[S.202]
PRIVATDOZENT
Meine Schüler sagen von mir, daß ich ein guter Lehrer sei; jedenfalls ist das Unterrichten von jeher eine meiner großen Passionen gewesen. Und so liebäugelte ich denn schon verhältnismäßig früh mit dem Gedanken, mich als Privatdozent für Nationalökonomie und Soziologie zu habilitieren. Der einzige Fachmann der Berliner Universität, zu dem ich etwas engere Beziehungen hatte, war Max Sering. Ihm verdankte ich es und bin ihm noch heute dafür dankbar, daß ich für mein erstes größeres Buch, die "Siedlungsgenossenschaft", einen Verleger fand: Duncker & Humblot in Leipzig. Ich hatte dann ein Semester hindurch an seinem Seminar teilgenommen, wußte mich seines Wohlwollens versichert, und so fragte ich eines Tages bei ihm an, wie er sich zu dem Gedanken meiner Habilitation stelle. Er war sehr erstaunt: ich sei doch eigentlich mehr ein "Schriftsteller" als ein Gelehrter. Die Verständnislosigkeit, die der Spezialist - und Sering ist ein ausgezeichneter Spezialist für sein Sonderfach, die Agrarpolitik - dem Synthetiker, dem Universalisten, entgegen bringt, trat mir hier zum erstenmal in ihrer vollen Kraft vor Augen. Ich ließ es bei diesem ersten Fühler bewenden und begnügte mich damit, in den Studentenvereinen des Fachs gelegentlich Kurse abzuhalten, selbstverständlich vollkommen außerhalb des offiziellen Hochschulbetriebes. Viele Jahre später erfuhr ich, daß nicht alle von mir ausgestreuten Samenkörner in die Dornen und zwischen die Disteln gefallen waren. Als ich 1920 Kurt Rosenfeld, den bekannten Führer der Sozialdemokratischen Partei, in St. Anton am Arlberg traf, erzählte er mir, daß er mich als Student gehört und einen sehr starken Eindruck davon bewahrt habe.
Ich hatte also verzichtet und war auch schon in ein Alter gelangt, in dem man sich im allgemeinen nicht mehr als Privatdozent niederzulassen pflegt, als eine unerwartete Wendung eintrat. Ich war im Vorstand der Berliner Ortsgruppe der "Gesellschaft für soziale Reform", der Gründung des hochverdienten ehemaligen Ministers von Berlepsch; einer meiner Kollegen war Ernst Francke, der ausgezeichnete Herausgeber der "Sozialen Praxis". Der überfiel mich eines Tages unvermutet mit der Anfrage, warum ich mich eigentlich nicht habilitiere. Ich berichtete ihm von Serings ablehnender Haltung und fügte hinzu, ich hätte die beiden andern großen Herren im Zentrum ihrer Auffassung angegriffen: Adolf Wagner, der ein unbedingter [S.203] Anhänger der Malthusschen Theorie war, mit meinem Buch über seinen Meister, und Gustav Schmoller mit meiner von der seinen entscheidend abweichenden Deutung der deutschen Wirtschaftsgeschichte. Ich könnte nicht annehmen, daß die Herren einem so scharfen Gegner das Tor aufmachen würden. Darauf erklärte Francke, er werde sofort mit Schmoller sprechen, der sein Verwandter war. Nachträglich bin ich zu der Überzeugung gelangt, daß er den immerhin bedeutsamen Schritt nicht getan haben wird, ohne sich vorher der Zustimmung des Allmächtigen versichert zu haben. Jedenfalls hatte ich schon vierundzwanzig Stunden später einen Brief, in dem er mir mitteilte, daß Schmoller durchaus für meine Niederlassung sei; ja, er habe sich sofort persönlich mit Wagner in Verbindung gesetzt und auch dessen Zustimmung erlangt. Es ist mir ein Herzensbedürfnis, den beiden großen Forschern hier noch einmal vor aller Öffentlichkeit meinen Dank für ihre großzügige Haltung auszusprechen. Ich weiß, wie sehr wir Alten geneigt sind, vergangene Zeiten für die besseren zu halten: aber ich glaube doch, daß ein solches Verhalten heute nur sehr selten noch vorkommen dürfte; die Bildung von "Schulen" und Cliquen ist seitdem sichtlich, und nicht zum Vorteil unserer Wissenschaft, vorgeschritten, namentlich seit sich noch stärker als je zuvor der Einfluß der politischen Parteien auf die Besetzung der Lehrstühle, und selbstverständlich vor allem der politisch-bedeutsamen, der staatswissenschaftlichen, durchgesetzt hat. Als ich, damals bereits ordentlicher Professor in Frankfurt, Budge [Siegfried Budge, Anm. Ed.] habilitierte, nachdem er mich soeben in einem ausdrücklich gegen mich gerichteten Buche angegriffen hatte, folgte ich bewußt dem großen Vorbild meiner beiden Gegner.
Ich war mit Gustav Schmoller flüchtig bekannt. Er hatte mir gestattet, ein Semester hindurch an seinem Seminar teilzunehmen, wo ich viele fruchtbare Anregungen erhielt, positiv ein überreiches Material an geschichtlichen und statistischen Tatsachen, negativ freilich fast nur die Anregung zu starkem Widerspruch in der theoretischen Deutung. Wir waren dann öfters in öffentlichen Versammlungen zusammengetroffen, an denen er wie ich uns an der Debatte beteiligten, so zum Beispiel in der aufgeregten ersten Versammlung, die der als eine Art von Strafprofessor nach Berlin berufene Wiesbadener Amtsgerichtsrat Reinhold vor den Studenten veranstaltete. Sie gestaltete sich nicht gerade als ein Triumph für den ganz ordentlichen Mann und die einflußreichen Politiker, die ihn nach Berlin [S.204] gebracht hatten, um dem bösen Drachen Staatssozialismus den Garaus zu machen.
Schmoller war geistig mein vollkommener Antipode, als Historiker gegenüber dem Theoretiker, als Konservativer gegenüber dem entschiedenen Sozialisten. Er begegnete mir immer mit der äußersten Liebenswürdigkeit, aber ich fühlte doch durch, daß ich für ihn recht eigentlich ein Exemplar einer merkwürdigen zoologischen Spezies darstellte. Ich erfuhr, als ich ihn damals aufsuchte, um mich für sein Wohlwollen zu bedanken - es war im Jahre 1908 - , daß ich mich bei seiner, der philosophischen Fakultät nicht habilitieren könne, ohne vorher den philosophischen Doktorgrad erworben zu haben. Der Gedanke, mich noch einmal einem Examen auszusetzen, war nicht sehr angenehm; ich wußte, daß einige Universitäten Männern von wissenschaftlicher Leistung den Doktorgrad auch ohne diese Formalitäten verleihen durften, wandte mich mit einer Anfrage an den mir aus manchem gemeinschaftlichen Kampf bekannten Lujo Brentano - und erhielt eine prompte Absage. Die Bestimmung sei nur für höhere Beamte und dergleichen berechnet. Ich mußte also in den sauren Apfel beißen.
