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OBER-OST
Eines Tages im Oktober 1914 kam die Depesche, die die Leiter des "Komitees für den Osten" ins Hauptquartier des Ostens berief. Da wir wußten, daß die Verbindung schwierig und die Mitnahme von größerem Gepäck unmöglich war, so legte ich mein dunkelblaues Norwegerskikostüm an, das ich durch eine Automobilistenlederkappe ergänzte: viele Leute zerbrachen sich denn Kopf darüber, was das für eine neue Uniform sei. Freund Bodenheimer rüstete sich mit einem Sportanzug aus, eine kleine Handtasche mußte für alles übrige ausreichen. Wir kamen ohne wesentliche Schwierigkeiten und Aufenthalte über Breslau bis nach Oberschlesien und erlebten unterwegs den Jubel über die Einnahme Belgrads. Aber dann war es mehrere Tage lang unmöglich, weiterzukommen. Man schickte uns von Pontius zu Pilatus, von Königshütte nach Beuthen, nach Myslowitz und wieder zurück: die Züge, die angeblich abgehen sollten, gingen nicht. Einmal erbarmte sich ein famoser alter General in Pension unserer Not, der in Berliner Autodroschken eine Sendung von Liebesgaben an die Front führte, und ließ uns Platz machen. So kam ich zum erstenmal in meinem Leben nach Rußland hinein; ohne den Krieg und den späteren Sturz des Zarismus hätte ich es nicht wagen dürfen, die Grenze zu überschreiten, denn ich war drüben wegen eines Leitartikels im "Roten Tag", der sogar die russische Botschaft in heftige Bewegung versetzte, auf die Schwarze Liste gesetzt worden. Er war überschrieben: "Das hungernde Rußland" und schloß mit den prophetischen Worten: "Bald wird das Mene mene tekel upharsin an den Zinnen dieser Schädelburg erscheinen."
Ich kannte das österreichische Polen sehr flüchtig; ich hatte einmal in Lemberg mit jungen Anhängern einen längeren Kursus abgehalten und war ein anderes Mal von Rumänien her über Czernowitz-Lemberg-Krakau nach Deutschland zurückgekehrt, war auch im Petroleumdistrikt von Drohobycz gewesen. Der Volkswirt darf mit einer ziemlich großen Wahrscheinlichkeit annehmen, daß die Landeskultur in der unmittelbaren Umgebung der Hauptverkehrsader am höchsten steht: unter dieser Voraussetzung hatten mir jene Reisen die Überzeugung bekräftigt, daß ein Land, in dem das Großgrundeigentum eine so überwiegende Rolle spielt, jammervoll arm [S.228] und rückständig sein muß. Die Dörfer, an denen man von Zeit zu Zeit vorbeikam, glichen eher aneinandergeklebten Wespenstöcken als menschlichen Behausungen: tiefhängende Strohdächer über aussätzigen, krumm ausgebuchteten Lehmwänden, selten ein Schornstein; die Wege ungepflastert, ungepflegt, kotig, ungeheuer breit, weil offenbar bei schlechtem Wetter jeder Wagen sich über die angrenzenden Felder seine eigene Bahn suchen mußte, um nicht im Schlamm steckenzubleiben. Und diese Felder selbst in vorsintflutlicher Weise bestellt, alles in "Beeten" aufgepflügt: ein sicheres Zeichen dafür, daß der Boden nicht dräniert war. Der Landwirt rechnete offenbar immer nur auf eine halbe Ernte: in nassen Jahren wuchs das Getreide oben, in trockenen unten. Sehr selten erschien hinter den Bäumen eines riesenhaften Parkes ein Schloß, ebenso selten eine stattlichere Kirche. Im Petroleumgebiet waren der Schmutz und die Verwahrlosung für westeuropäische Nerven unerträglich; ich wagte kaum, mich auf die zerrissenen Polster der Droschke zu setzen, die mich vom Bahnhof ins Hotel führte, so grauenhaft unappetitlich waren sie, und die an sich sehr guten Pferde davor waren mit Wunden und Schwären bedeckt. Am allerdeutlichsten aber zeigte sich der soziologische Charakter des Landes in Lemberg. Hier fand ich eine einzige Straße, die zur Not auch in einer westeuropäischen Hauptstadt hätte gefunden werden können: ein vortreffliches Hotel, prachtvolle Läden mit den kostbarsten Delikatessen, Pelzen, Damenkostümen und Schmuckwaren von höchster Pracht. Aber man brauchte nur wenige Schritte um die Ecke zu gehen und man fand sich in Elendsquartieren, die selbst dem Kenner des Berliner Nordens und Ostens als höllisch erscheinen mußten. Man führte mich in das Quartier der Dirnen; in schielenden Baracken saßen an den Fenstern armselige alte, vom Leben zermalmte Frauen: ein Anblick, der jedem gutgesinnten Menschen und noch dazu einem dezidierten Sozialisten das Herz zusammenschnüren mußte. Die ganze Verfassung des armen Landes spiegelte sich in dem Gegensatz dieser beiden Stadtteile: ein großes Volk auf reichem Boden der Grundlage jeder Selbständigkeit, Freiheit und Wohlfahrt beraubt durch eine kleine Oberklasse überreicher Grundherren, die im Luxus vergeuden, was sie der Armut abgepreßt haben.
Als ich 1914 in New York war, führten mich Freunde in die Hester-Street im unteren Teile der Insel, um mir die Elendsquartiere der dortigen Judenkolonie zu zeigen, die ihnen als die unterste denkbare [S.229] Stufe schmutziger Armut erschienen. Lieber Gott: den Proletariern und Luftmenschen von Lemberg und Warschau wären sie als Paläste erschienen! Gewiß: alte Häuser, nicht gerade vorbildlich instand gehalten, eine enge Straße mit nicht allzuviel Luft und Licht, aber doch Wohnungen und keine Höhlen! Und die Kinder, die ich in einigen der Behausungen und massenhaft auf der Straße sah, glichen ebensowenig den blutlosen Schatten dort im äußersten Osten Europas, in Halb- oder Dreiviertel-Asien. Sie waren nicht alle besonders rein gewaschen und offenbar nicht alle an den Gebrauch eines Schnupftuchs gewöhnt; aber ich sah keinen zerrissenen Stiefel und kaum einen geflickten Anzug; und es waren gedrungene, rotbäckige kleine Menschen.
Sind denn die Menschen, sind denn die Staatsmänner, ist denn die nationalökonomische Wissenschaft mit Blindheit geschlagen, daß sie nicht erkennen, was die Bodensperre für das Glück und den Wohlstand der Völker bedeutet?! Wo vorwiegend kleine und mittlere Bauern den Boden eignen, da ist Wohlstand, Glück, politische Stabilität. Und nicht nur auf reichem Boden wie in Württemberg, am Rhein, in der Schweiz und in Frankreich, sondern auch auf ganz armem Boden. Kein Land ist von Natur so ärmlich ausgestattet wie Norwegen, das nur im Süden einige fruchtbare Täler besitzt, sonst aber nur auf den schmalen Küstenstreifen etwas Landwirtschaft treiben kann. Und doch sah ich auf einer mehrwöchigen Reise durch das ganze Land bis zum Nordkap nicht einen zerrissenen Schuh oder zerlumpten Anzug; als einst die Interparlamentarische Union in Oslo tagte, das damals noch Christiania hieß, wollten die Gäste dem Stadthaupt ihren Dank für die genossene Gastfreundschaft durch ein Geldgeschenk für die Armen abstatten: er lehnte ab, es gäbe keine Armen! Norwegen ist eben von jeher ein Bauernland; während in dem fruchtbareren Schweden die Urbevölkerung, die schon seßhaft war, von den einwandernden Germanen unterworfen wurde, die sich als grundbesitzender Adel über sie setzten, wichen die Urbewohner Norwegens, noch Jäger, vor ihnen in die Berg- und Eiswüsten zurück, und die stolzen Krieger mußten sich schon dazu entschließen, mit den wenigen mitgebrachten Sklaven selbst den Acker zu bebauen. Norwegen hat niemals einen eingeborenen Adel und massenhaften Großgrundbesitz gekannt. Das ist die Ursache des hohen Wohlstandes, der ungeheuren Kraft und der Sittlichkeit der Bevölkerung. Eine ganze Anzahl von Kaufleuten, die mit Skandinavien [S.230] handelten, erzählten mir, unabhängig voneinander, daß der Norweger, sehr im Gegensatz zum Schweden, der zuverlässigste Kunde sei, den es gebe. Genau der gleiche Gegensatz besteht zwischen dem Bauernlande China und dem Adelslande Japan. Der Chinese erfüllt seinen Vertrag immer, auch ohne schriftliche Verpflichtung; er wird Frau und Kinder in die Sklaverei verkaufen, aber er wird seinen Wechsel einlösen. Aber in Japan war bis vor kurzer Zeit der Kaufmannsstand tief verachtet, und die japanischen Banken sollen fast nur Chinesen als Kassierer haben! Gösta Berling und seine Kavaliere sind nur in Schweden und ähnlich in Japan, aber weder in Norwegen noch in China denkbar.
