[S.306] ADOLF WAGNER*)

Nur kurze Zeit ist vergangen, seit unser Adolf Wagner, seit unser lieber und verehrter Altmeister Adolf Wagner seine Abschiedsvorlesung hielt. Die Zeitungen hatten das erschütternde Ereignis vorher angekündigt; wir Dozenten der Nationalökonomie hatten unsere Schüler darauf hingewiesen, und so war denn der große Hörsaal mit jungen Studenten und älteren Männern dicht gefüllt, die noch einmal den Worten ihres Lehrers lauschen wollten. Und Wagner feierte seinen letzten Sieg. Den Sieg über seine Hörer, die fast atemlos hinhorchten, als der greise Kämpfer noch einmal in voller Geistesfrische das wissenschaftliche Glaubensbekenntnis sprach, dem er über ein halbes Jahrhundert treu geblieben war: die nie wankende Liebe zu den Enterbten, der Haß gegen den raffsüchtigen Kapitalismus, das Vertrauen auf den starken Staat, den er ganz kantisch auffaßte, als den Fleisch gewordenen kategorischen Imperativ, und der Glaube an die Kraft des reinen Denkens; auch das ein kantischer Zug, wie denn die ganze knorrige Persönlichkeit ebenso kantisch wie kantig war, der wahrhafte Vorstreiter der in harter Gedankenarbeit erkannten Pflicht, der edelste Vertreter jenes harten starken, selbstüberwindenden Preußentums, das in Königsberg und nicht in Potsdam zu Hause ist, und das sein Geist uns helfen wird, hinüberzutragen in die neue Zeit, die er nicht mehr erleben sollte, um es zu vermählen mit dem Geiste Weimars: die Pflicht mit der Schönheit, die Kraft mit der Anmut, die Härte mit der Weichheit, die Enge des Nationalismus mit der Weite des Weltbürgertums, die Strenge mit der Freude.

Es war jener Geist des edelsten Preußentums; es war jener Königsberger Preußengeist der Pflicht, der damals die lauschenden Hörer hinriß. Leibhaftig saß die Pflicht auf dem Katheder: ein hinfälliger Greis, der „ging, als wäre er von Holz" (wie Kipling von einem alten Helden sagt), den man aufs Katheder hatte führen müssen, auf dessen gefurchtem Antlitz die tödliche Müdigkeit eingemeißelt war, die ihn zu seinem tiefen Schmerze zwang, mitten im Semester der

*) Gedächtnisrede vor Akademikern in Berlin am 8. 1. 1918. (Gekürzter Abdruck aus „Wege zur Gemeinschaft", 1924, mit Zustimmung des Verlages Hueber, München.)

[S.307] geliebten Lehrtätigkeit Valet zu sagen: und dieser gebrechliche Körper straffte sich noch einmal, die todmüden Augen blitzten noch einmal in jugendlichem Feuer, und aus dem welken Munde sprühte die Rede in Feuerfunken, wie in der Zeit seiner vollen Kraft. Es war die Idee, die über die Materie siegte, das Unsterbliche in dem Manne, das das Sterbliche überwand: ein herrlicher Sieg über sich selbst, und das vollendete den Sieg über die Hörerschaft, die leibhaftig vor sich sah, was echte, treu gepflegte Wissenschaft bedeutet. Hier sprach die Sache für sich selbst, schlicht und klar und darum stark und hinreißend. Weil es ihm „Ernst war, was zu sagen", war's nicht nötig, „Worten nachzujagen", war's keine von den „Reden, die so blinkend sind, in denen ihr der Menschheit Schnitzel kräuselt", und die darum so „unerquicklich wie der Nebelwind, der herbstlich durch die dürren Blätter säuselt".

Wir dürfen getrost die Menschen aller Zeiten, Sprachen und Rassen in zwei Klassen einteilen: eine kleine Minderheit, denen nur an ihrer Sache liegt, und eine große Mehrheit, denen nur an ihrer Person liegt. Die zweite ist nur Kulturdünger, sie ist das Flüchtige, das „Nicht-Seiende" im Sinne Piatons, die erste ist das Salz der Erde, ist die Triebkraft des sozialen Prozesses, der uns, wir hoffen es, denn sonst könnten wir nicht leben, durch Blut und Graus und Schmerz und Kampf dennoch zur schönen Vollendung führen wird. Die Sachlichen, die nicht ins Parkett schielen, um den Beifall zu erhaschen, den sie verachten, die nicht vor dem Spiegel Mienen und Gesten einstudieren, die aller Koketterie Abholden, die von ihrem Werke und seiner Idee Besessenen, das ist alles, was von der Menschheit wert ist, daß es nicht zugrunde geht.