Meine schon veröffentlichten Werke hätten vollauf als Unterlage für mein Habilitationsgesuch ausgereicht. Aber ich hatte den Ehrgeiz, meiner Universität ein neues Buch mit einzubringen. Seit Jahren und Jahren stand sozusagen das Gespenst Ricardos an meinem Bette, das Gefühl der Verpflichtung, mich mit der entscheidenden Leistung dieses größten Theoretikers unserer Wissenschaft neben dem Deutschen Johann Heinrich von Thünen, mit seiner Theorie von der Grundrente, auseinanderzusetzen. Hatte ich immer Widerstände zu überwinden, ehe ich an eine neue Aufgabe herantrat, so waren sie hier besonders groß. Ich wußte, daß ich es mit dem gewaltigsten Gegner zu tun haben würde, daß es gelte, jedes von dem scharfsinnigen Manne gespaltene Haar noch einmal zu spalten. Jetzt war der psychologische Moment zum entscheidenden Sprung gekommen, und ich vollendete in wenigen Monaten den ziemlich starken Band. Hier geht es, um ein Gleichnis zu gebrauchen, über das Adolf Wagner sich köstlich amüsierte, just so wie in dem berühmten Ritterstück, wo zuletzt alle handelnden Personen tot auf der Bühne liegen. Rodbertus hatte vor mehr als einem halben Jahrhundert Ricardos Theorie mit seinem "Problem von der isolierten Insel" angegriffen, durch das er ihn endgültig widerlegt zu haben [S.205] behauptete. Ricardo hatte in zwei der besten Männer der deutschen Theorie, in Lexis und Diehl Verteidiger gefunden. Ich konnte nun nachweisen: erstens, daß diese beiden Männer den Rodbertusschen Angriff nicht hatten abweisen können; zweitens konnte ich eben diesen Rodbertusschen Angriff selbst mit den Mitteln der Ricardoschen Theorie völlig widerlegen, indem ich als erster jenes Problem löste; und drittens und schließlich konnte ich dann zeigen, daß die Ricardosche Theorie auch falsch ist, und zwar aus dem Grunde, weil sie nur einen Teil der aufgegebenen Erscheinungen erklärt, also nur eine Teiltheorie ist, sich aber selbst für eine volle Erklärung, für eine Volltheorie hält. Ich werde nie die komische Verzweiflung vergessen, in die Adolf Wagner geriet, als ich auf seine Frage, wie ich denn zu Ricardo stünde, die Antwort gab: "Die Theorie wird sich nicht halten lassen." Er schlug buchstäblich die Hände über dem Kopf zusammen und schrie." Die auch nicht? Die auch nicht? Ja, um Gottes willen, was bleibt denn dann noch übrig?"
Das war bei meinem ersten Besuche bei ihm, den ich ihm abstattete, um mich vorzustellen und mich bei ihm zu bedanken. Ich war ihm vorher persönlich unbekannt geblieben. Ich erhielt dann im Sommer 1908 am Misurinasee in Südtirol einen Brief von ihm, an dem ich zwar etwa drei Tage zu entziffern hatte, denn er schrieb eine Handschrift, die, wie man sagte, nur ein einziger Setzer in Deutschland lesen konnte, der mich aber sehr glücklich machte, so voller Anerkennung war er. Ich hörte dann auch durch Schmoller, daß das von seinem großen Kollegen über meine Arbeit erstattete Gutachten so außerordentlich günstig ausgefallen sei, daß eine Ablehnung meines Gesuches als völlig unmöglich erscheine.
Als ich Adolf Wagner dann zum zweitenmal in seinem schmucken Haus in der Lessingstraße, dicht am Tiergarten, besuchte, kam es zu einer charakteristischen Szene, die den Anfang sehr herzlicher Beziehungen bildete. Es ist vielleicht nicht zu kühn, wenn ich sage, daß mich der greise Herr in seinen letzten Jahren einer echten Freundschaft würdigte. Ich jedenfalls habe ihn geliebt und fast wie meinen Vater verehrt, diesen draufgängerischen Kämpfer, diesen Wahrheitssucher ohne Furcht und Tadel. Er stand damals mit dem Rücken gegen den Ofen, gekleidet in einen langen Schlafrock, die schütteren Haare und den Schnurrbart ein wenig zerzaust, und sagte mit einer gewissen Verlegenheit: "Nun ja, ich habe es ihnen ja schon geschrieben; Ihre Arbeit ist ganz ausgezeichnet; Sie (er [S.206] stockte etwas), Sie haben in dieser Art von Untersuchungen Ihresgleichen nicht. Sie haben eben einen jüdischen Kopf." Ich konnte mich nicht halten, ich lachte ihm fröhlich und schallend ins Gesicht. Er verstand mich recht und nahm es nicht im mindesten übel, sondern klopfte mir, gleichfalls lachend, auf die Schulter und sagte: "Sehen Sie, ich bin Antisemit, und ich habe auch einen jüdischen Kopf."
Ich hatte inzwischen Umschau gehalten, wo ich am besten die lästige Formalität des philosophischen Doktorgrades erledigen könnte. Schmoller hatte von Berlin abgeraten; es sei besser, wenn die Fakultät sich nicht zweimal mit mir zu beschäftigen haben würde, und riet mir andererseits, eine preußische Universität zu wählen. Ich fand heraus, daß in Kiel Nationalökonomie und Statistik als zwei gesonderte Fächer betrachtet wurden; daneben wurde nur noch Philosophie gefordert. Ich schrieb demnach an Ludwig Bernhard, der soeben als sehr junger Ordinarius von Jena nach Kiel berufen worden war, ich hätte eine bestimmte Veranlassung, noch auf meine alten Tage den philosophischen Doktorgrad zu erwerben; ich hätte mich mit theoretischer Nationalökonomie sehr eingehend, mit praktischer auf einigen Gebieten ziemlich genau, mit Finanzwissenschaft ganz und gar nicht beschäftigt. Ob ihm das genügen würde? Einen Tag später hatte ich bereits die Antwort: Er sei als Student durch einige meiner Arbeiten sehr stark angeregt worden, betrachte sich in mancher Beziehung nahezu als meinen Schüler und sehe es als eine besondere Ehre für ihn selbst und seine Hochschule an, wenn ich dort den Doktor machen würde. Nun waren in Kiel damals zwei Philosophen von Rang, Eucken und Deussen, der bekannte Anhänger Schopenhauers. Das war auch ich von jeher gewesen, wenn ich mich überhaupt als den "Anhänger" eines Metaphysikers bezeichnen darf. Mir ist alle Metaphysik das überaus interessante und reizvolle Gedankenspiel großer Köpfe, an dem ich mich wie an Kunstwerken ergötze, ohne nach der Wahrheit zu fragen, der ich auf diesem Felde nicht nachstrebe, weil ich sie für unerreichbar halte. Bei mir heißt es hier nicht entweder - oder, sondern sowohl - als auch. Ich liebe Platon ebenso wie Spinoza und Kants Kritik der praktischen Vernunft ebenso wie Schopenhauer. Immerhin fühlte ich mich auch hier sicher und paukte mehr der Form wegen als aus ernster Besorgnis die griechischen Frühphilosophen und die formale Logik. Die ersteren brachte ich mir, [S.207] wie das meine Gewohnheit immer war, in mnemotechnische Verse, die hoffentlich für ewig verloren sind. So gewappnet trat ich vor die Prüfungskommission, bestehend aus Deussen, Bernhard und zwei von der Fakultät entsandten Beisitzern. Bernhard benahm sich herrlich; er stellte mich den anderen Herren als einen Forscher vor, der schon auf bedeutende Erfolge zurückblicken könne, sagte, einen solchen Mann könne man nicht wie einen Studenten examinieren und ersuchte mich, über die beiden Gegenstände im Zusammenhang zu sprechen, über die ich kritische Bücher publiziert hatte: über Malthus und Marx. Als ich fertig war, kam der alte Deussen an die Reihe. Ich war ein Mann von fünfundvierzig Jahren, schon damals völlig ergraut, aber er tat genau das, was Bernhard abgelehnt hatte: er examinierte mich wie einen jungen Studenten. Unter anderem wollte er wissen, wann Sokrates hingerichtet worden sei. Ich erwiderte: Um Vierhundert vor Christi. In der Tat war es Dreihundertneunundneunzig!
Ich mußte dann ziemlich lange draußen auf das Ergebnis warten, wobei mir mein alter Jugendfreund Georg Adler, gleichfalls Professor unseres Fachs in Kiel, Gesellschaft leistete. Endlich erschien Bernhard lachend und teilte mir mit, er hätte nur mit Mühe für mich das höchste Prädikat summa cum laude durchdrücken können, Deussen habe es allzu übelgenommen, daß ich den Todestag seines großen Vorgängers an der Universität Athen nicht auf den Tag genau gewußt habe. Er hätte erst darauf hinweisen müssen, daß es nicht für mich, wohl aber für die Universität Kiel keine Ehre bedeute, wenn ich mit einem geringeren Prädikat fortgeschickt würde. Seitdem weiß ich erst, daß zur Geschichte der Philosophie auch die der Philosophen gehört.