Wer das Ausland kennt und die Augen offen hat, dem können diese Gegensätze gar nicht entgehen. Ja, selbst der Volkswirt, der nur Deutschland kennt, braucht nur einmal von Ost nach West oder umgekehrt durch das Land zu fahren: und er muß vollkommen blind sein, wenn er nicht sieht, daß er auf der Elbelinie in eine völlig andere Sozialverfassung eintritt. Östlich davon große Ackerbreiten, seltene kleine Dörfer, wenige, entweder jämmerlich kleine und arme oder ungesund große, von Proletariern bewohnte Städte, westlich kleine Ackerparzellen in reicher Kultur, große Dörfer, zahlreiche blühende Klein- und Mittelstädte! Schon die Statistik spricht nicht, sondern schreit: der bekannte Statistiker Rauchberg schrieb 1901 in seinem großen Werke über die deutsche Berufs- und Gewerbezählung von 1895 wörtlich folgendes:
"Hohe spezifische Dichtigkeit der landwirtschaftlichen Bevölkerung, kräftige Entfaltung von Gewerbe, Handel und Verkehr, und infolge des industriellen Überbaues auch eine erhebliche Steigerung der Besiedelung über die agrarische Basis hinaus sind also die Merkmale einer gesunden und kräftigen Volksentwicklung, wie sie im Westen der Elbe ganz überwiegend zutreffen und glücklicherweise bestimmend gewesen sind für die Entwicklung des deutschen Volkes überhaupt. Hingegen hat sich die Arbeitsverfassung östlich der Elbe unfähig gezeigt, eine derartige Wirtschaftsentwicklung zu zeitigen, ja, auch nur die Überschüsse der Bevölkerung festzuhalten. Die Ziffern lehren eindringlicher, als Worte es vermögen, was die Agrarverfassung des Ostens für die Entwicklung des deutschen Volkes bedeutet. Eine eiserne Fessel ist sie ihm geworden."
Das wurde vor dreißig Jahren geschrieben, und noch heute verhindert die Blindheit meiner Herren Fachgenossen die rettende Tat, [S.231] die einzige, die unser Land wieder zur Höhe führen, ja, die allein sie vor der furchtbarsten Katastrophe bewahren kann. Und noch immer gelte ich den Herren als der unverbesserliche "Utopist". Die Wahrheit ist die Sonne im Winter: sie hat es unendlich schwer, die Nebel zu zerstreuen!
Meine Fahrt durch das westliche Genera Warschau bestätigte meine Grundauffassung von neuem. Es stellte sich mir, verglichen mit unserem Deutschland, zwar als arm und verwahrlost dar, aber es stand doch wesentlich höher als Österreichisch-Polen und namentlich also Ostgalizien. Die Ursache? Hier hatte das russische Eroberertum den aufsässigen Adel, der immer wieder in Revolutionen sein schweres Joch abzuschütteln versucht hatte, bekämpft und einen großen Teil seines ungeheuren Besitzes in Bauernhände gebracht: eine weise Politik, die ihm für Jahrzehnte die Ruhe im Lande sicherte, trotzdem der polnische Bauer als Katholik gegen das Regiment des orthodoxen Zwingherrn leicht geneigt war zu reagieren. Ich fand das Land stärker besiedelt, die Städtchen häufiger und weniger jämmerlich, die Wege freilich, mit einziger Ausnahme der großen Haupt- und Militärstraße, die uns über Kielce nach Radom, dem Sitz des Hauptquartiers, führte, in diesem nassen Herbstwetter von unbeschreiblicher Verwahrlosung. Ein besonders kennzeichnender Zug hat sich mir tief eingeprägt: wir hielten in einem Dörfchen, um neues Kühlwasser aufzunehmen; einige Kinder, die scheu herumstanden, hatten wohlgeflochtene blonde Zöpfchen, und ihre armselige Kleidung war sauber geflickt, während wir sonst überall zerzauste und offenbar stark belebte Köpfchen und reichlich zerrissene Kleidung gesehen hatten. Es war ein deutsches Dorf!
In Radom angelangt, erhielten wir Stabsquartiere und meldeten uns bei Ludendorff. Als ich mich, pünktlich auf die Minute, bei dem diensthabenden Adjutanten, dem Hauptmann Lüders, einfand, sagte er mir, der General sei überaus beschäftigt und werde kaum mehr als fünf Minuten für uns übrig haben, ich möchte in äußerster Kürze referieren. Ich referierte in drei Minuten. Als ich anderthalb Stunden später ins Vorzimmer zurückkehrte, fragte mich Lüders sehr erstaunt: "Was haben Sie denn mit Exzellenz angefangen?" Ich hatte ein Examen bestanden, so intensiv und eindringlich, wie ich es nie erlebt hatte. Ludendorff wollte über die Versorgung Deutschlands mit Nahrungsmitteln und Rohstoffen informiert sein. Es kam mir zunutze, daß ich soeben erst eine große Denkschrift über den [S.232] Gegenstand für den Admiralsstab ausgearbeitet hatte; alle Zahlen waren mir gegenwärtig. Damals hatte ich den allerstärksten Eindruck von der Gedankenkraft und Persönlichkeit des Siegers von Tannenberg. Es war ein blitzschnelles Verstehen, und jede neue Frage zielte fehllos auf den Kern der noch übrigen Dinge. Daß auch wir keinen schlechten Eindruck hinterlassen hatten, bewies uns die Einladung, die wir sofort nachher zur Tafel des Oberstkommandierenden erhielten.
Toilette konnten wir nicht machen; es gelang mir, wenigstens einen weißen Kragen aufzutreiben, und so erschien ich in meiner Skitracht zur festgesetzten Stunde im Kasino, wo wir dem verehrungswürdigen Hindenburg vorgestellt wurden. Wie ein Fels stand er inmitten seines Stabes, uns alle überragend. Bald darauf wurde zur Tafel gerufen. Zur Rechten Hindenburgs saß der greise General, der den Liebesgabenzug herangebracht hatte, zu seiner Linken ich als der Ältere von uns beiden, mir zur Linken Ludendorff und an dessen Seite mein Kollege Bodenheimer. Mir gegenüber saß ein Herzog von Sachsen, ganz unten an der langen Tafel der jüngste Prinz von Preußen unter den Leutnants. Das sehr einfache Mahl verlief in Fröhlichkeit; ich merkte bald, daß der große Feldherr einen Scherz liebte, und durfte ihm die neuesten Schnurren erzählen. Einmal lachte er so laut auf, daß die ganze Tafelrunde erstaunt herüberschaute: ich hatte ihm den bitteren Scherz erzählt, der damals in Berlin die Runde machte: "Wissen Exzellenz schon, daß wir beinahe zum Friedensschluß gekommen wären?" - "Nein, woran ist es denn gescheitert?" - "Wir haben verlangt, daß die Ententemächte unsere Diplomaten übernehmen." Dem Mann des Schwertes ging dieser Witz auf Kosten der Helden von der Feder gut ein!
Bald nach Abschluß des Mahles empfahlen sich die beiden großen Herren, die noch zu arbeiten hatten, und man setzte neben mich den damaligen Oberst Sauberzweig*), die ausgepichteste Kehle des ganzen Generalstabs; offenbar sollte die Probe darauf gemacht werden, ob diese so merkwürdig ausgezeichneten und offenbar israelitischen Zivilisten auch beim Becher ihren Mann stehen könnten. Nun, Bodenheimer ist ein Rheinländer, ansässig in Köln, und versagte nicht. Ich aber dachte an Scheffels "Trompeter" und an seinen Stabstrompeter Raßmann: "Herr, 's ist Ehrensache, sprach er", und
Fußnote:
*)
Es war derselbe Offizier, der durch die Erschießung der Miß Cavell in Belgien
sehr bekanntgeworden ist.
[S.233] erlitt wenigstens keine Niederlage. Ich war am nächsten Morgen sehr früh und völlig munter im Gebäude des Gouvernements, mein Zechkumpan, so wurde mir von einem befreundeten Mitglied des Freiwilligen Automobilkorps berichtet, erschien wesentlich später, und man soll ihm den Kampf des Vorabends wohl angemerkt haben.
Es war zur Zeit der Kämpfe um Iwangorod, kurz vor jenem genialen scheinbaren Rückzug unseres Heeres, der es zum siegreichen Flankenstoß in den rechten russischen Flügel führte. Schon vor unserer Ankunft in Radom hatten wir bemerkt, daß wir uns der Front näherten. Wir waren an Schützengräben und Drahtverhauen, an einzelnen zerschossenen und niedergebrannten Häusern vorbeigekommen, und einige Male sahen wir auf den Feldern Bilder wie aus Holzschnitten aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges: aufgeschwollene Pferdekadaver, auf denen hackende Raben saßen. Hier nach Radom strömten zu Tausenden die gefangenen Russen ein: eine graue Masse, meist hochgewachsene, breitschultrige prächtige Gestalten, offenbar nicht allzu traurig über die Wendung ihres Geschicks, geleitet von einigen deutschen Landstürmern unter Gewehr. Und hierhin kamen die ersten Verwundeten, die ich sah, sauber verbunden, auf dem Verbande die ärztliche Diagnose angesteckt, auf der Rückfahrt in die Heimat. Ich mietete eine Droschke mit einem natürlich jüdischen Kutscher und fuhr stundenlang immer wieder mit den braven Jungen zum Bahnhof und leer wieder hinaus, um neue Gäste aufzunehmen. Sie kamen fast alle so frisch und freudig an - es waren ja auch nur die leichter Getroffenen -, daß ich mit ihnen kaum Mitleid empfand, sowenig wie sie mit sich selbst. Was mich aber tief rührte, waren die verwundeten Pferde, die mühselig auf drei Beinen einherhinkten: das Leid der stummen Kreatur!