Solch ein Besessener seiner Sache, solch ein Prophet im besten Sinne der Bibel war unser Adolf Wagner. Das durfte ich ihm damals aussprechen, als ich ihm nach jener unvergeßlichen, erschütternden Abschiedsvorlesung die Scheide worte sagen durfte als derjenige der Jüngeren, der in seinen letzten Jahren ihm vielleicht näher gestanden hatte als ein anderer Dozent unserer Hochschule, als ein Mitstrebender auf gleichen steilen Wegen, der ihn fast wie einen Vater verehrte und liebte. Ich wußte damals, trotzdem ich von Erholung und Wiedersehen sprach, daß ich mich und die anderen täuschte; ich wußte, daß der ehrwürdige Mann dort auf dem Katheder, der zusammengesunken da saß, erschöpft von der Anstrengung seines langen Vortrages, durchwettert von dem Schmerz des Abschieds [S.308] und Verzichtes, gut altpreußisch, wie Bismarck sagte, „in den Sielen starb". Hoffentlich fand meine Liebe und Freundschaft, wenn ich das stolze Wort brauchen darf, damals die rechten Worte. Ich sagte den jungen Leuten vor uns, daß sie einem weltgeschichtlichen Augenblick beiwohnten: ein Fürst der Wissenschaft lege seine Krone nieder, ein berühmter Kämpfer, „die Brust belaubt von Narben", wie Liliencron sagt, entgürte sich seines Schwertes. Und ich sagte, warum wir ihn lieben und verehren: weil aus diesem Munde niemals ein bewußt unwahres, niemals sogar ein bewußt halbwahres Wort gekommen ist; weil von ihm das stolze Wort des deutschen Akademikers ohne Einschränkung immer gegolten hat: „Wer die Folgen zuvor ängstlich erwägt, der beugt sich, wo die Gewalt sich regt". Stets stand er in voller Breite offen in jeder Bresche, in die seine Pflicht, seine Sache ihn rief: eine Kämpfernatur, eine Raufernatur sogar, wenn man will; aber nur für das Echte und Bleibende zog er sein Schwert „und hinter ihm in wesenlosem Scheine blieb, was uns alle bändigt, das Gemeine".

Er starb wie Faust, müde, satt und trotz aller Leiden und Beschwerden seiner letzten Monate doch glücklich im Gefühl der treu erfüllten Pflicht. Ich sah ihn aufgebahrt; feierlich, groß, erdenfern, göttlich fremd und dennoch heiter war das vertraute Antlitz, heiter, als wäre er über dem Wort eingeschlafen, das aus seiner neuen Heimat an sein Ohr drang; „Komm her, du guter und getreuer Knecht".

Wenn wir versuchen wollen, Adolf Wagners Stellung in seiner Wissenschaft in Kürze zu skizzieren, so müssen wir uns vergegenwärtigen, in welcher Zeit er lebte und lernte. Am 25. März 1835 in Erlangen geboren, war er fast genau 13 Jahre alt, als der Sturm der deutschen Revolution ausbrach und auch an den Fenstern des stillen Professorenhauses in Göttingen rüttelte, in dem sein Vater damals lebte. Sein Studium in Göttingen und Heidelberg von 1853 bis 1857 fiel in die Zeit, wo an den deutschen Hochschulen noch fast unbeschränkt die klassische Doktrin der Nationalökonomie herrschte, durchsäuert freilich von einem guten Stück Merkantilismus in Gestalt der alten Kameralwissenschaft, die den Staaten von jeher Verwaltungsbeamte und vor allem Steuertechniker zu liefern hatte. Das war das geistige Rüstzeug, mit dem ihn die Universität als Schüler entließ, um ihn fast sofort wieder als Lehrer zu sich zu holen. Schon 1858, 23 Jahre alt, wurde Wagner als Professor der Nationalökonomie [S.309] und Finanzwissenschaft an die eben begründete Handelshochschule in Wien berufen, kam dann 1863 nach Hamburg, 1865 nach Dorpat, 1868 nach Freiburg und endlich 1870 nach Berlin, wo er dann über 45 Jahre gearbeitet, gelehrt und durch seine Schüler — fast alle Staatsbeamten, Politiker und Zeitungsmänner waren unmittelbar oder durch Vermittlung seiner selbst auf Lehrstühle gelangten Schüler von ihm erzogen — unendlich in die Breite und Tiefe des Staats- und Reichslebens wirkte.