Das war im Vorfrühling 1909. Gleich darauf wurde ich in Berlin ohne jede Schwierigkeit zur Habilitation zugelassen und hielt bereits im Sommersemester desselben Jahres meine erste vierstündige Vorlesung über theoretische Nationalökonomie vor einem noch sehr kleinen Auditorium. Mein alter Vater hat noch die Freude erlebt, meiner Probevorlesung beizuwohnen; im gleichen Jahre hat ihn im Alter von zweiundachtzig Jahren ein sanfter Tod fortgenommen. Meine geliebte Mutter, die volle neunundvierzig Jahre in glücklicher Ehe an seiner Seite gelebt hatte, konnte und wollte sich mit dem Verlust nicht abfinden: "Ihr seid alle versorgt, ich will liegen, wo Vater liegt." Vergebens nahmen wir sie sofort nach Vaters Begräbnis [S.208] aus dem Hause und brachten sie für den ganzen Winter in Begleitung meiner Schwester Paula nach Bordighera: im November des nächsten Jahres folgte sie ihrem Gefährten. Sie liegen beide nebeneinander in der Ehrenreihe des jüdischen Friedhofs in Weißensee; beiden hat mein Vater die Grabschrift selbst bestimmt: die seine lautet: "Mein Fuß schritt auf ebener Bahn", ein rührendes Zeichen für den unverwelklichen Optimismus dieses Mannes, dem das Leben wahrlich Kämpfe genug gebracht hatte. Die Grabschrift für meine Mutter aber fand ich in seinen Lebenserinnerungen, die er ausdrücklich für mich niedergeschrieben hatte. Sie schließen mit der guten Stunde, in der er meine Mutter heimführte, und der Mahnung an mich, in den Sprüchen Salomonis einen bestimmten Vers aufzusuchen. Der steht jetzt auf Mutters Grabstein: "Es loben sie ihre Werke in den Toren": der schönste Nachruf, der einer vorbildlichen Frau und Mutter gegeben werden kann.
Meine Vorlesungen, abwechselnd über theoretische und praktische Ökonomik, denen ich bald zweistündige, ebenfalls abwechselnd, über die Geschichte der Ökonomik und des Sozialismus hinzufügte, wurden in schnell wachsendem Maße besucht, und meine Übungen im Seminar über die wichtigsten Schriftsteller des Fachs oder über bestimmte Teile der Theorie gestalteten sich sehr bald zu einer echten Gemeinschaftsgruppe, in der Lehrer und Schüler mit heißem Bemühen um die Wahrheit rangen. Um diese meine engeren Schüler und mich schloß sich ein immer festeres Band gegenseitigen Verstehens und Vertrauens; ich habe "meinen Kindern", wie ich sie nennen durfte, nicht nur in allen wissenschaftlichen Dingen, sondern auch in allen menschlichen Dingen als vertrauter Beichtvater und Freund zur Seite gestanden, und dieses Band ist nie gerissen. Ich habe die fünfte Auflage meines Lehrbuchs der Theorie in herzlicher Dankbarkeit "meinen Schülern: meinen Lehrern" gewidmet; denn ich verdanke ihrer produktiven Kritik, die ich mich immer zu entfesseln bemühte, der gegenüber ich niemals den Versuch machte mich als "Autorität" aufzuspielen, viel mehr als aller Kritik meiner Herren Fachgenossen.
Leider hat der Krieg in diesen Kreis leidenschaftlich interessierter junger Menschen die schmerzlichsten Lücken gerissen. Am tiefsten beklage ich und beklagt unsere Wissenschaft den Tod des jungen Friedrich von Wieser, des Neffen des bedeutenden Wiener Nationalökonomen gleichen Namens, und seines Schwagers, des noch bedeutenderen [S.209] von Böhm-Bawerk. Er war im Frieden wegen eines schweren Sturzes als dauernd militäruntauglich aus dem Heere entlassen worden, setzte es aber durch, wieder in sein Regiment eintreten zu dürfen und fiel schon im Sommer 1914 als Leutnant der Rathenower Husaren. Er hinterließ, so jung er war, ein glänzendes Werk über das britische Bankwesen, das Adolf Wagner und ich zu seinen Ehren herausgaben. Aber er war leider nicht der einzige, der nicht wiederkehrte.
Als dieses große Unglück unser Deutschland und die Welt traf, hatte ich mich als Dozent in nie erhoffter Weise durchgesetzt. Schon 1912 im Wintersemester zählte ich in meiner vierstündigen Privatvorlesung über praktische Ökonomik mehr als zweihundertsechzig eingeschriebene Hörer, und meine öffentliche Vorlesung über Karl Marx' ökonomische Lehren war von mehr als tausend Studenten besucht, die das riesige Auditorium maximum nicht aufzunehmen imstande war. Sie saßen auf dem Podium, auf den Fensterbrettern und füllten stehend alle Gänge. Im Dozentenzimmer, wo sich die Sache herumgesprochen hatte, wurde der ergraute Privatdozent mit merkwürdigen Blicken beehrt: "Interessant, aber nicht ungefährlich!"
Ein kleines Ereignis aus dem Dozentenzimmer möchte ich doch hier schildern. Ich las vormittags von elf an und traf regelmäßig mit den berühmten alten Herren Gierke, Kohler, Brunner, Lasson und anderen zusammen, hielt mich natürlich, sozusagen als Unteroffizier gegenüber diesen hohen Offizieren der Wissenschaft, sehr bescheidentlich zurück und wurde auch im allgemeinen nicht ins Gespräch gezogen. Aber einmal wandte sich Gierke doch an mich, als ich einem erregten Gespräch über Verfassungsfragen beigewohnt hatte, und fragte etwas ironisch: "Nun, Herr Kollege Oppenheimer, wie denken Sie denn über diese Sache?" Ich erwiderte: "Ich bin ganz mit Ihnen einverstanden, Exzellenz." Er, sehr erstaunt: "Sie sind mit mir einverstanden?" Und ich wieder: "Durchaus! Auch ich bin der Meinung, daß man den Besitzlosen keine politischen Rechte geben darf. Nur ziehe ich aus dieser Voraussetzung wahrscheinlich einen anderen Schluß als die Herren, nämlich den, daß man den Besitzlosen Besitz geben muß, um ihnen politische Rechte ohne Schaden geben zu können." Es gab sehr lange Gesichter; dieser Gesichtspunkt schien etwas neu zu sein. Und dann - läutete es zum Beginn der Vorlesung.
[S.210]ZIONISMUS
Meine erste Berührung mit der zionistischen Vorstellungswelt geschah 1902 im Schnellzuge Berlin-Wien. Hier kam ich mit zweien der Männer ins Gespräch, die dem engsten Kreise Theodor Herzls angehörten, dem längst verstorbenen Wiener Architekten Oskar Marmorek und dem noch heute lebenden, aus Rußland stammenden Wiener Ingenieur und Großindustriellen Kremenetzky. Durch sie lernte ich den Führer der Bewegung selbst kennen und hatte einen starken Eindruck von seiner Persönlichkeit: ein schöner, hochgewachsener Mann vom edelsten Typus des reinen Semiten, wie ihn heute noch die mit Negerblut nicht vermischte obere Klasse der vornehmen Araber verwirklicht, der Typus, den heute sogar stark völkisch eingestellte "Arier" als eine der ihren nahe verwandte und fast gleichwertige Rasse zu betrachten gelernt haben. Der ihnen verhaßte Typus soll ja nach der neuesten Wendung von den Hethitern stammen, jenem mediterranen Volke bisher unbekannter Herkunft und Rasse und stark abgewandelter indogermanischer Sprache. Herzl verkörperte mit seinen weit geöffneten, mandelförmigen, dunkelsanften Augen und dem seidenweichen Vollbart das Bild, das wir uns etwa von einem Harun al Raschid zu machen pflegen. Und ein Mann von höchster geistiger Kultur! Ein profunder Kenner des europäischen Geisteslebens, ein geschmackvoller Schriftsteller, ein Mann von Welt, von höchster Urbanität, von der feinsten Lebensart. Wenn ich auch den brennenden Ehrgeiz wohl verspürte, der diese ganze Persönlichkeit antrieb, so hatte ich doch den stärksten Eindruck von der Redlichkeit seines Wollens, und ich konnte einen Teil seiner Bestrebungen zu den meinigen machen. Die Lage der Juden in Rußland, zu dem damals ja auch noch der Hauptsitz des Volkes in Polen gehörte, wurde von Tag zu Tag unerträglicher. Es gelang der verruchten Clique, die das zaristische Rußland hudelte und ausbeutete, immer wieder, die Volksleidenschaft auf diese andersgläubige und sprachfremde Bevölkerung abzuleiten; Pogrom nach Pogrom verwüstete die Städte und Städtchen, viele Hunderte von Opfern fielen dem wütenden Mob. Diesen schaudervollen Ereignissen gegenüber nach Abhilfe zu suchen, war die Sache jedes menschlich Fühlenden und um wieviel mehr des Juden. Die Wanderung [S.211] über See, besonders nach den Vereinigten Staaten, wurde immer mehr und mehr erschwert; zudem riefen die Unglücklichen, wohin sie immer kamen, auch hier den Haß gegen sich auf, als Konkurrenten der Einheimischen in Handel und Gewerbe, und, man muß es sagen, als besonders gefährliche Konkurrenten. Sie brachten mit, nicht nur als Volk des Buches den fast unheimlichen Intellektualismus des Ghetto, den der furchtbare Druck in ihren Stiefväterländern bis ins Unglaubliche ausgebildet hatte, sondern darüber hinaus noch ihre Nüchternheit: sehr selten ist der Jude ein Trinker, und das ermöglicht es ihm, noch Ersparnisse zu machen und sich allmählich emporzuarbeiten bei Löhnen, die dem Konkurrenten nur eben zum Leben ausreichen. Als ich im Jahre 1914 in New York mit dem Leiter einer der großen Wohlfahrtsorganisationen sprach, erfuhr ich, daß die eingewanderten Juden aus Rußland selten mehr als ein Jahr ihre Kasse belasteten; nach drei Jahren seien sie in der Regel schon selbständig und viele würden bald darauf wohlhabend und in die Lage versetzt, ihren Kindern die beste Erziehung zu geben.