Unsere Besprechungen wurden an diesem Tage zu Ende geführt. Am Abend hatten wir noch eine geheimnisvolle Aufgabe. Hindenburg hatte uns geklagt, daß er an einer Darmstörung laboriere und keinen guten Rotwein habe; er wundere sich überhaupt, daß niemand daran denke, dem Hauptquartier auch einmal Liebesgaben zukommen zu lassen. Nun, es gelang uns, an jenem Abend einen Korb alter edler Burgunder- und Bordeauxweine aufzutreiben; wir schafften ihn im Schutz der tiefen Dunkelheit in unsere Behausung, denn es hätte den Spender später den Hals kosten können, wenn er verraten worden wäre.
[S.234] Die Sendung wurde dankend angenommen und aufs reichlichste vergolten. Man schickte uns im Etappendienst des Freiwilligen Automobilkorps über Kielce und Krakau bis nach Breslau. Hinter Kielce erhielt ich das erste und einzige Mal im Kriege Feuer. Der Weg führt an ungeheuren wunderbaren Waldungen vorbei, die sich meilenweit hinziehen. Ich saß neben dem Führer des offenen Wagens, als plötzlich die Schutzscheibe splitterte. Er gab Vollgas und wir brausten dahin. Es müssen versprengte Kosaken gewesen sein, die sich dort in den undurchdringlichen Dickichten noch verborgen hielten.
Wir sind dann etwa anderthalb Jahre später noch einmal ins Hauptquartier berufen worden, in der Hauptsache, um die Überweisung der von amerikanischen Juden gespendeten Hilfsgelder an ihre Verwandten in Ober-Ost zu regeln; damals war Ludendorff bereits der ungekrönte König von Ober-Ost, umgeben von einem ganzen Ministerium von Ressortchefs, ein Herrscher von unbeschränkter Machtvollkommenheit, der sogar sein eigenes Geld drucken ließ. Wir wurden wieder aufs freundlichste empfangen und auch wieder zur Tafel geladen, an der außer uns Heinicke, der Generaldirektor des Norddeutschen Lloyds, teilnahm. Das Hauptquartier war damals nicht mehr von ganz so spartanischer Einfachheit wie in Radom. Es befand sich in einer Gartenvorstadt von Kowno, in einer sehr schmucken Villa. Aber das Mahl war immer noch soldatisch einfach, nur daß es diesmal nicht an Wein fehlte. Wir hatten unser Teil dazu beigetragen: wir hatten 1914 von der ersten Poststation aus mit Köln telefoniert, und schon zwei Tage später ging von dort ein ganzer Waggon voll der edelsten Weine und nicht minder edler Zigarren ins Große Hauptquartier des Ostens ab. Und von da an hat Deutschland seine beiden Abgötter nicht mehr dursten lassen.
Ich fand Ludendorff stark verändert, schon äußerlich. Er hatte jene gelbliche Blässe angenommen, die uns an den Bildern Napoleons auffällt, jene "Morbidezza", und psychisch fand ich ihn bei aller Konzentration doch fahriger; er war in grenzenloser Weise überarbeitet, da er alle Fäden der Militär- und der mit ihr aufs engste verbundenen ungeheuren Wirtschaftverwaltung in den Händen hielt, und offenbar begann ihm damals schon die Macht zu Kopf zu steigen. Ich hatte ihn außerordentlich hoch verehrt und war recht traurig über diese Veränderung; ich habe mich damals vertrauten Freunden gegenüber sofort dahin geäußert, daß ich an ihm die ersten Zeichen des Cäsarenwahnsinns zu bemerken glaubte, dem er später [S.235] zu unserem Schmerze immer mehr verfiel. Seitdem habe ich Ludendorff nie wieder gesehen, wohl aber Hindenburg in der Universität in Frankfurt, als die Gedenktafeln für die Kriegsgefallenen der Universität Straßburg enthüllt wurden. Er schien mir nicht im mindesten verändert, dieser Fels der Pflicht und der Treue.
Auf dieser Reise kam ich der Kampffront nicht mehr so nahe; wohl aber fand ich eindrucksvolle Spuren des Krieges in Kowno selbst. Hier hatte die "Dicke Berta" gearbeitet. Das ungeheure Quaderwerk der für uneinnehmbar geltenden Festungswälle lag in abgesplitterten Stücken von der Größe einer vierstöckigen Mietskaserne umher, und die Trichter, die die Riesengranate ausgeworfen hatte, waren von dem Umfang eines kleinen Vulkans. Ein Offizier, der uns führte, zeigte uns den Korridor, aus dem unsere Sturmtruppen die russische Besatzung hervorgeholt hatten: eine wehrlose Herde zu Tode erschrockener, in ihren Nerven vollkommen erschütterter Menschen, die jene furchtbare Beschießung erlebt hatten.
Unsere Aufgaben führten uns in alle größeren Städte Russisch- Polens und Litauens, nach Wilna, Lublin und vor allem mehrfach nach Warschau. Hier erst habe ich die letzten Höllentiefen menschlichen Jammers kennengelernt. Das unglückliche Land war durch die Blockade geradeso abgesperrt wie unser Deutschland, hatte aber von Hause aus weniger Vorräte und Hilfsmittel und wurde unter dem Drucke der eisernen Notwendigkeit auch noch von dem sehr zahlreichen deutschen Heere schwer herangezogen. Dabei gab es wenigstens damals noch keine Rationierung der Lebensmittel. Für diejenigen, die Geld hatten, war noch alles in Friedensqualität und in jeder Menge zu haben. Gegenüber dem Hotel Bristol, wo wir abstiegen, war eine vornehme Konditorei, in deren Schaufenster die feinsten Butterkuchen und Schlagsahnenbaisers in Haufen lagen; und vor demselben Schaufenster sah ich einen armen Teufel, einen Juden, verhungert zusammenbrechen. Als ich zusprang und rief, hier sei Geld, man solle ihm Nahrung besorgen, sagte ein anderer alter Jude, indem er sich den langen grauen Bart strich: "Nu, er hat's doch überstanden." So starben damals die Menschen massenhaft auf den Straßen und noch massenhafter in den fürchterlichen Wohnhäusern, in denen eine Todeskälte herrschte, weil es weder Kohlen noch Holz mehr für die Armen gab. Nie werde ich die Szenen aus dem tiefsten Inferno vergessen, zu denen mich der soeben verstorbene Reichstagsabgeordnete Ludwig Haas führte: im Winkel dunkler [S.236] Kellerhöhlen, auf deren Wänden der Reif funkelte, lagen auf Haufen von Lumpen geisterbleiche oder im Fieber glühende Menschen, gekleidet in Lumpen, notdürftig bedeckt mit Lumpen, die Füße statt in Schuhen in Stücke von alten Säcken gebunden. Und dann sah ich noch etwas, was mir noch heute in der Erinnerung den Schauer über den Rücken laufen läßt: die Poliklinik der "Dropa mleka" (Tropfen Milch). Hierher brachten in langer Reihe abgemagerte Mütter Kinder, die ihrer Größe nach unter einem Jahre waren, aber den Mund voller Zähne hatten. Es waren zwei-, drei-, vier jährige Kinder, die langsam verhungerten, mit Totengesichtern und Spinnenbeinchen, verkrümmt und verbogen von der Rachitis, verlorene Geschöpfchen, denen man nur einen schnellen Tod wünschen durfte; niemals konnten sie sich von dieser grauenvollen Kindheit wieder erholen. Das ist der Krieg! Hier und im Eitergestank der Lazarette, hier muß man ihn kennengelernt haben, um zu verstehen, ein wie frevelhafter Wahnsinn die Gehirne beherrscht, die nicht schlechthin alles opfern und wagen wollen, um die Wiederholung so furchtbarer Dinge in alle Ewigkeit unmöglich zu machen. Ich habe einmal diese grauenvollen Erlebnisse dem holländischen Minister des Auswärtigen, Loudon, geschildert: wie ich mit eigenen Augen in Warschau gesehen hätte, daß verhungerte Menschen aus dem Eise der Rinnsteine die Reste roter Rüben herausgruben, um sie gierig zu verzehren, und alles das, was ich soeben schaudernd zu berichten hatte. Der vornehme Mann, zugleich angewidert und erschüttert, stöhnte ein über das andere Mal laut auf. Ich konnte ihm die Einzelheiten nicht ersparen; wir brauchten seine Hilfe gar zu nötig.
