anderes Mal hatten wir die Weißkugel überschritten und stiegen auf einem unendlichen Wege zum Wirtshaus am Südende des Hochjochs ab. Wir waren vom frühen Morgen bis nach Anbruch der Dämmerung unterwegs, und Abraham hatte nicht ein Wort geäußert oder ein Zeichen gegeben, daß er litte. Aber nach der Ankunft bat er mich, noch einmal nachzusehen, und ich fand, daß ihm der Darm herausgetreten und bereits eingeklemmt war. Es war mir unmöglich, ihn noch zurückzubringen. Schleunigste Operation war geboten, aber bis zur ersten Talstation, wo ein Wagen zu erlangen war, waren es noch mehrere Stunden Wegs talaus. Um ihm den Marsch zu erleichtern, ließen wir unsere Rucksäcke durch einen Träger befördern. Er muß furchtbare Schmerzen ausgehalten haben, aber er trug sie mit dem Stoizismus eines Indianers am Marterpfahl. Kein Wort der Klage, kein Zucken des Gesichts! Ich wollte ihn durch ein interessantes Gespräch ablenken und hielt ihm einen Vortrag über mathematische Nationalökonomie, namentlich über den sogenannten "Grenznutzen". Ich war damit noch nicht ganz fertig und vollendete meine Auseinandersetzung, während wir im Wirtshaus auf den Wagen warteten, der uns nach Nauders führen sollte. In zwischen kam der Träger herein, ich entlohnte ihn und sagte warnend: "Also, Sepperl, denken Sie daran: nicht schnell bergauf laufen, vor allem nicht schwer bergauf tragen!" Da blickte der einzige Tourist, der außer uns in der Gaststube saß, mir mit so intensiver [S.198] Frage ins Gesicht, daß ich unwillkürlich die Antwort gab: "Der Bub hat eine Mitralstenose." (Eine Herzkrankheit.) Da sprang der Mann auf und rief: ,,Grenznutzen und Mitralstenose? Sie sind Franz Oppenheimer aus Berlin." Es war der Privatdozent Wlassak aus Wien, ein bekannter Vorkämpfer der Antialkoholbewegung.

In späteren Jahren gingen wir zumeist mit meinem Vetter, dem jetzigen Justizrat Adolf Nassau in Hagen, einem kaum mittelgroßen, aber fabelhaft zähen, muskel- und herzstarken Manne, einem geborenen Bergsteiger: schwindelfrei, kniefest und trittsicher. Er kam als Radfahrer nach einem unserer Lieblingsplätze, St. Anton am Arlberg, wir ließen ihm Bergstiefel machen, kauften ihm einen Rucksack und nahmen ihn in die Mache. Hatten wir beide lange Jahre gebraucht, ehe wir uns an die schwierigeren Berge wagten, so übersprang er diese ganze Periode im Vertrauen auf unser Urteil. Schon seine dritte Tour war die Überschreitung des Paterjol im Gebiete des Ferval, und noch im gleichen Jahre bezwang er in unserer Gesellschaft Tödi, Jungfrau und Finsteraarhorn. Von da an war seine wie unsere Grenze nichts anderes mehr als die Führertaxe; wir konnten uns die allzu teuren Gipfel nicht leisten: aber er war mit auf Bernina, Roseg und Matterhorn und in den Dolomiten auf der Fünffinger- und der Grolmannspitze und auf sehr vielen anderen bedeutenderen Hochgipfeln. Ein immer froher, nie ermüdender Kamerad, voll kaustischen Witzes, der es namentlich verstand, Zitate aus Wilhelm Busch an passender Stelle anzubringen.

An diese Kerngruppe schlossen sich häufig für ganze Reisen oder einzelne Gipfel andere Freunde: der bedeutende Biologe, jetzt Mitglied des Rockefeller-Instituts in New York, Leonor Michaelis, genannt Plisch, ein Ingenieur Schönlank, unser bester Mann im Fels, Walter Hecht, den im letzten Kriegsjahre als Hauptmann der Artillerie die tödliche Kugel traf; auch Schönlank wurde ein Opfer der großen Katastrophe. Dann Junk, der Inhaber des berühmten naturwissenschaftlichen Verlages, dessen Verdienste vor einigen Jahren zwei große Universitäten mit dem Ehrendoktor entlohnt haben, sein Bruder, Auditeur im österreichischen Heere, und später der Berliner Augenarzt Dr. Kann, ein meisterlicher Bergsteiger in Eis und Fels, der auch auf den schwierigsten Touren die Führung übernahm. Von da an gingen wir fast immer führerlos; die Freude des Wegsuchens und Wegfindens, die viel größere Verantwortlichkeit und die Freude [S.199] an der selbständigen Überwindung aller Schwierigkeiten verdoppeln ja den Genuß an solchen Fahrten.