Unter diesen Umständen war es in der Tat das einzige Mittel der Abhilfe im großen, diesen schwer leidenden Menschen ein eigenes "Nationalheim" zu schaffen, in dem sie, ungestört durch den Haß der anderen, sich frei entwickeln könnten. Und es war psychologisch auch durchaus richtig, die nie vergessene, nie verschmerzte Urheimat im Heiligen Lande als die Örtlichkeit dieser Kolonisation im großen ins Auge zu fassen. Hierhin würde nicht nur der Druck in ihren jetzigen Sitzen, sondern auch der Zug des Herzens die Masse in Bewegung setzen, das stärkste Motiv, an das man bei dieser tief religiösen Bevölkerung appellieren konnte. Wurde doch alle Jahre sehnsüchtig gebetet: "Nächstes Jahr in Jerusalem!"
Noch ein anderes sprach mich in Herzls Gedanken lebhaft an. Er erkannte, daß eine starke Bewegung unter den Juden mit diesem Ziele dazu helfen würde, einer Erscheinung entgegenzuwirken, die auch mir von jeher besonders widerlich gewesen war: dem "Assimilantentum", das sich seiner Herkunft schämt, oft versucht, sie zu verheimlichen, und allen Anklagen der Judenfeinde womöglich noch mit besonderem Nachdruck zustimmt, in der eitlen Hoffnung, als gute Ausnahme anerkannt zu werden. Ich habe niemals, auch im Kreise des Zionismus selbst, das geringste Hehl daraus gemacht, daß ich vollkommen "assimiliert" sei: ich fände, wenn ich in mich hineinfühlte, [S.212] neunundneunzig Prozent Kant und Goethe und nur ein Prozent Altes Testament, und auch das noch wesentlich durch Vermittlung Spinozas und der Lutherbibel. Ich fühlte mich durchaus als Deutschen, aber ich habe niemals verstehen können, warum mein jüdisches Stammesbewußtsein mit meinem deutschen Volks- und Kulturbewußtsein unvereinbar sein sollte, und war darum niemals Assimilant.
Ich schloß mich also dieser Bewegung an, ohne daran zu denken, daß ich selbst einmal Mitglied der neu zu schaffenden Gemeinschaft sein würde oder wollte. Ich hatte auch durchaus nicht die Absicht, wie man damals spöttisch von einigen der Führer der Bewegung sagte, als Gesandter in Paris oder London Europa treu zu bleiben; ich folgte einfach dem Drange meines Gewissens, das mir überall gebot, die Schulter an den Wagen zu legen, wo mir wenigstens das nächste Ziel als erstrebenswert erschien, ganz unbekümmert um die ferneren oder letzten Ziele.
Herzls Ideen über den Gang der Kolonisation waren ebenso unbestimmt, ja, weil er eben doch überhaupt kein Volkswirt war, noch viel verworrener als diejenigen, die Theodor Hertzka über die Begründung seines Paradieses am Kenia gehabt hatte. Er sah das Ziel, aber nicht den Weg zum Ziele. Er nahm an, es würde ihm durch diplomatische Verhandlungen, zu denen er außer seiner imposanten Persönlichkeit eine kaum minder imposante Sprachenkenntnis mitbrachte, gelingen, einen "Charter" der türkischen Regierung zu er langen, und durch Appell an die Judenheit der ganzen Welt sehr große Geldmittel aufzubringen. Dann sollten Zehntausende, vielleicht Hunderttausende von Juden nach Palästina gebracht werden, und damit, glaubte er, würde der Grund zu einem ununterbrochenen freudigen Wachstum gelegt sein. Er verstand aber sofort, als ich ihm auseinandersetzte, daß dieser Plan unausführbar sei. Es müsse zuerst eine Organisation geschaffen werden, stark genug, um die Neuankommenden aufzunehmen und sofort produktiv zu beschäftigen, sonst würden ein fürchterliches Chaos und das größte Elend die notwendige Folge sein. So wurde ich fast ohne meinen Willen plötzlich zum leitenden Volkswirt der Bewegung und hielt auf dem nächsten, dem sechsten Kongreß in Basel (1903) das Referat, das ihr im wesentlichen ihre Bahnen vorschrieb.*) Ich konnte an dem Beispiel
Fußnote:
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Es ist in diesen Band aufgenommen worden. (Vgl. unten S. 281 ff.)
[S.213] der slawischen Länder mit deutscher Oberschicht und deutscher Städtebevölkerung zeigen, daß es nur ein Mittel gibt, um ein Land wirklich und auf die Dauer einem Volkstum zu gewinnen: den Schweiß des Pflügers, der sich mit der Scholle vermählt. Und hier wurde meine theoretische Auffassung sofort verstanden, daß man ein im wesentlichen aus Handwerkern und Händlern bestehendes Volk nur unter der Bedingung mit Erfolg in ein anderes Land versetzen kann, daß man gleichzeitig den wichtigsten Teil des Binnenmarktes, d. h. die Landwirtschaft und ihre Kaufkraft, entwickelt. Mein Vorschlag wurde angenommen, zunächst ein grobes Netz genossenschaftlicher Siedlungen über das Land zu spannen, Handel und Gewerbe nur insoweit zu fördern, wie sie dieser neu geschaffene Markt unter Hinzuziehung einiger sicherer Exportgewerbe ernähren könne, und dieses Netz allmählich durch Einweben immer neuer Maschen in dem Maße zu verdichten, wie die Mittel an Geld und Menschen zur Verfügung stünden. Selbstverständlich gehörten zu diesem Programm auch die Grundzüge der sogenannten "bodenreformerischen Politik": den Grund und Boden nur als Dauerbesitz, aber nicht als freiveräußerliches Eigentum auszugeben, um jede Spekulation damit unmöglich zu machen. Diese Vorschrift ist die Grundlage des jüdischen "Nationalfonds" bis auf den heutigen Tag geblieben. Ich habe dann im Auftrage der Organisation die erste genossenschaftliche Siedlung des Landes, Merchawjah, begründet, über deren Schicksal ich in dem Kapitel "Siedlungen" schon berichtet habe*).