Meine Tätigkeit führte mich bald nach dem Haag, bald nach Bern und häufig nach Wien, um auch das dortige Auswärtige Amt für unsere Arbeit zu interessieren. Ich hatte regelmäßig mit unseren Botschaftern, zuerst mit Tschirschky, dann mit dem Grafen Münster zu arbeiten und wurde auch von den österreichischen Herren, einmal sogar von dem Minister selbst, dem unglücklichen Grafen Stürgkh, empfangen, der später unter der Kugel Friedrich Adlers fiel. Die boshaften Wiener sagten, er sei gestorben, "als wenn er ein großer Staatsmann gewesen wäre". Dort hatte man mehr Zeit als in Berlin. Er hielt mir eine ausgewachsene Parlamentsrede, fast eine Stunde lang; sie unterschied sich auch in der Qualität nicht wesentlich von den meisten Reden dieser Art. Und ich saß auf Kohlen! Ich [S.237] hatte eine Abrede mit unserem Botschafter, und mir saß die preußische Pünktlichkeit denn doch allzu tief in den Knochen. Zuletzt mußte ich mich wohl oder übel entschließen, gegen allen Brauch meinerseits das Gespräch abzubrechen, da ich zu Münster bestellt sei. Das nannten die Wiener das "jungstürgkhische Regiment".
Damals zirkulierte in Wien, der Metropole aller "Raunzer", der beste und zugleich bitterste Kriegswitz, den ich kenne: Ein deutscher Leutnant wird von einem österreichischen Kameraden durch Wien geführt; es fällt ihm auf, daß sich auf dem Turm des Stephansdoms kein Kreuz, sondern ein "Viech" befindet: ein Vogel, den einige für einen Wetterhahn, andere für den Doppeladler halten. Darauf erwidert der Wiener: "Dös is bei uns in Österreich überoll der Foll: überoll ham wir ein Viech an der Spitzen, und dees is unser Kreiz."
So habe ich denn damals auch einen Blick in die hohe Diplomatie tun dürfen und fand, daß doch einige Wahrheit in dem berühmten Worte des schwedischen Kanzlers Oxenstjerna steckt: "Du weißt nicht, mein Sohn, mit wie geringer Weisheit die Welt regiert wird."
[S.238]REVOLUTIONSTAGE
Ich hatte um die Jahreswende 1916/17 mein Referat im Kriegsamt niedergelegt, weil es für mich eigentlich nichts mehr zu tun gab. Die allgemeinen Prinzipien des Vorgehens waren festgelegt; es ist namentlich Richard Sichlers Verdienst, daß das Verhältnis zwischen den Militärbehörden und den Vertretern der Arbeiterschaft dauernd ein im wesentlichen reibungsfreies blieb; mein Schüler Joachim Tiburtius, den ich ihm zugeführt hatte, war hierbei wie in allen Dingen der unmittelbaren Tagesarbeit sein verläßlicher Mitarbeiter. Ich war also überflüssig geworden und kehrte an meine wissenschaftliche Arbeit zurück. Als ich meinem alten Freunde Walther Rathenau bei Gelegenheit der Feier seines fünfzigsten Geburtstages diesen Entschluß mitteilte, stimmte er mir mit Begeisterung zu; er selbst hätte am liebsten auch damals die Last abgeworfen, die auf seinen Schultern drückte: aber er, der große Praktiker, der Wirtschaftsführer, der, wie er mir einmal sagte, "für anderthalb Milliarden des deutschen Volksvermögens mit die Verantwortung trug", war eben unentbehrlich. Ich hatte mit der Firma Veit & Co. den Vertrag geschlossen, ihr ein System der Soziologie zu schreiben; die Bedingungen waren derart, daß ich als damals unbesoldeter Mann eine so weit ausschauende Arbeit in Angriff nehmen konnte; es hat dann auch volle neun Jahre gedauert, bis der theoretische Teil dieses Systems in fünf starken Bänden mit zusammen etwa 3300 Seiten Text vorlag. Ich darf hier gleich hinzufügen, daß ich seitdem an dem historischen Teil arbeite; der erste grundlegende Band ist mit dem Untertitel "Rom und die Germanen" 1929 erschienen. Wenn mir Leben und Kraft genug bleiben, hoffe ich, das Ganze noch vollenden zu können: eine "Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Europas von der Völkerwanderung bis zur Gegenwart", die sich vor allen Dingen bemüht, die letzten Wurzeln des Kapitalismus aufzudecken.
Aus dieser Arbeit riß mich der unglückliche Ausgang des Krieges. Wieder war eine Zeit gekommen, wo der Patriot zum Reden und Handeln verpflichtet war, wo es geboten war, den Versuch zu wagen, ob nicht der Sauerteig neuer Gedanken den fad gewordenen Brei der landläufigen Politik zu nahrhaftem Brote umwandeln könnte.
[S.239] Die Situation sah sich furchtbar gefährlich an. Schon wimmelte es im Hinterland von Deserteuren, die schon um ihrer Selbsterhaltung und Selbstachtung willen gezwungen waren, einen radikalen Umsturz anzustreben. Das Volk war verelendet und verbittert. Wenn ich nach einer meiner zahlreichen amtlichen Reisen aus der Schweiz oder Holland die deutsche Grenze wieder überschritt, dann fiel mir nicht nur der schroffe Gegensatz in der Bekleidung und dem Ernährungszustande unserer Landsgenossen auf, sondern einen noch viel tieferen und trüberen Eindruck hatte ich von der gespannten Erbitterung, die den Gesichtern einen häufig geradezu wölfischen Ausdruck gab. Kam es zu einer schweren Explosion, so war das Schlimmste zu befürchten. Dazu trat noch die Sorge, daß die rückströmenden Massen des Heeres, für die es nicht mehr möglich sein würde, einige Zeit hindurch in ausreichender Quarantäne zu halten, den Flecktyphus und andere Kriegsseuchen in die ungeschützte Heimat übertragen könnten. Hier war kaum etwas zu tun. Wohl aber konnte man versuchen, Heer und Heimatvolk durch eine große Hoffnung moralisch zu gewinnen und zu stärken. In dieser Absicht entwarf ich einen Armeebefehl, der den heimkehrenden Kriegern den Erwerb von ausreichendem Grundbesitz in Aussicht stellte. Joachim Tiburtius brachte den Entwurf ins Große Hauptquartier; er hat dann dem bekannten Hindenburgschen Armeebefehl zur Grundlage gedient.
Ungefähr gleichzeitig wandte ich mich an Philipp Scheidemann, damals den wichtigsten Führer der sozialdemokratischen Reichstagspartei, mit dem gleichen Vorschlage einer umfassenden inneren Kolonisation. Ich setzte ihm auseinander, daß bisher alle politischen und sozialen Revolutionen zuletzt an der plumpen Tatsache gescheitert waren, daß das Landproletariat sich in ungeheuren Massen in die Städte ergoß, gerade zu der Zeit, wo das Kapital sich ängstlich versteckte, und Handel und Gewerbe stockten. Es gab also weder einen Markt für die im Überfluß angebotene Arbeitskraft noch einen solchen für die Produkte, die sie allenfalls bei voller Beschäftigung hätte herstellen können. Die Folge war selbstverständlich: immer wachsende Arbeitslosigkeit, fruchtlose Versuche, sie zu dämmen, steigende Erregung, lokale Ausbrüche von immer größerem Umfange und immer größerer Gefährlichkeit, und zuletzt der bittere Zwang, durch militärische Gewalt diese Ausbrüche niederzuschlagen; womit denn wieder einmal die Gelegenheit einer wirklich eingreifenden [S.240] Reform der todkranken Gesellschaft versäumt war. Eben so klar war die daraus zu ziehende Lehre: die Landflucht mußte nicht nur aufgehalten, sondern wenn irgend möglich in ihrer Strömung umgekehrt werden. Das Mittel dazu: innere Kolonisation, Ansiedlung von Bauern und Landarbeitern im größten Maßstabe. Das dazu erforderliche Land mußte vom Großgrundbesitz erworben werden, nicht etwa ohne Entschädigung, die vorbehalten werden mußte, die der Staat zum vollen Werte zu leisten sich verpflichten mußte. Die Güter waren damals billig zu haben, für kaum mehr als den Wert der Gebäude und des Inventars, und die Großgrundbesitzer, aufs stärkste eingeschüchtert und fast verzweifelt, wären schon heilfroh gewesen, wenn man ihnen auch nur notdürftig den Substanzwert ersetzt hätte.
Noch eine andere Möglichkeit wollte ich den Besitzern geben. Sie sollten die Freiheit haben, sich mit ihren Angestellten und Arbeitern freiwillig unter der Wahrung gewisser, von mir ausgearbeiteter Bedingungen zu einer "Anteilswirtschaft" zusammenzuschließen, die den Beteiligten über ihren Lohn hinaus einen Anteil am Gewinn sicherte. Ich war überzeugt und bin es noch heute, daß ihnen damit kein Opfer erwachsen wäre: der Reinertrag wäre, dank besserer Arbeit und größerer Sorgfalt, sicherlich so stark gewachsen, daß das Einkommen der Grundbesitzer trotz der Abgabe sich eher noch vermehrt hätte. Die auf diese Weise in die Vorstufe des genossenschaftlichen Besitzes übergeführten Güter sollten von der Expropriation nicht betroffen werden, sollte solche überhaupt notwendig werden.