Ist es nicht, als ob das Schicksal selbst diesen Mann zu seinem Beruf erzogen hat? An einer bayerischen Universität geboren, an einer hannoverischen aufgewachsen und erzogen, lernt er Deutschlands Zersplitterung und Ohnmacht am eigenen Leibe kennen; vom halbenglischen Hannover kommt er zu dem österreichischen Wien, zum halb außerhalb Deutschlands stehenden Hamburg, zu dem russisch gewordenen Dorpat, zum badischen Freiburg und zuletzt zu dem Herzpunkt des werdenden Deutschland, Preußens Hauptstadt, gerade in dem Augenblick, wo der große Krieg von 1870/71 die disjecta membra wieder zu einer machtvollen Einheit zusammenschließen will.

War es ein Wunder, wenn dieser ebenso nüchtern denkende wie temperamentvolle Jungmann, der in Bayern geboren und in Hannover erzogen war, in jener Zeit der Zersplitterung geradeso preußisch fühlte wie der Sachse v. Treitschke? Hier fand er den Willen und die Kraft zur Macht, der allein aus der Zersplitterung und Ohnmacht herausführen konnte. Er erzählte gern davon, und dann schmunzelte er, wie er immer schmunzelte, wenn er von dem sprach, was er stolz seine „Dummheiten" nannte, nämlich seinem unbekümmerten Bekennermut, wie er sich seine Stellung in Wien durch seine Preußenliebe erschwerte und seine Laufbahn in Gefahr brachte. Dieser Liebe ist er zeitlebens treu geblieben, der Liebe zu Altpreußen. Er war ein unbeugsamer Evangelischer und ein großer Freund des Großgrundeigentums in seinem preußischen Verstande, ein streitbarer Alt-Konservativer.

Wir müssen, das ist die erste Regel aller Dogmengeschichte und Dogmenkritik, bei jedem Autor und jeder Theorie eine doppelte Untersuchung anstellen, um zum vollen Verständnis zu gelangen: eine psychologische und eine logische. Die psychologische Untersuchung hat uns zu sagen, zu welcher gesellschaftlichen Gruppe der Mann gehörte, und in welcher Lagerung zu ihrer Umwelt diese [S.310] Gruppe sich zur Zeit seiner Wirksamkeit befand. Das gibt uns den Standpunkt, von dem aus er die Welt anschaute, gibt uns den Schlüssel für das, was er erstrebte und verwarf, was er mit seiner wissenschaftlichen Arbeit widerlegen und beweisen wollte, oder besser: wollen mußte, kraft jenes sozialpsychologischen Determinismus, der das Gruppenglied mit den Vorstellungen und Wertungen seiner Gruppe erfüllt, so daß seine Spontanität mit ihren Lebensnotwendigkeiten übereinstimmt. Dann folgt die logische Untersuchung der Beweissätze, die nun durch die Erkenntnis unendlich erleichtert ist, worauf es dem Autor ankam.

Die psychologische Stellung Wagners haben wir soeben aufgedeckt. Er war altkonservativ, evangelisch, preußisch. Darum war er als Politiker kleindeutsch, ward er als Ökonomist sehr bald konservativer Sozialist oder besser Sozialkonservativer. Das war damals noch leichter, als es heute vielleicht ist. Denn damals war der Konservative noch ein Ideologe, ein aufrichtiger Legitimist mit einem starken Einschlag von jenem kanonischen Geist des christlichen Mittelalters, der den Reichtum als Amt auffaßt und allem krassen Ge-nüßlerleben feindlich entgegensteht; damals war der Geist der „agrarischen Kommerzienräte", wie Wichard von Moellendorff sagt, noch nicht stark in der Klasse und Partei; diesen unerfreulichen Wandel hat erst die lange Aera der Zollpolitik und des Liebesgabenschachers über sie und uns gebracht: und so war es denn unausbleiblich, daß Wagner in seinen alten Tagen, in der Frage der Erbschaftssteuer, den Geist des Mammonismus in seiner agrarischen Maske zu bekämpfen hatte, der in seiner industriell-kommerziellen Tracht sein Leben lang sein gehaßtester Gegner war. Diese Erfahrungen waren wohl auch einer der Hauptgründe, warum er in seinen letzten Jahren immer mehr von dem Antisemitismus seiner reifen Manneszeit abkam: er mußte wohl einsehen, daß der Kapitalismus nicht so eng mit der Rasse zusammenhing, wie er ursprünglich angenommen hatte: und ferner sagte er gern, daß er gerade in seinen jüdischen Schülern die Treuesten der Treuen gefunden hätte.