Jener Kongreß, der Juden aus aller Herren Länder zusammenführte, war mir ein eindrucksvolles Erlebnis. Was mir besonders auffiel, war die Tatsache, daß meine Glaubensgenossen in Westeuropa sich vielfach in einem Maße, das ich vorher nie für möglich gehalten hätte, äußerlich dem Typus ihrer "Gastvölker" angenähert hatten. Da war ein hoher englischer Offizier, der, wenn ich mich recht entsinne, dem Generalstab im Burenkrieg angehört hatte, ein großer holländischer Bankier, ein dänischer Arzt, die ich sämtlich unbedenklich als rassereinen Engländer bzw. Holländer bzw. Skandinavier diagnostiziert hätte. Aber noch interessanter war mir die Begegnung mit der großen Masse der Ostjuden, von denen ich bis dahin nur selten einmal einen Vertreter kennengelernt hatte, einen der armen Teufel, die sich an meinen wohltätigen Vater bittend
Fußnote:
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S. 159ff
[S.214] wendeten. Jetzt wurde mir die überaus starke Rassenmischung unmittelbar zum Erlebnis, aus der dieses seelisch doch einigermaßen einheitliche Konglomerat hervorgegangen war: vom rein nordischen, hochgewachsenen, blonden und blauäugigen Typus bis zum gelbhäutigen und schlitzäugigen Mongoloiden, vom rein arabischen bis zum nahezu negroiden Typ waren alle Schattierungen vertreten. Und weiter kam mir zu Bewußtsein die ungeheure Kluft, die mich weltanschaulich von vielen dieser durch eine starre Tradition gefesselten, sozusagen noch mittelalterlichen Menschen unterschied. Sie traten mir mit großer Ehrerbietung und einer Art von Liebe gegenüber, durch die doch die Fremdheit klar genug hindurchleuchtete. Irgend etwas ließ einen streng orthodoxen Rabbiner aus dem hintersten Galizien doch sozusagen zurückschaudern vor dem Sohn des Predigers einer jüdischen Reformgemeinde. Ich erkannte damals im Gedankenblitz, wie schwer der Prozeß der Angleichung sich gestalten müßte, wenn einmal alle diese höchst disparaten Elemente: West- und Ostjuden, Indifferente und Orthodoxe, Kleinbürger, Kapitalisten und Sozialisten, sich auf gemeinsamem Boden zu gemeinsamer Arbeit zusammengefunden haben würden. Hier harren noch die schwierigsten Probleme ihrer Lösung, die erst dann in ihrer vollen Stärke vor dem neuen Volke im alten Lande sich aufrichten werden, wenn die Zeit der Propaganda und des Enthusiasmus vergangen ist, wenn die wichtigsten Positionen besetzt sind, wenn die Arbeit aller Tage in ihren monotonen Kreislauf eingetreten sein wird.
Theodor Herzl starb bald nach diesem Kongreß, vernichtet durch die ungeheure Arbeit, die er sich aufgeladen hatte. Ich habe dann noch ein volles Jahrzehnt mit an leitender Stelle der Bewegung gestanden, in naher Fühlung mit Herzls Nachfolger, dem tüchtigen Wolffsohn, mit dem mich gute Freundschaft verband, bis mir nach dessen Tode die Entwicklung der deutschen Landsmannschaft auf Jahre hinaus die Beteiligung unmöglich machte. Ich hatte von vornherein zwei Dinge für geboten gehalten: erstens die Herstellung eines nicht nur toleranten, sondern geradezu brüderlichen Verhältnisses zu den Arabern, und zweitens eine Allgemeinhaltung der Bewegung, die auch solchen Menschen die praktische Beteiligung ermöglichte, die gleich mir selbst allzu tief mit dem Geiste ihrer Geburtsländer verknüpft waren, als daß ihnen die Lostrennung als möglich erschienen wäre. Diese meine Einstellung folgte mit Notwendigkeit [S.215] aus meiner gesamten wissenschaftlichen und sittlichen Überzeugung: ich habe den Nationalismus, nicht etwa in seiner guten Bedeutung als Nationalgefühl, wohl aber in seiner gefährlichen Bedeutung als Chauvinismus, von jeher mit der gleichen leidenschaftlichen Unerbittlichkeit bekämpft wie den Kapitalismus und den Kommunismus: als die drei großen Gefahren unserer Kultur, ja unseres unmittelbaren Lebens. Ich konnte mir infolgedessen Palästina nie anders vorstellen als unter dem Bilde einer anderen Schweiz: mit der vollen Gleichberechtigung und auf dieser Grundlage der vollen Einigkeit aller im Lande vorhandenen Sprach- und Religionsgruppen. Nun aber gewann eine Zeitlang im deutschen Zionismus jener arge Geist der Zeit ein wenig die Oberhand, machte sich eine Rassenüberhebung breit, die gar nichts anderes war als das photographische Negativ des Antisemitismus nach jenem von Gabriel Tarde entdeckten Gesetz der Sozialpsychologie, das er als "imitation par opposition" bezeichnet hat. (Es fordert nicht mehr Gehirnschmalz, immer genau das Gegenteil von dem zu tun und zu sagen, was der Gegner tut und sagt, immer dorthin den positiven Wertakzent zu ersetzen, wohin er den negativen setzt und umgekehrt, als ihn völlig nachzuahmen. Geradeso ist auch der Kommunismus nur die Nachahmung mit umgekehrtem Vorzeichen des Kapitalismus!) Es war meine klare Pflicht als Soziologe, gegen diesen jüdischen Chauvinismus ebenso scharf aufzutreten wie gegen den nichtjüdischen. Aber ich drang gegen den Überschwang der fanatisch begeisterten Jugend in diesem Punkte ebensowenig durch wie in dem anderen. Hier wie überall mußten die Extremisten aus dem einfachen Grunde die Oberhand gewinnen, weil sie nichts anderes dachten und taten als ihre Bewegung, während wir Gemäßigten doch vor allem unsere eigene Lebensarbeit zu fördern hatten. So kam es 1912 oder 1913 zu einem Beschluß der Deutschen Landsmannschaft, durch den sich, wie ich mich damals ausdrückte, die politische Partei in eine Sekte umwandelte: man machte jedem Mitgliede zur Pflicht, die Übersiedlung nach Palästina in sein Lebensprogramm aufzunehmen. Das konnte ich nicht mitmachen, und als ich mit meinem leidenschaftlichen Protest auf dem Parteitage in Leipzig 1913 in einer immerhin beträchtlichen Minderheit geblieben war, zog ich mich zurück.
Die Entwicklung hat mir recht gegeben, und die Bewegung hat sich gezwungen gesehen, in die von mir verlangte Bahn [S.216] zurückzulenken, in jene Bahn, in die auch Herzl selbst gewiesen hatte. Auf die Dauer ist das Gute und Wahre doch auch das Kluge! Wie sehr sich die mindestens unklare Haltung gegenüber dem Arabertum gerächt hat, hat das Blutbad des letzten Jahres mit grauenhafter Klarheit gezeigt. Ich hatte damals in Leipzig erklärt, daß ich mich zurückziehen müßte, weil ich für diese, von mir klar vorausgesehenen, schrecklichen Ereignisse nicht mit verantwortlich sein wollte. Heute ist die levantinische Schweiz mit voller Gleichberechtigung der Völkerschaften das fast von allen Gruppen des Zionismus anerkannte Ideal.
Auch in dem zweiten Punkte behielt ich recht. Ich hatte jene sektiererische Politik nicht nur aus prinzipiellen, sondern auch aus praktischen Gründen bekämpft. Sie mußte alle dem extremen Zionismus noch nicht gewonnenen Elemente vergrämen, und das waren gerade die mächtigsten und reichsten Mitglieder der Glaubensgemeinschaft, ohne deren Hilfe das weitausschauende Programm der friedlichen Eroberung des Heiligen Landes gänzlich unerreichbar war. Man weiß, daß in der allerletzten Zeit die Leitung der Kolonisation des Landes in die Hände der "Jewish Agency" übergegangen ist, in die der Zionismus nur die eine Hälfte der Mitglieder entsendet, während die anderen von nicht zionistischen Gruppen und Institutionen ernannt werden. Was die Toleranz gegenüber dem politisch Andersgläubigen nicht hatte durchsetzen können, das hat die stärkste aller geschichtlichen Gewalten, die Finanznot, zuwege gebracht.