Die Folge dieser staatlichen Aktion wäre schon bei verhältnismäßig langsamem Fortschritt des Aufbaues gewesen eine Beschäftigung des Baugewerbes bis an die letzte Grenze seiner Erzeugungskraft; und das hätte, wie jeder Laie weiß, die ganze Industrie zu der lebhaftesten Tätigkeit "angekurbelt", zunächst die Hilfsindustrien der Erzeugung von Ziegeln, Bauholz, Öfen, Schienen, Gas-, Wasser- und Dränageröhren und diejenigen Gewerbe, die für die neugeschaffenen Höfe Mobiliar und Inventar erzeugen; und dann weiter im guten Zirkel alle deren Hilfsgewerbe und alle diejenigen Industrien, die für die Arbeiterschaft die Waren der Notdurft und des Behagens herstellen. Denn unter diesen Umständen würde die städtische Arbeiterschaft sehr hohen Lohn und entsprechende Kaufkraft haben, da der Zustrom vom Lande abgedämmt, und damit die Konkurrenz [S.241] ausgeschaltet war, die schon in normalen Zeiten den Lohn drückt und ihn jetzt, nach dem verlorenen Kriege und angesichts der drohenden Revolution, ganz und gar in den Abgrund zu reißen drohte.
Das war ungefähr der Inhalt des Vortrages, den ich Philipp Scheidemann hielt. Er ließ mich kaum ausreden: "Ich kann Ihnen nur sagen: Liebe auf den ersten Blick. Das muß geschehen und so fort." In der Tat folgte der zweite Schritt dem ersten mit jener Geschwindigkeit, zu der der bürokratische Apparat des Staates und der großen Parteien nur in solchen Notzeiten gebracht werden kann; zwei Tage später bereits fand eine Sitzung statt, an der außer Scheidemann und mir noch Friedrich Ebert, der spätere Arbeitsminister Bauer und die beiden Sachverständigen der Partei für Genossenschaftswesen und Landwirtschaft, Müller und David, teilnahmen. Es wurde beschlossen, mit möglichster Beschleunigung vorzugehen, und ich ging voller Hoffnungen nach Hause, um die letzten Entwürfe auszuarbeiten. Aber wenige Tage später rief mich Scheidemann telefonisch an: "Da ich doch von den Dingen so wenig verstehe, habe ich es für nötig gehalten, den besten Sachverständigen in diesen Dingen heranzuziehen." Ich fragte erschrocken zurück: "Sering?" Und als er bejahte, mußte ich ihm sagen, daß damit die Angelegenheit erledigt sei. Sering, in der Tat ein ausgezeichneter Kenner der Agrargeschichte und der landläufigen Agrarpolitik, war von jeher ein entschiedener Gegner meiner theoretischen Auffassung und namentlich ihrer praktischen Folgerung, der genossenschaftlichen Siedlung, gewesen: ein schlagendes Beispiel für den ganz allgemeinen Satz, daß niemand in neuen Dingen ein schlechterer Berater ist als der Fachmann. Und dabei hatte ich im Grunde nichts anderes getan, als aus den Tatsachen, die Sering selbst in seinen beiden guten Büchern über die amerikanische Konkurrenz und die innere Kolonisation zusammengetragen hatte, die Konsequenz zu ziehen. Ich hatte das Goltzsche Gesetz der Wanderung durch ihn kennengelernt. Aber dieser vortreffliche Historiker und Beobachter war, wie die meisten von seiner geistigen Anlage, nicht nur kein Theoretiker, sondern als echter Schmoller-Schüler geradezu ein Verächter aller Theorie. Ich habe im Dozentenzimmer der Berliner Universität dabeigestanden, wie er sich völlig ablehnend äußerte gegenüber der Forderung des Kultusministeriums, größeres Gewicht auf die theoretische Ausbildung der Studenten zu legen. Er sagte ungefähr, dann würden sie eben nur ein paar Sätze auswendig lernen, [S.242] die ihnen zu nichts nutze wären. Wie damals fast überall der theoretische Unterricht betrieben wurde, und leider heute noch immer betrieben wird, hatte er ja leider recht. Aber ich habe gezeigt, daß man ihn auch anders betreiben kann, daß es möglich ist, begabte Studenten soweit zu erziehen, daß sie die Theorie aus der Wurzel heraus verstehen und dadurch die Möglichkeit gewinnen, sich in der Praxis aufs beste zurechtzufinden. Schüler von mir sitzen heute nicht nur auf einigen Kathedern des Fachs, sondern haben auch leitende Stellungen in der Industrie, im Bankgewerbe und im Handel inne und fungieren in vielen Ämtern als einflußreiche Beamte; sie haben sich überall durchaus bewährt und versichern mir immer wieder, daß sie ihre Erfolge vor allem der strengen logischen und theoretischen Schulung zuschreiben, die sie in meinem Seminar erhalten haben.
Bei Sering kam noch seine "persönliche Gleichung" hinzu, um ihn zum Gegner meiner Vorschläge zu machen. Er ist ein Schüler Schmollers auch in seiner freikonservativen Einstellung; der Gedanke, daß das niedere Volk, für dessen Hebung er ja aus gutem sozialem Herzen heraus, aber immer nach dem Grundsatze eintrat: "Alles für das Volk, nichts durch das Volk", die Fähigkeiten besitze, um sich selbst zu verwalten: dieser Gedanke muß ihm unannehmbar sein, er bedeutet die Umwälzung seiner ganzen bisherigen Grundauffassung von den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhängen. Er ist es denn auch vor allem gewesen, der mir den schnellen Zusammenbruch meiner praktischen Versuche prophezeite, weil die Arbeiter, übermütig gemacht, die Disziplin nicht halten würden.
Es kam denn auch genau so, wie ich es vorausgesagt hatte. Sering zog seine agrarischen Freunde, und nicht zuletzt die von der extremsten deutschnationalen Richtung, in die Kommission hinein. Ich hatte mit von Klitzing, mit von Wangenheim und Roesicke und - mit Herrn Kapp zu tagen. Es war mir unmöglich, auch nur das Geringste durchzusetzen, obgleich mich die Vertreter der Linken, vor allem der in der Ödlandschaft erfahrene Hans Ostwald und der ausgezeichnete Vorsitzende der Raiffeisen-Genossenschaft Florens Rang, eifrig unterstützten. Ich konnte nicht einmal erreichen, daß die "Anteilswirtschaft" im Gesetz auch nur genannt wurde. Die Atmosphäre war geradezu feindlich, und ich erregte die tiefste Empörung, als ich die Herren einmal bescheidentlich daran erinnerte, daß doch so etwas wie eine Revolution stattgefunden habe. Unter [S.243] diesen Umständen mußte ich erklären, daß ich "die Flöte auf den Tisch lege". Die alte Erfahrung, daß der Starke am mächtigsten allein ist, hatte sich wieder bewährt. Ich habe meine Modellversuche ohne die Hilfe der offiziellen Wissenschaft und der Parteien aufgebaut und zum Erfolge geführt.
Das große Siedlungsgesetz aber mit seinen von Sering erdachten "Landlieferungsverbänden" ist im wesentlichen dasjenige geblieben, was leider bei allen solchen Konferenzen herauskommt, nämlich Papier. Schon während der Beratungen, solange ich ihnen beiwohnte, merkte ich, wohin die Mehrheit der Sering-Kommission zielte: auf die Vermehrung statt auf die Verminderung der Macht der agrarischen Clique. Das Gesetz hätte in den Händen einer wieder ans Ruder gelangten agrarkonservativen Regierung sehr wohl dazu gebraucht werden können, um politisch unbequeme Elemente vom Lande zu vertreiben: Politiker von anderer Färbung und namentlich Juden.
Von meinen übrigen Erlebnissen während der stürmischen Tage im November und Dezember 1918 ist nicht viel zu berichten. Ich wohnte in einem Vorort und kam bei den schlechten Verbindungen nicht allzuviel in die Stadt. Als die große Razzia im Reichstage stattfand, befand ich mich zufällig darin, um an einer Sitzung teilzunehmen; es gelang mir jedoch durch die Gutmütigkeit eines Postens, herauszukommen. Eine gewisse Zeit hindurch war ich an den Sitzungen beteiligt, die der Schiller-Enkel Freiherr von Gleichen Russwurm in seinem Hause abhielt; von den Teilnehmern ist mir nur noch der heißerregte Stadtler in Erinnerung geblieben. Es kam einmal, unmittelbar nach dem verhängnisvollen Entschluß zum Waffenstillstande, dort zu einer höchst eindrucksvollen Szene. Ein höherer Regierungsbeamter schnarrte im schönsten Tone der neu-wilhelminischen Ära, wir brauchten uns die Köpfe nicht zu zerbrechen; die Regierung würde das alles schon in Ordnung bringen. Da brach es vulkanisch aus mir heraus: "Immer noch? immer noch? Halt's Maul und sing die Wacht am Rhein? Deutschland liegt auf dem Sterbebette, und wir sollen immer noch den gleichen Menschen alles überlassen, die uns in dieses Unglück hineingeführt haben?" Ich hatte es mit der ganzen Kraft meiner Stimme herausgeschrien; der elegante Mensch wurde schneebleich, das Monokel entfiel seinem Auge und er drückte sich in den Hintergrund. Ich glaube, erst in diesem Augenblick ist ihm die ganze Lage klargeworden.