Vorher hatten wir fast regelmäßig unseren Führer-Freund Heinrich Matt aus Pettneu am Arlberg mit uns. Er war ein kleiner Lokalführer, als wir ihn kennenlernten; aber einige Jahre darauf, nachdem er mit uns mehrfach im Berner Oberland und Wallis und allen Teilen von Tirol gewesen war, führte ihn das Führerverzeichnis des Deutsch-österreichischen Alpenvereins als einen der Männer an, "mit denen man in Eis und Fels alles wagen kann". Er war nicht nur ein ausgezeichneter Techniker, sondern besaß eine ans Wunderbare grenzende Orientierungsgabe, einen Instinkt für die Gestaltung des Berges, der ihn nie täuschte. Er fand auch im unbekannten Gelände seinen Weg mit unfehlbarer Sicherheit. Wir haben ihn groß gemacht; er ist heute ein wohlhabender Wirt in Landeck, und er hat es uns von Herzen gedankt. Als er mit niemandem mehr ging, für uns war er immer wieder zu haben; er hat noch meine Kinder auf ihren ersten Besteigungen geführt. Nur zweimal haben wir sein Mißfallen erregt, das eine Mal, als wir im Brienzer See ein Schwimmbad nahmen. Er sagte mißbilligend: "Davon kriegt man nur weiche Füße." Und das zweite Mal, als wir ihn mit nach Pontresina genommen hatten. Wir hatten den Bernina gemacht, hatten günstige Eisverhältnisse vorgefunden und kamen noch zum Diner im Hotel zurecht. Als er später kam, um den nächsten Tag zu bereden, fand er uns in Smoking und Krawatte, uns, die er nie anders als in Leder- oder Velvethose und in einer reichlich abgewetterten Joppe gesehen hatte. Er war tief enttäuscht und betrübt darüber, daß "der Franzl, der Karl und der Adolf" sich nach so langer Zeit als "Stadtfräck" enthüllten!

Was waren das jedesmal für reiche, für erfüllte Wochen! Wir teilten nicht nur die Strapazen und die Freuden der Bergfahrten miteinander, sondern gaben uns gegenseitig das Beste, was wir hatten: unser Wissen, unsere Gedanken. Wir waren schweigsam, wenn wir unter dem wuchtigen Rucksack der Führerlosen unsern Weg aufwärts erzwangen und im schwierigen Gelände auch im Abstieg. Aber auf den Wegen zu den Hütten zurück und in den Hütten selbst, namentlich an regnerischen Tagen, wenn uns unerwünschte Rast aufgezwungen war, dann hoben sich die Schleusen, und jeder sprach von seiner Arbeit, von seinem Streben, von seinen Plänen und Entwürfen. Schon bei meiner allerersten Wanderung von 1888, [S.200] die ich noch als "Jochfink" machte, hatte ich das Glück, in meinem späteren Schwager, dem jetzigen Professor Paul Oppenheim, einen der Geologie und Botanik gleich kundigen Begleiter zu haben, der mir über die Struktur der Alpen unvergeßliche Vorträge hielt. Das freilich ist ihm nicht gelungen, über meine stupende Unbegabtheit für die Botanik den Sieg zu erringen; mir fehlt das Formengedächtnis fast vollständig. Es wäre ein Wunder zu nennen, daß einer meiner Söhne Botaniker geworden ist, wenn die Natur in ihrer Weisheit nicht die "Mischänderung" erfunden hätte, wenn sich die Anlagen von der mütterlichen Seite her nicht ebenso vererbten wie von der väterlichen. Hier war ich lediglich der Empfangende gewesen, aber in all den späteren Jahren war es ein fröhliches Nehmen und Geben. Zwei Biologen und Mediziner von großem Format wie mein Bruder und Michaelis, ein Jurist von Scharfsinn und Erfahrung wie mein Vetter Nassau, das brachte schon die Grundelemente für ein Gespräch zusammen, das über alle Höhen und durch alle Tiefen der Natur- und Geisteswelt führte. Und es ist öfter als einmal geschehen, daß vom Nebentische her Menschen aufmerksam herüberlauschten, um zu erfassen, was sich die wettergebräunten Gesellen an unserem Tisch alles mitzuteilen hatten.

Nun wolle man aber nicht glauben, daß wir uns dauernd auf so hohem Niveau bewegten. Unsere selige Entspanntheit, die göttliche Freiheit des naturbegeisterten Wanderers in der Bergwelt ließen wenigstens ebensooft die Pforten frei, durch die frischester Übermut und gesegneter Blödsinn karnevalslustig in die Welt sprangen. Oft und oft haben wir uns, wenn eine gar zu norddeutsch-steife Gesellschaft den Gastraum der Hütte frostig machte, in die Küche verzogen, um mit den Führern, den Sennen und Sennerinnen der benachbarten Alp und, um das Wichtigste nicht zu vergessen, der Jungfer Köchin den herben Rotwein zu trinken und uns an Lied- und Zithergesang zu erfreuen. Wir brachten fast von jeder unserer Reisen neue Volkslieder und stachelige, zuweilen nicht ganz stubenreine Schnadahüpfeln mit, und wir verschmähten es auch nicht, gelegentlich eine Partie, horribile dictu, Poker zu spielen, allerdings nur zu Pfennigsätzen, einen "Kinderpoker", einen "Juxpoker", bei dem es darauf ankam, wer am unverschämtesten zu "bluffen" verstand. Einmal haben wir auf der Spitze des Piz Buin eine Runde dieses edlen Spiels gemacht, um wahrheitsgemäß sagen zu können, daß wir "den höchsten Poker der Welt" gespielt hätten: der Berg ist [S.201] über dreitausendeinhundert Meter hoch. Die Fröhlichsten von allen waren mein lieber, längst verstorbener Vetter Berthold Nathusius, mein Begleiter auf der schönen Wanderfahrt von 1893, über die ich in der Vossischen Zeitung in meinen "Tiroler Wanderbriefen" berichtet habe, und mein Vetter Adolf. Eins seiner lustigen Stückchen mag dieses frohe Kapitel schließen:

Wir saßen bei Regenwetter in Gossensaß am Brenner fest; ich schrieb, da kam er herein und fragte mich in vollem Ernst: "Hast du schon einmal einen Hund geraucht?" Ich drohte ihm mit Tod und Vernichtung, aber er blieb dabei, daß hierorts Hunde geraucht würden und verschleppte mich, der ich der Lösung des Rätsels gespannt entgegensah, auf das Postamt. Dort wies er mir einen Anschlag. ,,Das Rauchen und Mitbringen von Hunden ist verboten." Dann entzog er sich in feiger Flucht meiner Rache.