Von dieser seiner Stellung zur Welt aus verstehen wir auch seine ökonomische Auffassung leicht. Er mußte gruppenmäßig-instinktiv ein Gegner sein erstens der kosmopolitisch-freihändlerisch-kapitalistischen Theoretik, in die die klassische Doktrin unter den Epigonen von Ricardo und Say entartet war, und zweitens des aufkommenden demokratischen Sozialismus, wie ihn in seiner Jugendzeit ein Blanc, [S.311] ein Proudhon, etwas später Marx und Lassalle vortrugen. Und so mußte er der Schüler und Fortbilder der Männer werden, die in der Linie jener kanonischen Überlieferung fortarbeiten, die in ihrer Auffassung des Reichtums als eines von Gott verliehenen Amtes gegen allen Mammonismus die Gewalt des christlichen Staates in die Schranken riefen, um, ein Ausdruck Boisguilleberts, das verbrecherische Geld mit der Spitze des Degens von Ausschreitungen zurückzuhalten. Diese Männer, in denen die besten Traditionen des sozialen Christentums, in denen noch die Erinnerung an den legendären Urkommunismus der ersten apostolischen Gemeinden, die dulcissima rerum possessio, lebendig war, nannten sich zum Teil christliche Sozialisten; ein Buchez in Frankreich, ein Morris und Vansittard Neales in England; und ein Funken davon glühte auch in Adolf Stöcker, als er seine christlich-soziale Partei gründete, der sich Wagner, ganz in der Richtung seines Strebens, sofort anschloß und deren zweiter Präsident er lange war. Aber leider war jenes soziale Christentum zu sehr von dieser Welt, um seine Reinheit bewahren zu können; die Gründung war allzu offenkundig von dem rein politischen Machtgedanken beherrscht, der aufkommenden Sozialdemokratie die Wählermassen abzutreiben, und an dieser Aufgabe mußte sie immer mehr vergröbern und entarten. Adolf Wagners Kämpferund Raufernatur, auf die er mit starker Selbstironie sehr stolz war, fand eine Zeitlang im scharfen Gefecht ihre Genugtuung; aber dann sank ihm doch wohl das Kulturniveau allzu tief; ekelte ihn wohl der Mammonismus mit umgekehrtem Vorzeichen, der rein materialistische Neid, der sich immer breiter machte, allzu sehr, und 1896 trat er aus seiner Stellung zurück. Er war zu klar und zu groß, um sich auf die Dauer einer Klassenbewegung, einem Schichtenegoismus zu verschreiben; er wollte und konnte immer nur einem Prinzip dienen und konnte keine parteipolitischen Scheuklappen ertragen.

Viel stärker und auf die Dauer als dieser praktische Sozialkonservatismus hat ihn der theoretische gefesselt. Hier waren seine Meister zwei Männer, die, ohne sich christliche Sozialisten zu nennen, es doch im tiefsten Grunde waren, aber Sozialisten platonischer Erziehung und Kultur, Karl Rodbertus von Jagetzow, der „Ricardo des Sozialismus", wie er ihn nannte, und sein Meister, der edle Genfer Simonde de Sismondi. Dazu kam dann später, als Deutschland vom Getreide-Ausfuhrland zum Einfuhrland wurde, und damit das Interesse der Gruppe, zu der Wagner gehörte, umschlug vom [S.312] freihändlerischen zum schutzzöllnerischen Bekenntnis — dazu kam dann der große deutsche Merkantilist Friedrich List. Ihn empfahl nicht nur sein Protektionismus, dessen sich freilich die Agrarkonser-vativen per nefas bemächtigten (denn List war allzeit ein entschlossener Gegner aller Agrarzölle), sondern auch sein ehrlicher Haß gegen die kapitalistische Doktrin und sein klares Bekenntnis zur nationalen, anstatt zur kosmopolitischen, und das hieß damals: britisch beherrschten Ökonomie. Hier mußte der kleindeutsche Realpolitiker Wagner viele verwandte Züge finden: auch ihm galt, und darin durfte die Zukunft ihm Recht geben, die geeinte Nation als ein allezeit unentbehrlicher Träger volkswirtschaftlicher Funktionen: wir begreifen heute die Nationen nicht als Übergangsformen, die einmal zu einer ununterscheidbaren Einheit zusammenfließen werden, sondern als die gewachsenen Felspfeiler der Weltwirtschaft, die kommen wird und muß.