[S.244] Eine Zeitlang hatte ich auch, ich weiß nicht mehr durch wessen Vermittlung, eine Karte für die Mittagsküche erhalten, die damals für die Linke im ehemaligen Herrenhause arbeitete. Mir ist das alles heute wie ein wirrer Traum. Als ein Mensch, der niemals Parteimann war noch sein konnte, weil er sicher war, die Synthese aller brauchbaren Bestandteile aller Parteiprogramme gefunden zu haben, stand ich fast mit Entsetzen vor der Unbelehrbarkeit des parteimäßigen Fanatismus von allen Seiten. Ein agrarischer Freund, zu dem ich meine liebe Frau und unseren Säugling geflüchtet hatte, stand genau so unentwegt auf dem Bekenntnis seines Lebens wie nur irgendein fanatischer Anarchist oder Kommunist auf dem seinen. Damals begriff ich, daß nur von einer Seite her die Einigung kommen könnte, von der Jugend. Und in dieser Richtung habe ich denn auch in dem verflossenen Jahrzehnt mit einigem Erfolge gewirkt, nicht nur von meinem akademischen Katheder herab, sondern auch in unmittelbarer Berührung mit den verschiedenen Gruppen der Jugendbewegung. Ich habe zum Beispiel bei einer der Tagungen auf dem Hohen Meißner an der Werra vor den vereinigten Gruppen mein Programm entwickelt und erlebe immer häufiger die Freude, es diskutiert und beachtet zu sehen. Die Zeitschrift "Junge Menschen' hat mir und meinen praktischen Vorschlägen eine ganze Nummer gewidmet, und erst kürzlich bat mich der Bund der Kronacher und Alt-Wandervögel um ein Referat, das mit der größten Aufmerksamkeit aufgenommen wurde und hoffentlich weiter wirken wird. Mein Sohn Ludwig, ein begeisterter Führer der internationalen pazifistischen Jugendbewegung, leistet mir hier die treueste Mitarbeit.
Noch zwei Erinnerungen will ich mitteilen. Die erste zeigt, wie wenig eine moderne Revolution in einer Großstadt wie Berlin bedeutet. Eines Tages in jener Zeit der Unruhe aß ich mit meiner lieben Frau bei Kranzler und ging dann zu Fuß durch die Linden zum Brandenburger Tor hinaus. Am nächsten Morgen erfuhren wir, daß zur gleichen Zeit am Roten Schloß, keine zehn Minuten Gehzeit entfernt, heftig gekämpft worden war. Wir hatten nicht das geringste davon gemerkt.
Die zweite Erinnerung hat einen etwas tragikomischen Charakter. Die sämtlichen Dozenten der Nationalökonomie waren auf den Nachmittag des 26. Dezember 1918 einberufen worden, um die Verteilung des Lehrstoffes für das Sommersemester zu beraten. Wir [S.245] saßen im zweiten Stockwerk der Universität, in den Räumen des Staatswissenschaftlichen Seminars. Da erschien bleichen Antlitzes der Diener der Bibliothek: "Man schießt uns in die Fenster." Der alte, unerschütterliche Professor Jastrow, der soeben als Offizier von der Front heimgekehrte Professor Günther und ich gingen neugierig nach vorn, in einen Raum, der nach den Linden zu lag. Die Fenster waren zersplittert, an dem oberen Teile der Wände waren Kugelspuren sichtbar. Das Feuer hatte aufgehört; offenbar hatten einen der bewaffneten Revolutionäre die erleuchteten Fenster gereizt. Wer sich nicht gerade ans Fenster stellte, konnte von den in sehr steiler Richtung aufsteigenden Kugeln nicht getroffen werden. Es war also nicht gar so arg. Als wir ins Beratungszimmer zurückkehrten, fanden wir es leer; die anderen Herren hatten es vorgezogen, worin sie vollkommen recht hatten, sich vom Kampfplatze zu entfernen. Wir stiegen die Treppe herab und fanden unten in dem großen Vorraum den Major von Oertzen, umgeben von seinen Offizieren, und das ganze Erdgeschoß von Soldaten im Stahlhelm besetzt. Das Gitter gegen die Linden hin war geschlossen. Oertzen rauchte mit gespannter Miene, offenbar sehr erregt, eine Zigarette nach der andern. Allmählich wurde mir die Sache langweilig und ich erklärte meine Absicht, nach Hause zu gehen. "Ich kann nur dringend abraten". war die ernste Antwort. "Aber, Herr Major, dort hinten in der Dorotheenstraße fährt ja eine Elektrische nach der andern." "Gerade von der Seite erwarten wir jeden Augenblick den Angriff." Nichtsdestoweniger bestand ich auf meiner Absicht; ein junger schlanker Leutnant, Revolver in der Hand, führte mich über den mächtigen Hof, der damals noch ein Bauplatz und außerordentlich kotig war, zu dem Bretterzaun an der Dorotheenstraße. "Wenn es jetzt knallt, schnell hinwerfen, Herr Professor", riet mein Begleiter. "Was? In den Dr . . .?" Ich hatte mein kostbarstes Besitztum, meinen Pelz, angelegt. Und der kampferfahrene Jüngling erwiderte trocken: "Ich habe mich schon in ganz andern Dr ... geworfen." Aber es knallte nicht, wir kamen unangefochten an die Tür, der Posten öffnete - und ich fand mich in einer Straße, die ein durchaus alltägliches Gesicht hatte. Die Menschen gingen gar nicht eilig vorbei, und ich konnte in vollster Ruhe an der Ecke der Universitätsstraße auf die Straßenbahn warten, die mich durch den Tiergarten zum Zoo führte. Ich mußte von Herzen lachen: ein wenig von der Spannung hatte ich doch verspürt, die ich von meinen Gebirgsfahrten her [S.246] kannte, das seltsam beglückende Gefühl, "den Tod am Bart zu zupfen", wie Mowgli im Dschungelbuch sich ausdrückt. Und ich dachte an die berühmte Geschichte aus dem Rheinlande. Streik drohte, und der Oberpräsident sandte Depesche auf verzweifelte Depesche nach Berlin um militärische Verstärkung. Die Regierung wandte sich an den kommandierenden General und erhielt die klassische Antwort: "Alles ruhig, mit Ausnahme der Zivilverwaltung." Nur daß es diesmal nicht eben die Zivilverwaltung gewesen war.
[S.247]ORDINARIUS
Im Jahre 1917 überraschte mich das Kultusministerium mit der Ernennung zum Titularprofessor. Es war die zweite Liebenswürdigkeit, die mir mein Ministerium erwies. Etwa ein Jahr zuvor hatte ich plötzlich, ohne je darum ersucht zu haben, eines der Stipendien erhalten, die das Ministerium für Privatdozenten zu vergeben hatte. Ich bedankte mich selbstverständlich, indem ich meine Überraschung aussprach: ich sei durch meine Kollegeinnahmen gut genug gestellt und möchte keinen bedürftigeren Kollegen benachteiligen. Aber ich bedankte mich schriftlich. Ich bin bis zu meiner Ernennung zum ordentlichen Professor, die zwei Jahre später erfolgte, nur zweimal im Ministerium gewesen: das erstemal im Jahre 1886, als ich mir mein Diplom als praktischer Arzt abholte, und das zweitemal im Anfang des Krieges, um mich für einen englischen Gelehrten zu verwenden, den man in die Hausvogtei gesperrt hatte. Ich habe es mein Lebtag nicht fertigbekommen, einen Fremden für mich um etwas zu bitten; es war mir sogar immer unerträglich, auch nur für einen Augenblick den Schein zu erwecken, als wenn ich um etwas bitten oder auch nur, wie das Sprichwort sagt, "mit dem Blumenstengel winken" wollte. Wieviel von diesen inneren Widerständen auf Hochmut und wieviel auf Schüchternheit beruht, wage ich nicht zu entscheiden. Was mir nicht freiwillig entgegengetragen wird, hat für mich keinen Wert. Diese - berechtigte oder unberechtigte - Eigentümlichkeit ist mir wahrscheinlich ein schweres Hindernis bei der Aufbringung der Mittel für mein Lebenswerk, die Siedlung, gewesen; auch hier schnürte sich mir die Kehle zu, wenn ich reichen Leuten gegenüberstand, die ich um Förderung des Planes ersuchen wollte. Ein miserabler Weinreisender! Ich habe eine ehrliche Be wunderung für die geschickten Männer, die es fertigbekommen, die großen Kapitalisten zu erleichtern, nur schade, daß es sich hier selten um Dinge von so großer Bedeutung handelt.