Ich habe mich daher in den letzten Jahren der Bewegung wieder mehr nähern können, die ich immer mit großer Sympathie verfolgt hatte. Ich habe im Frühjahr 1926 meine dritte Reise nach Palästina unternommen und mich der ungeheuren Fortschritte erfreuen können, die der Zionismus dem Lande gebracht hat. Wo früher schreckliche Wege liefen, in denen man im Sommer im Triebsande, im Winter in Wasser und Sumpf zu versinken drohte, bringen heute vortreffliche Chausseen alle Punkte des winzigen Ländchens in die engste Verbindung. Die Judenstadt Tel Aviv bei Jaffa ist fast zu einer Großstadt erwachsen, der Hafen von Haifa ist im Bau, und Herzls Voraussage rückt ihrer Verwirklichung immer näher, daß dieses Ländchen die Verbindungsbrücke und der große Umschlagplatz der drei Kontinente der alten Welt zu werden bestimmt ist. Hier müssen sich die großen transkontinentalen Eisenbahnen kreuzen; [S.217] wer künftig vom Kap der guten Hoffnung nach London oder Peking oder Kalkutta reisen wird, wird Palästina berühren. Und schon erblüht dort ein neues, erfreuliches Volkstum: die Kinder des Landes wachsen in Freiheit und Selbstachtung auf, sind stark und fröhlich und ohne all die verdrängten Komplexe, an denen so viele ihrer europäischen Religionsgenossen kranken. Was mir fast das erfreulichste war, ist eine Beobachtung, die mir mehrfach bestätigt wurde. Es sind viele Lehrer im Lande, die schon in Deutschland, Österreich, Ungarn, Rumänien usw. gewirkt hatten und die sämtlich ihrer Tätigkeit in Palästina mit hochgespannten Erwartungen entgegensahen: nur jüdische Kinder, das mußte ja unerhörte Gipfelleistungen zeitigen! Es hat sich aber herausgestellt, daß diese jüdischen Kinder drüben auch nicht mehr leisten als nichtjüdische in Europa. Es fehlt hier der Druck, der uns immer zu Gipfelleistungen zwingt, wenn wir das einzige erreichen wollen, wonach der Mensch in seiner Gruppe strebt: Geltung. Dieser Druck fehlt hier, und so fehlen auch die Gipfelleistungen, zum Glück! Denn dieser Intellektualismus ist zwar in der Lage, in der sich der größte Teil der Judenheit heute in der Diaspora befindet, ihre fast einzige Waffe im Daseinskampf, aber er ist nicht gesund, er stellt eine einseitige, nahezu monströse Entwicklung dar, und das Ziel aller Erziehung und allen wahren Menschentums ist die Harmonie von Leib und Seele, ist die gesunde Seele im gesunden Körper.
Es wird drüben überm Mittelmeer entfernt nicht alles so gut verlaufen, wie der Optimismus hofft, und entfernt nicht so schlecht, wie der Pessimismus weissagt. Was die junge Siedlung gefährdet, sind genau die gleichen furchtbaren Gefahren, die die ganze europäische Zivilisation mit Vernichtung bedrohen: der Kapitalismus mit seinem Schattenwurf, dem Chauvinismus, einerseits und der Kommunismus andererseits. Palästina ist ja vorerst nichts anderes als ein Stückchen in den Orient verpflanzten Europas. Wenn Europa dieser seiner Todfeinde Herr wird, wird auch Palästina freudig erblühen; wenn meine Hoffnung sich bewahrheitet, wird es dem großen Mutterlande einige Schritte auf dem rettenden Wege voraufgehen; in dieser Hoffnung vor allem habe ich kostbare Teile meiner Zeit und meiner Kraft der Bewegung noch zu einer Zeit gewidmet, in der sie den meisten als bare Utopie erschien. Wenn aber Europa als Ganzes der tödlichen Krankheit erliegt, an der es leidet; wenn der Weltgeist wieder einmal, wie schon so oft in der Geschichte, [S.218] zornig einen seiner Versuche zerschlägt, um auf neuem Lande mit neuem Volke neu aufzubauen: dann mag wohl auch die kleine Siedlung zwischen Mittelmeer und Jordan dem gleichen Schicksal anheimfallen.
[S.219]
IM WELTKRIEG
Ich hatte den Krieg lange kommen sehen. Schon als Redakteur der Welt am Montag kämpfte ich, wie ich erzählte, gegen die Flottenpolitik des Kaisers, weil ich wußte, daß sie in einen Konflikt mit England hineintreiben mußte, der für uns mehr als gefährlich war, solange wir nicht vor einem gleichzeitigen Angriff auf unserer Ostgrenze völlig sicher waren. Und im Jahre 1913, in meinem Vorwort zu der deutschen Ausgabe der "Fröhlichen Menschheit" meines alten Freundes Frederik van Eeden, schloß ich mit etwa den folgenden Kassandraworten: "Vielleicht, sogar wahrscheinlich, muß erst ein böser Sturm des Unheils daherfahren, um die schwere Glocke der öffentlichen Meinung Europas in Schwingung und ihren stummen Klöppel zum Reden zu bringen." Daß ich die gesamte Situation völlig richtig einschätzte, das beweist ein gedruckter Satz, den ich im August 1914 niederschrieb und der im gleichen Jahre, im November, im Süddeutschen Merkur erschien:" Dieser Krieg ist der katastrophale Versuch Europas, die politische Form zu finden, die seiner wirtschaftlichen Verflochtenheit entspricht. Wenn ihm dieser Versuch nicht glückt, wird es eine Art von vergrößertem Balkan werden, auf dem vor den schadenfrohen Augen Amerikas eine Anzahl interessanter Völkerschaften um verblaßter Ideen willen sich chronisch die Gurgel abschneiden." Wir, die der Fettbürger als "Träumer" zu verspotten liebt, sahen damals alle klar in die Zukunft und erkannten den einzigen Weg der Rettung unseres Erdteils. Ganz unabhängig von mir hat damals mein leider so jung verstorbener Freund und Waffenkamerad Leonard Nelson den Plan eines europäischen Völkerbundes ausgearbeitet. Auch Wilson sah das mit größter Deutlichkeit, bis ihm der Pariser Weihrauch die Augen vernebelte. Damals hätte er die Verwirklichung des großen Planes erzwingen können; heute gibt es nur noch einen einzigen Weg zur Rettung, nach dem alten Grundsatze, daß man ein wankendes Gewölbe am besten dadurch rettet, daß man es schwer belastet. Nur wenn sich in Frankreich und in Deutschland gleichzeitig zwei Staatsmänner finden, die die Einsicht, den Mut und die Kraft haben, alle inneren Widerstände zu überreiten und die beiden Länder zu einem engen Wirtschafts- und Wehrbund zusammenzufassen, nur dann [S.220] kann das Werk werden. Denn dieser Bund ist auf hundert Jahre hinaus militärisch unangreifbar, und ferner würde sich binnen kürzester Zeit herausstellen, daß auf diesem Vereinten Markte ein unendlich viel größerer Reichtum erzielt wird als zuvor. "Verdoppelter Markt, vervierfachter Reichtum", das ist die Quintessenz des Adam Smithschen Gesetzes von der Arbeitsteilung, das ist die Wahrheit, mit der sich all die widerwärtige Schachermacherei dieser sterilen Kongresse platt niederschlagen ließe, wenn nur unsere sogenannte "Wissenschaft" der Nationalökonomie sie noch kennen und anerkennen würde.
Einer meiner älteren Schüler erzählte mir kürzlich, er habe mich am 3. August 1914 am Tor der Universität getroffen, er selbst hingerissen von dem wundervollen, unvergeßlichen Rausch jener Tage, in dem sich all die zahllosen Individuen urplötzlich nicht mehr als Tropfen, sondern als den Ozean selbst empfanden. Den Künstlern und uns Denkern ist dieses Bewußtsein wohlbekannt: es ist die Seligkeit unserer schöpferischen Stunden und das Glück unseres ganzen Lebens, uns nicht als isolierte Individuen, sondern als wirkende Organe unserer Gemeinschaft zu empfinden, in denen die ganze ewige, ungeheure Kraft dieser Gemeinschaft wirkt. Dieses Glück hatten damals in einem kurzen Augenblick alle die Millionen, und damals schien wenigstens die Frage noch berechtigt, ob es nicht all das Grauen und Sterben aufwöge, das die nächste Zukunft bringen mußte. Auch ich empfand dieses "Wir-Bewußtsein", wie ich es genannt habe, in verstärktem Maße, aber ich sah doch das Unheil allzu klar vor mir und habe damals, wie mir der junge Mensch später erzählte, mit bitterernsten Augen gesagt: "Das gibt ein großes Unglück."