Der historischen Schule gegenüber befand sich Wagner in einer überaus merkwürdigen, zwiespältigen Lage. Sie war ihm in ihren praktischen Zielen, in ihrem Antikapitalismus und agrarischen Konservatismus durchaus kongenial, und er wirkte auch praktisch-politisch im Verein für Sozialpolitik lange mit ihr zusammen, aber er konnte ihre Stellung zur Theorie nicht teilen. Er erkannte mit seinem an den Briten und Rodbertus streng geschulten Geiste erstens, daß Wirtschaftsgeschichte keine Ökonomik ist, und zweitens, daß diese Verächter aller Theoretik doch heimlich Wein tranken, während sie öffentlich Wasser predigten, d. h. daß auch sie ohne Theorie nicht auskamen. Nur hatten sie kein System, sondern nur einzelne Lehrsätze, wie z. B. das Malthussche Bevölkerungsgesetz, auf die sie sich naiv stützten, als wenn ein aus dem System gerissener Satz irgendetwas bedeuten könnte.

Das konnte der Rodbertus-Schüler, der auch Marx und später Menger zu würdigen wußte, nicht mitmachen. Er sagte gern von sich mit jener schalkhaften Selbstverspottung, die fast der höchste Reiz seiner Unterhaltung war: „Ich bin Antisemit und habe einen jüdischen Kopf". Er blieb, wie allem, was er einst verehrt hatte, so auch der Theorie treu, die er vielfach bereicherte und in unausgesetzter Bemühung so auszubauen bestrebt war, daß sie den Anforderungen der neuen Zeit entsprach, daß sie den Erscheinungen der neuen Zeit gerecht werden konnte. Hier war ich vielfach sein Gegner und ich darf sagen: „Wir fochten ehrlich". Niemals hat er mir [S.313] zugeben wollen, daß sein „Malthusianismus" mit der Lehre des britischen Pfarrers nur den Namen gemein hatte, niemals hat er meine Einwände gegen das Großgrundeigentum anerkannt. Und als ich mit ihm über den Grundgedanken meiner Habilitationsschrift sprach, und von Ricardos Theorie sagte, sie sei m. E. nicht zu halten, sprang er in komischem Entsetzen auf, schlug die Hände über dem Kopf zusammen und schrie: „Die auch noch! Die auch noch! Was bleibt denn dann noch stehen?" Aber all das konnte unserem guten Verhältnis keinen Abbruch tun: er wußte sachlichen Widerspruch wundervoll zu ertragen, der Mann seiner Sache, der er war, und er unterhielt sich wohl lieber mit einem theoretischen Kopf, wenn auch anderer Auffassung, als mit einem bloßen Empiriker, mit dem er ja doch nicht streiten konnte, weil er auf einer ganz anderen Ebene wohnte als er selbst.

So war es viele Jahre lang einsam um ihn. Eine Schule zu machen, hatte er, der so viele Schüler mit seinem Geiste erfüllt hatte, nicht verstanden. Er war nicht der Mann der Protektion, weder aktiv, noch passiv. Und so sah er seine Methode und Wissenschaft langsam in Deutschland aussterben. Dietzel in Bonn, allenfalls Diehl in Freiburg nannte er, wenn er von Theoretikern sprach; die Wiener Schule war ihm zu sehr psychologisch, zu wenig ökonomistisch, so hoch er auch die theoretische Begabung eines Menger, eines Böhm-Bawerk anerkannte. Aber er hielt aus und harrte seiner Zeit. Und er hat sie noch erlebt! Der Pendel schlug wieder nach der anderen Seite, die Historik wurde dahin verwiesen, wohin sie gehört, in die Wirtschaftsgeschichte, und eine neue Renaissance der Theorie erblühte in Deutschland, die verehrungsvoll an Wagner anknüpfte. Einige seiner Formeln sind heute jedermanns Besitz; seine Scheidung zwischen volkswirtschaftlichem und privatwirtschaftlichem Kapital, zuerst von Rodbertus angedeutet, wird bleiben, ebenso seine prachtvolle Definition der freien Konkurrenz, die dort besteht, wo jeder, der es will, sich an einer Produktion beteiligen kann und darf. Und wo er nicht unbedingt Zustimmung gefunden hat, hat er doch unendliche Anregung gegeben. Aus seiner „Grundlegung" wird sich noch auf lange Zeit hinaus jeder junge wissenschaftliche Nationalökonom die Waffen holen, er wird selbst dort, wo er widersprechen muß, sich im Kampfe der Meinungen befestigen, und er wird das Buch niemals aus der Hand legen ohne die tiefste Ehrfurcht vor diesem umfassenden und gerechten Geiste, der dankbar jede Anregung [S.314] aufnahm, jedes Verdienst anerkannte und sich in hingebender Aufrichtigkeit und Sachlichkeit mühte, aus jedem Meer von Irrtum auch die kleinste Teilwahrheit herauszufischen und zu erhalten.