Bei jenem zweiten Besuch im Kultusministerium, dem ersten, den ich ihm als Privatdozent abstattete, wurde ich zu meiner Überraschung unmittelbar dem Unterstaatssekretär zugeführt. Als ich ihm meine Bitte vorgetragen und das Versprechen wohlwollender Erwägung erhalten hatte, erhob ich mich mit sehr herzlichem Dank, [S.248] um zu gehen. Der Gewaltige fragte, offenbar etwas betroffen: "Haben Sie mir sonst nichts zu sagen, Herr Doktor?" Ich verstand ihn sehr wohl: er hatte die Angelegenheit des englischen Kollegen nur als die von mir gern ergriffene Gelegenheit betrachtet, die übliche Frage der Beförderung an ihn zu stellen. Aber eben das machte mir ein Eingehen auf diese Frage, an die ich übrigens wirklich nicht gedacht hatte, moralisch unmöglich. Ich verneinte, er geleitete mich bis an die Tür und versuchte noch einmal, mir das Stichwort zu geben: "Sie haben ja ganz ausgezeichnete Lehrerfolge." Ich antwortete: "Weiß man das hier?" - "Hier weiß man alles." Aber ich schnappte wieder nicht ein und hinterließ, wie ich später von befreundeter Seite erfuhr, einen Mann, der, sehr erstaunt, eine ganz neue Erfahrung gemacht hatte. Es scheint im allgemeinen, daß die Privatdozenten nach verhältnismäßig kurzer Frist an der charakteristischen Krankheit zu leiden beginnen, die sich in immer wiederholten Besuchen im Ministerium zu heilen sucht. Mich hat diese Krankheit nicht befallen. Zunächst war ich von allem Anfang an völlig fest davon überzeugt, daß ich niemals in eine beamtete Stellung einrücken würde. Ich war froh genug, daß man mir keine Hindernisse in den Weg legte, wenn ich meine wissenschaftliche Überzeugung ungeschminkt und "ungeschnitzt" (wie der treffliche Moeser sagt) angesichts des kaiserlichen Palais vortrug. Ich habe denn dieser Freude auch in dem Bericht über meine amerikanische Reise von 1914, der in der Vossischen Zeitung erschien, gerechterweise Ausdruck gegeben. Dort drüben kann ein ordentlicher Professor von heute auf morgen vor die Tür gesetzt werden, "fired" nennt man das, wenn seine Nase oder gar seine religiöse Überzeugung dem Präsidenten des Komitees, d. h. dem Geldgeber, nicht paßt. Aber in Deutschland durfte ein Rebell wie ich ungehindert sein Letztes sagen! Es ist eben drüben auch nicht alles Gold, was glänzt; und es gab im kaiserlichen Deutschland doch auch noch andere Dinge als nur "Blut und Eisen".
So herzlich ich es auch immer anerkannte, daß die Freiheit der Wissenschaft in Deutschland wirklich bestand: an die Beförderung in ein Amt dachte ich nicht. Ein Demokrat, ein entschiedener Sozialist, keiner Partei verpflichtet, der Gegner schlechthin aller existierenden wissenschaftlichen Schulen und Cliquen, hatte ich außer dem alten Adolf Wagner, dem letzten Ritter der großen Theorie, niemanden, der für mich einzutreten gesonnen war. Er empfahl [S.249] mich, wo er nur irgend konnte: nach Göttingen, nach Prag und vielleicht noch an andere Stellen, selbstverständlich ohne Erfolg, und ich nahm es lächelnd hin. Ich mußte mir mit Conrad Ferdinand Meyers Ulrich Hutten sagen:
Ich muß es mir gestehen dann und wann:
Nicht gänzlich ungerecht bin ich im Bann.
Meine Hand war gegen jedermann, und jedermanns Hand war gegen mich.
Dann aber, ich muß es ehrlich eingestehen, lag mir auch gar nicht soviel an der Beförderung. Ich hatte meine völlige Freiheit, Schüler, die mich liebten und ehrten, eine Tätigkeit, die mich durchaus befriedigte, und ein Einkommen aus meinen Vorlesungsgeldern, um das mich mancher ordentliche Professor beneiden konnte. Und meine damals schon nahezu zwanzigjährigen Erfahrungen über Kritik und Kritiker in meiner Wissenschaft hatten mich nicht gerade zu der Überzeugung gebracht, daß es ausschließlich Köpfe höchsten Ranges sind, die auf die Katheder der Ökonomik berufen werden. Ein geistreicher Kollege, ich glaube, es war Professor von Halle, sagte mir denn auch einmal, als von dem sehr mäßigen Format vieler Hochschulbeamten unseres Fachs die Rede war: "Warum wundern Sie sich, Herr Kollege? Was gehört denn auf einen Lehrstuhl?" Ich hatte niemals daraus ein Hehl gemacht, daß mir Heinrich Heines boshafte Charakteristik der Göttinger Professoren seiner Zeit auch noch zu meiner Zeit und durchaus nicht nur für Göttingen als recht treffend erschien, der zufolge manche ordentlichen Professoren nichts Außerordentliches, und die außerordentlichen nichts Ordentliches wissen. Ich hatte mir schon als Outsider der Hochschule einen ganz anständigen Namen gemacht, und ich glaubte nicht recht daran, daß Titel und Amt wesentlich zu meiner Erhöhung beitragen würden. "Setz dir Perücken auf von Millionen Locken, setz deinen Fuß auf ellenhohe Socken, du bleibst doch immer was du bist." Ich glaube die reine Wahrheit zu sagen, wenn ich behaupte, daß ich Theodor Storms weisen Rat immer befolgt habe: "Hüte deine Seele vor dem Karriere machen." Ja, es machte mir sozusagen einen diebischen Spaß, wenn immer wieder ausländische Fachgenossen, die mich aufsuchten, mich als "Herr Professor" oder gar als "Herr Geheimrat" anredeten und es gar nicht glauben wollten, daß ich ein ganz simpler Dozent sei.
[S.250] Dabei fällt mir eine nette kleine Geschichte ein. In Chantarella, oder St. Moritz, redete mich vor einigen Jahren der ehemalige Minister von Raumer auch als Herr Geheimrat an. Als ich erwiderte: "Exzellenz, dem bin ich noch glücklich entronnen", sah er mich zu erst ganz fassungslos an und brach dann in ein schallendes Gelächte aus, in das ich fröhlich einstimmte.
Ich habe denn auch niemals eine Berufung erhalten, zum wenigsten nicht aus der eigenen Initiative einer deutschen Fakultät. "Knif", sagt der Berliner, "kommt nicht in Frage"; so muß es wohl überall geheißen haben, wenn bei einer Neubesetzung wirklich einmal mein Name genannt worden sein sollte. Und auch daran bin ich nicht ganz ohne Schuld, ganz abgesehen von meiner wissenschaftlichen Stellung als Störenfried, als "Bönhase". Denn ebensowenig wie im Kultusministerium hatte ich mich jemals auf dem "Markt" blicken lassen, auf dem sich normalerweise die Privatdozenten dem Wohlwollen der Ordinarien empfehlen, nämlich auf den Sitzungen des "Vereins für Sozialpolitik". Hier geht es, selbstverständlich unter peinlicher Wahrung der akademischen Würde, im Grunde doch ungefähr zu wie in "Martha oder der Markt zu Richmond", nach der schönen Weise: "Ich kann säen, ich kann mähen, ich kann stricken, ich kann flicken." Ich war schon lange ordentlicher Professor, als ich zum erstenmal einer der Tagungen des Vereins, 1926 in Wien, beiwohnte. Es ist kennzeichnend, daß der Vorsitzende, Herr Geheimrat Diehl, als ich mich zum Worte meldete, erst nach meinem Namen fragen mußte.
Ich verdanke meine Berufung auf den ordentlichen Lehrstuhl für theoretische Nationalökonomie und Soziologie der warmen Freundschaft und dem tiefen Verständnis, die mir einer der größten Kaufleute Deutschlands, der Konsul Dr. h. c. Karl Kotzenberg in Frankfurt am Main, entgegentrug. Er suchte meine Bekanntschaft, nach dem er einen Aufsatz aus meiner Feder gelesen hatte, der in der Neuen Rundschau erschienen war: "Wir und die anderen". Ich habe die Arbeit fast unverkürzt als gutes Beispiel völkerpsychologischer Unterschiede in meine allgemeine Soziologie übernommen. Er veranstaltete zuerst Kurse, zu denen ich während zweier Kriegswinter alle Sonnabend nach Frankfurt hinüber fuhr, und stiftete dann die erste ordentliche Professur für Soziologie, die in Deutschland errichtet wurde, mit der Bedingung, daß ich als erster berufen würde, und das Ministerium bot mir die Stellung an. Ich schwankte lange, [S.251] ob ich annehmen sollte. Ich mußte meine Schüler, mit denen ich in der schönsten Weise zusammen arbeitete und lebte, mußte meine Heimatstadt verlassen; freilich zeigte diese gerade damals, unmittelbar nach dem Zusammenbruch, eine Physiognomie, die mich anwiderte. Sie hat in ihrer Urgesundheit diese Krankheit zum Glück schnell genug wieder überwunden, aber damals trug die schlimme Veränderung stark dazu bei, meinen Entschluß zu bestimmen. Den Ausschlag gab schließlich die Sorge um Weib und Kind. Ich hatte zum zweitenmal geheiratet, eine in Frankreich geborene und er zogene vornehme Engländerin; wir hatten ein herzlich geliebtes Kindchen und weder Vermögen noch Aussicht auf ein solches. Unter diesen Umständen fiel die Sicherung, die das Amt den Meinigen im Falle meines frühen Todes gewährte, schwer ins Gewicht, und ich nahm an.