Aber es war selbstverständlich, daß ich mich sofort mit allen Kräften einsetzte, um, da die Katastrophe einmal eingetreten war, meinem Lande nach meinen schwachen Kräften zu helfen. Meine erste große Sorge war die Sicherung der Ernte, die damals erst zum kleinen Teile eingebracht war. Ich suchte meine Freunde von den freien Gewerkschaften auf und unterbreitete ihnen meinen Vorschlag, mit den Landwirtschaftskammern, ihren schärfsten politischen Antipoden, gemeinsam vorzugehen, um, sie selbst als Druckpumpe, jene als Saugpumpe, der Landwirtschaft die notwendigen Arbeitskräfte zuzuführen. Ich fand sie bereit, aber sehr ernst: sie rechneten damit, daß ihre Verbände alsbald aufgelöst werden würden. [S.221] Ich fuhr zu Drews, der mir versicherte, niemand denke an eine so verkehrte Maßnahme, gab den tröstlichen Bescheid weiter und setzte mich durch Vermittlung des Landwirtschaftsministeriums mit den Landwirtschaftskammern in Verbindung. Auch hier fand ich großes Entgegenkommen und so wurde wenige Tage später im Reichsministerium des Innern unter Vorsitz von Clemens Delbrück jene Versammlung abgehalten, in der das gemeinsame Vorgehen beraten wurde. Es machte einen ungeheuren Eindruck auf den Minister und die Versammlung, als der oberste Leiter der sozialdemokratischen Gewerkschaften, Robert Schmidt, erklärte: "Ich stelle meine (die Zahl ist mir nicht mehr genau gegenwärtig, aber in der Größenordnung war sie) fünfzehntausend Zahlstellen zur Verfügung." Hier schloß die "Gesellschaft" mit dem "Staate", ihrem Gegner, zum ersten Male das Bündnis, das allein Deutschland ermöglicht hat, seinen Gigantenkampf gegen die ganze Welt so lange durchzuführen. Ich hatte ganz klar das Bild eines jener gewaltigen Bagger vor Augen, die, wenn sie ins Wasser niedergesenkt werden, sich schließen wie die Kiefer eines ungeheuren Drachens und alles aus dem Schlamme heben, was zwischen ihre Zähne gerät. Wenn mir diese Erfahrung das Herz hob, so sank es mir gleich darauf ebenso tief, als der Vertreter Preußens in der gleichen Versammlung mit einer wahren Hamsterwut die Rechte seines Ressorts gegen die geplanten Übergriffe des Reiches verteidigte. Es war mein erster Blick in das allzu komplizierte Verwaltungssystem Deutschlands, und er hat mich zum Föderalisten, zum unbedingten Anhänger einer entschlossenen Dezentralisation gemacht, was, bitte, nicht als Partikularismus verstanden werden soll. Ich fühlte heraus, daß hier, in dieser Eifersucht der Instanzen, eine von Deutschlands großen Gefahren liege und habe später das Wort meines verewigten Freundes Walther Rathenau schmerzlich gebilligt: "Das Schiff kann unmöglich fahren, und so sorgen die Beamten dafür, daß es wenigstens nicht schaukele."
Die Ernte wurde gesichert; stark zu diesem Erfolge trug bei, daß eine sehr große Anzahl von Wanderarbeitern russischer Staatsangehörigkeit teils freiwillig, teils unter sanftem Zwang in Deutschland zurückgehalten wurden; und ich konnte mich anderen Aufgaben zuwenden: ich warf mit fliegender Feder eine Denkschrift auf Papier, betreffend die Versorgung Deutschlands mit den notwendigsten Nahrungsmitteln und Stoffen. Sie ist dann in meine [S.222] kleine Flugschrift "Weltwirtschaft und Nationalwirtschaft" hineingearbeitet worden. Schmoller und Wagner, denen ich sie vorlegte, billigten sie ebenso wie Sering; sie wurde im Landwirtschaftsministerium vervielfältigt und an eine Anzahl führender Volkswirte und Vertreter der Wirtschaft verschickt, die gleichzeitig zu einer Beratung im Landwirtschaftsministerium eingeladen wurden. Aus dieser Versammlung ist die Kriegsrohstoffgesellschaft hervorgegangen. Schmoller war krank, der greise Wagner anwesend, lehnte aber den Vorsitz ab, den er Sering übertrug und dieser hat dann die Dinge weitergeleitet. Der Minister ließ mir durch einen seiner Räte den offiziellen Dank seines Amtes aussprechen.
Dann ersuchte mich der Admiralitätsstab um eine Denkschrift über die Nahrungsmittelversorgung des Landes, in der ich zu recht günstigen Ergebnissen gelangte. Freilich glaubte damals kein Mensch daran, daß der Krieg länger als allerhöchstens ein halbes Jahr dauern würde; ich fand sogar zu meinem Entsetzen unter leitenden Militärs die Auffassung weitverbreitet, er müsse binnen drei Monaten beendet sein. Begründung: Deutschland habe drei Milliarden Gold, der Krieg würde monatlich eine Milliarde kosten, also sei nach drei Monaten kein Geld mehr vorhanden! Ich will hoffen, bin aber dessen nicht sicher, daß dieser heillose volkswirtschaftliche Unsinn nichts zu der verhängnisvollen Anlage des ganzen Krieges beigetragen hat: zu dem rasenden Sturm über die Westgrenze, um Frankreich binnen kürzester Frist niederzuwerfen und damit wahrscheinlich den Frieden überhaupt zu erzwingen.
Meine statistischen Berechnungen zeigten, daß Deutschland auf die längste, damals als denkbar erscheinende Kriegsperiode von zwei Jahren von seinen Vorräten und seinen jährlichen Produkten würde ernährt werden können. Das hat sich ja denn auch so ziemlich bestätigt, obgleich zwei der Voraussetzungen zuschanden wurden, von denen aus ich meine Prognose gestellt hatte. Ich hatte erstens den alten und, wie mir scheint, unzweifelhaften Satz der Theorie als Leitstern der Praxis empfohlen " Es gibt nur ein Mittel, um die Hungersnot zu vermeiden, nämlich die Teuerung." Nichts in der Welt "streckt" die Vorräte so sicher wie der hohe Preis; selbstverständlich hätte die Allgemeinheit die wirtschaftlich Schwächsten versorgen müssen, aber die Vorräte hätten sicherlich weiter gelangt und unserem Lande wäre viel schwere Korruption erspart geblieben, wenn sich der Staat aller Eingriffe in den Handel mit den Lebensmitteln [S.223] und in ihre Preise enthalten hätte und nur Fälle von notorischem Wucher, womöglich unter Kriegsrecht, als schweren Landesverrat bestraft hätte. Zweitens durfte man damals noch mit dem ungeheuren Überschuß der deutschen Zuckererzeugung rechnen; unsere Ausfuhr davon bewegte sich um eine Million Tonnen, etwa fünfzehn Kilo auf den Kopf der Bevölkerung. Leider fraß die Kriegstechnik auch diese stattliche Nahrungsreserve: man brauchte den Zucker, um daraus Glyzerin herzustellen.
Als diese Arbeiten beendigt waren, erwog ich ernstlich, ob ich mich nicht als Arzt zur Verfügung der Regierung stellen sollte. Ich war längst nicht mehr dienstpflichtig, fühlte mich aber noch voll diensttauglich und war dicht daran, mich als alter Alpinist bei einem Alpenkorps zu melden. Aber ich war damals bereits zwanzig Jahre aus aller Praxis heraus und hätte mindestens einige Monate auf Wiederholungskurse verwenden müssen, um nicht mehr Schaden als Nutzen zu stiften; denn ich hätte selbstverständlich die Leitung eines Lazaretts übernehmen müssen. Und so war ich denn recht froh, daß sich mir die Gelegenheit bot, die Kenntnisse meines zweiten Berufs im Dienste des Landes auszunutzen. Und zwar in zwiefacher Weise:
Mit einigen zionistischen Freunden, dem Kölner Justizrat Max Bodenheimer und dem Assessor Adolf Friedemann, begründete ich das "Komitee für den Osten", das in naher Tuchfühlung mit dem Auswärtigen Amte und der Obersten Heeresleitung im Osten sich bemühte, die Lage der dortigen jüdischen Bevölkerung möglichst erträglich zu gestalten. Ich habe schon erzählt, einen wie großen Eindruck es auf unsere nichtjüdischen Mitarbeiter machte, als wir einige Stücke des sogenannten "Jiddisch" mit deutschen Buchstaben drucken ließen, um den maßgebenden Männern zu zeigen, daß hier in der Tat ein in seinen Grundlagen rein deutscher Dialekt gesprochen wird. Dieses Komitee hat unter anderen Hilfsmaßnahmen die Übermittlung von Geldspenden nordamerikanischer Juden an ihre im besetzten Gebiet lebenden Verwandten organisiert und lange durchgeführt. Es brachte auch eine Zeitschrift heraus, die Neuen Jüdischen Monatshefte, zu deren Mitherausgebern kein geringerer als der große Marburger Philosoph Cohen gehörte.