Ich hätte besser getan, abzulehnen. Aus vielen Gründen. Zunächst wäre ich ganz bestimmt wenige Wochen später in Berlin selbst zum Ordinarius ernannt worden, zusammen mit drei anderen, ebenfalls älteren und ebenfalls wohlgeachteten Dozenten: Jastrow, Ballod und von Bortkiewitz, und ich hätte mich auch materiell dabei wesentlich besser gestanden als in Frankfurt, obgleich der Minister, damals Hänisch, mir sofort das Höchstgehalt zugebilligt hatte. Aber die Einnahmen aus Kolleggeldern wären an der Riesenuniversität Berlin ungleich größer gewesen als in dem verhältnismäßig kleinen Frankfurt. Jedoch das sind schließlich wenig wichtige Dinge: ich hatte zu leben und war materiell gesichert. Schlimmer war, daß es mir in Frankfurt entfernt nicht so gut wie in Berlin gelang, eine Gemeinschaftsgruppe von Schülern um mich zu sammeln. Auch in Berlin hätte ich in jener Zeit das alte Niveau wohl nicht mehr erreichen können; denn die Not unter den Studenten war allzu groß, als daß sie wie in der früheren Friedenszeit sich jahrelang der reinen Wissenschaft hätten hingeben können. Sie waren fast sämtlich gezwungen, mit möglichster Beschleunigung auf den Abschluß ihres Studiums zu drängen, weil die schmalen Mittel nicht weiter reichten; viele waren auch Werkstudenten. Der Erwerb wertvollerer Bücher war den meisten unmöglich, was den Seminarbetrieb aufs äußerste erschwerte. Und die persönliche Fühlung, das echte Freundschaftsverhältnis zwischen dem Führer und den Geführten, entbehrte jetzt auch der schmalen materiellen Basis, auf der es in Berlin geruht hatte. Ich hatte dort regelmäßig nach dem Seminar mit meinen [S.252] Schülern bei einem Glas Bier in einem sehr bescheidenen Kneipchen zusammengesessen, in einem Gespräch, das nicht nur unserer Wissenschaft galt, sondern in dem wir uns über alle Dinge aussprachen, die den einzelnen und die ganze Gemeinschaft bewegten; und ich hatte weiterhin fast regelmäßig wissenschaftliche Exkursionen unternommen, bei denen wir uns menschlich immer nähertraten. All das war in jenen schrecklichen Jahren unmöglich; vielen meiner Schüler war die Ausgabe für das eine Glas Bier oder den einen Becher echt Frankfurter Äpfelweins unerschwinglich, und der einzige Serninarausflug, den ich zustande brachte, wurde nur dadurch möglich, daß meine jungen Freunde die wunderbarste Gastfreundschaft aller der Firmen genossen, deren Einrichtungen wir studierten: des Hauses Ullstein, der Allgemeinen Elektrizitäts-Gesellschaft, deren damaliger Generaldirektor Peierls Ehrendoktor meiner Fakultät ist, und schließlich meiner eigenen Siedlungs-Treuhand-Gesellschaft, die die ganze Gesellschaft in Bärenklau begastete.
Diese Not hätte mir gewiß auch in Berlin die Arbeit erschwert, aber ich hätte doch dort den stattlichen Kern älterer Schüler gehabt, die schon in Amt und Würden waren und sozusagen die Unteroffiziere und Subalternoffiziere des Betriebes darstellten.
Und schließlich und vor allem: in Frankfurt herrschte ein anderer Geist als in Berlin. Die dortige Universität ist bekanntlich hervorgegangen aus den Senckenbergschen Instituten einerseits und der Handelshochschule andererseits. Die Fakultät, in die ich berufen wurde, hat die amtliche Aufgabe, gleichzeitig als Handelshochschule zu wirken. Das bedingt, daß ihre Arbeit sehr stark auf die Ausbildung von Praktikern des Wirtschaftslebens gerichtet sein muß, mehr als an den alten Universitäten, die ihre Aufgabe immer noch vorwiegend in der Ausbildung von Wissenschaftlern erblicken. In Frankfurt spielen die drei Vertreter der Handeiswissenschaft, der neuerdings sogenannten "Betriebswirtschaftslehre", bei der Kleinheit der Fakultät schon rein zahlenmäßig eine sehr starke Rolle; und jener Umstand bewirkt selbstverständlich auch eine andere Zusammensetzung der Studentenschaft; es überwiegen die Elemente, die nach Abschluß des Studiums unmittelbar in die kaufmännische oder eine andere Praxis einzutreten beabsichtigen, und entsprechend seltener sind diejenigen jungen Leute, die vorwiegend wissenschaftliche Interessen haben. Aus diesen Gründen paßte ich mit meiner Eigenart als ausgesprochener Theoretiker und Universalist nicht [S.253] recht dorthin. Ich habe nicht die mindeste Veranlassung, mich über die Haltung der meisten meiner verehrten Kollegen zu beschweren; sie kamen mir mit aller Freundschaft entgegen, und das persönliche Verhältnis zu fast allen war ein sehr erfreuliches. Aber ich glaube doch nicht zu irren, wenn ich annehme, daß nur wenige von ihnen meine Arbeit und ihre Ergebnisse so würdigten, wie ich es hätte hoffen können. Und die Studenten waren, namentlich seit der Einführung des Examens als Diplomvolkswirt, derart mit Pflichtvorlesungen überlastet, daß ich mein Hauptfach, die Soziologie, nur sehr wenigen die Zeit und die Kraft übrigblieben. Ich las eine meiner schönsten Vorlesungen, über den "Staat", im Winter 1927 vor einem Auditorium von nur etwa dreißig bis vierzig Hörern, von denen noch dazu die meisten nicht meiner Fakultät angehörten. Man versteht, daß einem Dozenten, der wie ich gewöhnt war, vor sehr großen Hörerschaften zu sprechen, dabei die Lust am Leben nicht gerade gesteigert wurde.
Es kam dazu, daß mir das Frankfurter Klima nicht zusagte. An die stählerne Seeluft Berlins gewöhnt, empfand ich die weiche Luft des Main-Rheintals als lähmend. Und, was schlimmer war, sie wirkte verstärkend auf das alte Erbübel, an dem ich leide, an dem meine liebe Schwester Paula Dehmel 1918 in verhältnismäßig jungem Alter starb: auf die chronische Bronchitis. Es ist merkwürdig, daß ich, freilich vorerst in sehr milder Weise, von der ersten Krankheit geplagt werde, die ich als junger Kliniker studierte, der ersten, die ich bei Leyden diagnostizierte, dem Lungenemphysem. Es ist das ein Leiden, das gerade für einen Berufsredner, und das ist ja mehr oder weniger ein Professor, überaus störend ist.
Über meiner Frankfurter Zeit waltete ein schwerer Unstern. Meine bis dahin herrliche Gesundheit wurde schwer erschüttert. Zweimal erkrankte ich an einer Grippe mit sehr unangenehmen Nachwirkungen, zuerst einer Siebbeinentzündung, die mich jahrelang plagte, das zweitemal an einer Herzschwäche, die freilich bald wich. Dann warf mich eine Blutvergiftung nach einem winzigen chirurgischen Eingriff volle zehn Wochen auf das Krankenlager; ich entrann nur mit knapper Not dem Tode. Und zuletzt brach ich mir bei einem unglücklichen Sturz den Schenkel und wurde zum Krüppel; ich mußte meine geliebten Berge aufgeben. Weitaus das ärgste aber, was mich traf, war der Tod meiner lieben Frau, die auf dem Schlachtfelde der Frauen blieb, mit dem zweiten Kinde, das sie mir schenken sollte. [S.254] Nicht einmal ganze fünf Jahre großen Glücks waren uns beschieden gewesen.
Ich hatte in Frankfurt eine Reihe lieber Freunde gewonnen, Männer und Frauen von Geist und Herz, die mich liebten und betreuten. Aber nach allem, was ich hier eben zu erzählen hatte, versteht man, daß ich es ablehnte, die drei Gnadenjahre anzunehmen, die ich nach Erreichung der Altersgrenze ganz bestimmt noch hätte haben können, und mich emeritieren ließ. Es war nicht nur die Sehnsucht nach der Vaterstadt, nach ihrer vertrauten Luft und Sprache, es war vor allem die große Lebensaufgabe, die mich zurückrief, die Förderung der Siedlung. Nur in Berlin, dem Sitz der Parlamente, aller Ämter, der meisten einflußreichen Persönlichkeiten, konnte ich das wenige an Einfluß, das ich mir erworben habe, zu voller Wirksamkeit einsetzen.
So kehrte ich denn im März 1929 Frankfurt für immer den Rücken. Zum Teil aus dem Grunde, weil ich in Berlin keine Wohnung finden konnte, die mir zusagte, und deren Miete ein emeritierter Professor aufbringen konnte, hauptsächlich aber aus dem wichtigeren Grunde, weil ich die Entwicklung meines Werkes einmal einige Jahre hindurch aus der nächsten Nähe beobachten wollte, mietete ich von meiner Gesellschaft das zum Teil leerstehende Herrenhaus ihres neuerworbenen Gutes Lüdersdorf. Ich habe dort zwei schöne und arbeitsreiche Sommer durchlebt; zum erstenmal sah ich armer Asphaltmensch die Natur erwachen, freute mich an den ersten gelben Winterlingen und weißen Schneeglöckchen und durchlebte die große Sinfonie der Natur in ihrem brausenden Aufschwung bis zur Lindenblüte und in ihrem Ausklingen bis zum Fall des letzten Blattes. Damit hat ein neues, hat wahrscheinlich das letzte Kapitel meines Lebens begonnen.