Etwas später warb mich Richard Sichler zum Mitarbeiter an seiner Abteilung "A.Z.S." im Kriegsministerium, die er aus den kleinsten Anfängen heraus zu immer höherer Bedeutung entwickelte; [S.224] zuletzt wurde es zu einem eigenen, dem Kriegministerium nebengeordneten Amt, dem "Kriegsamt". Dieser Abteilung fiel allmählich die zwiespältige Aufgabe zu, das Heer mit Menschen und Materialien zu versorgen. Die eine schien die andere auszuschließen: nahmen wir die Arbeiter aus den Fabriken und von den Feldern, um die grauenhaften Lücken zu füllen, die jeder Tag dieses mörderischen Krieges in unsere Reihen riß, so war der noch ungeheuerlichere Verbrauch von Kriegsmaterial nicht zu ersetzen. Sichler, ein Organisator von größter Erfahrung, von unfehlbarem Gedächtnis und beispielloser Arbeitskraft, löste diese Doppelaufgabe so lange, wie es überhaupt denkbar war. Die arbeitenden Menschen wurden nach Möglichkeit durch maschinelle Einrichtungen, die deutschen Männer durch Frauen, Kinder, Gefangene, frei angeworbene Ausländer ersetzt, bis dem ausgesogenen Lande die Kraft versagte. Schon lange vor Kriegsende standen wir vor der Wahl, ob wir Granaten oder Tanks produzieren sollten; für beides zusammen hatten wir weder die Menschen noch das Material, und dennoch mußte der Mangel an einem von beiden das große Ringen zuletzt gegen uns entscheiden. Und General von Wrisberg, unser unmittelbarer Vorgesetzter, erzählt in seinen Erinnerungen, daß man noch kurz vor Kriegsende von ihm siebzig neue Divisionen forderte: "Ich konnte nichts tun als die Achsel zucken."
Herr von Wrisberg war, nebenbei gesagt, der Verfasser der berüchtigten "Judenstatistik" des preußischen Kriegsministeriums, in der nachgewiesen werden sollte, daß die Juden sich nach allen Kräften vom Frontdienst im letzten Kriege gedrückt hätten. Ich habe dieser Veröffentlichung eine eigene Broschüre gewidmet, die in den zweiten Band meiner gesammelten Reden und Aufsätze "Soziologische Streifzüge" aufgenommen worden ist. Ich habe darin nachweisen können, daß es sich um ein Machwerk von unglaublicher Schluderhaftigkeit und Bösartigkeit handelte. Obgleich ich Herrn von Wrisberg durch einen ihm nahestehenden sehr hohen Offizier ein Exemplar zugehen ließ, hat er es nicht einmal für nötig befunden, auch nur den gröbsten aller Fehler richtigzustellen, ein verrutschtes Komma, durch das der Anteil der Juden an den Etappentruppen von 1,1 auf über 11 Prozent erhöht wurde.
Unsere Aufgabe war aber nicht nur eine technische, sondern auch eine volkswirtschaftlich-pädagogische. Wir hatten nach Kräften dafür zu sorgen, daß keine sozialpolitischen Torheiten begangen wurden. [S.225] Jeder der sich schnell ablösenden Kriegsminister vertrat ursprünglich ungefähr den folgenden Standpunkt: "Was, Streiks?! Stellt man einfach ein paar von den Kerls an die Wand, und die Sache ist ausgestanden." Wenn dennoch wenigstens in Deutschland die Arbeiterschaft behandelt wurde, wie sie behandelt werden mußte, so hat unsere Abteilung daran ein beträchtliches Verdienst. Leider sind nicht alle unsere Ratschläge befolgt worden: der unglückliche Beschluß, die belgische Zivilbevölkerung zur Zwangsarbeit heranzuziehen, wäre von uns niemals gebilligt worden.
Ich habe in dieser Stellung viel Erfreuliches und nicht weniger Unerfreuliches kennengelernt. Erfreulich war die Bereitwilligkeit sehr vieler Menschen, sich ohne jede Hoffnung auf persönlichen Vorteil der Gesamtheit mit aller ihrer Kraft, all ihrem Wissen und all ihrer Erfahrung zur Verfügung zu stellen. Unerfreulich war, daß vielfach Menschen an Posten gestellt wurden, denen sie nicht gewachsen waren. Besonders in der ersten Zeit wurden vielfach völlig unerfahrene Offiziere mit Einkäufen betraut, deren Wert in die Millionen ging, und wurden von den ausländischen Lieferanten mit den plumpsten Mitteln auf Kosten des Deutschen Reiches hineingelegt. So erfuhr ich von einem Kontrakt mit einem Ausländer betreffend die Lieferung von "Schuhen"; der Offizier hatte natürlich nur an Soldatenstiefel gedacht, der dänische Shylock hielt sich an den Wortlaut und lieferte Kinderschuhe, Damenschuhe usw. usw. in buntester Auswahl. Ein anderer Offizier schloß einen Vertrag mit einem Schweden: Lieferung von soundsoviel Automobilen "frei Trelleborg-Saßnitz". Es wurde Vorausbezahlung geleistet, aber selbstverständlich wurde die schwedische Regierung benachrichtigt und hielt die Sendung aus Neutralitätsrücksichten zurück. Hier wirkte verhängnisvoll der alte Junkerhaß gegen den Handel, den "Pfeffersack"; und so wurde statt des soliden sachverständigen Fachhandels sehr oft der unsolideste Gelegenheitshandel mit den größten Aufträgen betraut, wobei gute "Beziehungen" eine arge Rolle spielten.
Ebenso unerfreulich war die bürokratische Schwerfälligkeit des Betriebes, die nicht einmal Sichlers Energie ganz und allerorten überwinden konnte. Es dauerte zuweilen Monate, ehe ein Vorschlag nach Durchlaufen des ganzen Instanzenweges an mich zurückkehrte, und dann war er in der Regel nicht mehr ausführbar. Die Gerechtigkeit gebietet, hier hinzuzufügen, daß die Bürokratie der "Gesellschaft" [S.226] sich als kaum weniger beweglich erwies als die des "Staates": ich versuchte einmal, die großen Konsumvereine Berlins zur Einrichtung großer Gemeinschaftsküchen zu bewegen; sie hätten der Bevölkerung eine wesentlich schmackhaftere und gehaltreichere Nahrung geben und ihr dabei sehr viel Geld, sehr viel Feuerungsmaterial und sehr viel Zeit sparen können, die für andere Aufgaben hätten ausgenutzt werden können. Auch dieser Vorschlag wurde abgelehnt; man habe die Menschen nicht; es werde mit den Frauen Schwierigkeiten geben usw. ich dachte an den Geheimrat Thiel und sein trübes Wort: "Sie können doch von einem Bürokraten keine neuen Dinge verlangen." In Wien hat meine verehrte Freundin Eugenie Schwarzwald den Beweis erbracht, daß mein Gedanke praktisch war: sie hat mit ihren "Mittelstandsküchen" unzählige wertvolle Elemente über Wasser gehalten, ohne doch Almosen zu geben.
Am allerunfreundlichsten aber waren gewisse Erfahrungen mit dem Patriotismus gerade solcher Kreise, von denen man ihn am allerersten erwarten und fordern durfte. Es kam gar nicht selten vor, daß der Sohn eines millionenreichen Fabrikanten als "unentbehrlicher" Monteur der väterlichen Fabrik reklamiert wurde; und ich erinnerte mich eines anderen Falles, wo ein sehr hochadliger Herr, Reserveoffizier eines der feudalsten Reiterregimenter Deutschlands, eine - Fleischereikolonne zu führen bekam. Wir haben ja kürzlich auch zu lesen bekommen, wie vorsichtig die Gardeducorps geschont wurden und wie es nur einem Zufall zuzuschreiben ist, daß sie einige Verluste erlitten. Bei Balaclava im Krimkriege rief ein junger Leutnant der Garde zu Pferde in höchster Entrüstung aus: "By Jove, diese Kerls schießen auf die Garde!"