Aus diesem breit und tief gelegten Fundament einer juristisch, politisch und philosophisch verankerten Theorie wuchs ihm sein Hauptwerk, seine Finanzwissenschaft, der seine erste Liebe gehört hatte. Die Doktordissertation des Zweiundzwanzigjährigen hatte sich bereits mit Bankdingen befaßt und war in ein 1857 erschienenes erstes größeres Buch übergegangen. Von da an bis ins hohe Greisenalter hat er rastlos auf diesem Felde geschaffen, und es war sein letzter großer Schmerz, daß ihn der Zustand seiner Augen und seiner Gesundheit überhaupt verhinderte, sein Lebenswerk ganz zu Ende zu führen. Immer wieder setzte er an: ein für seine Familie und seine Freunde ebenso erschütternder wie erhebender Anblick. Und „starb in den Sielen".

Was Wagner als Finanzwissenschaftler war, darüber gibt es keinen Streit. Er war einzig! Nicht nur an Kenntnissen, sondern auch in der Weise, wie er den Stoff durchdrang und formte. Seine hinreißende Persönlichkeit leuchtete nirgends so kraftvoll durch, als in diesen Vorlesungen, in denen er für seine große Lebenssache stritt, den Staat als Steuerfiskus zu ethisieren und zu sozialisieren. Er war kein schlauer und plumper Fiskalist, sondern gerade aus seiner niemals wieder erreichten Sachkenntnis heraus auch hier der Staatssozialist, der die Staatsgewalt überall, und vor allem auf ihrem Gebiete des Steuerwesens, dazu erziehen wollte, die Unbilligkeiten der volkswirtschaftlichen Verteilung wenigstens im gröbsten auszugleichen.

Die mir gesteckte Zeit ist abgelaufen. Ich konnte nicht mehr wollen, als Ihnen ein Momentbild des Mannes und des Gelehrten geben. Erschöpfen könnte ihn nur eine gute, groß angelegte Biographie, die ihn selbst an der Arbeit zeigt, seine allmähliche Entwicklung an seinen Schriften und Reden aufweist. Soweit konnte ich mir die Aufgabe nicht stecken. Ich wollte nur in flüchtigen Zügen die Silhouette dieses kantigen und doch so tiefgütigen Mannes umreißen, der ein begnadetes Leben hindurch als Forscher, Volks- und Staatsmann und vor allem als akademischer Lehrer ehrlich in der Bresche stand und der sicherlich in Fleiß und Sittlichkeit ein Genie war, wenn er auch vielleicht an geistiger Begabung nur als ein großes Talent bezeichnet werden darf. Er war seinen Freunden ein hingebender [S.315] Freund, seiner Familie ein wundervoller, wenn auch zuweilen ein wenig knurriger, aber unendlich liebevoller Vater und Gatte. Wir können an unserem Schmerz ermessen, was seine Nächsten an ihm verloren haben. Sein Andenken bleibt grün unter uns, solange wir selbst atmen.

[S.316] KARL MARX*)

Im Winter-Semester 1912/13 las ich zum ersten Male ein öffentliches Kolleg über Karl Marx' ökonomische Lehren. Als Hörsaal hatte ich das Auditorium maximum belegt — und der riesige Raum war überfüllt; ich hatte die Zugkraft des großen Gegenstandes nicht überschätzt.

Heute, zur hundertjährigen Wiederkehr des Tages, an dem der gewaltige Mann geboren wurde, will ich die bisher ungedruckten einleitenden Worte jener Vorlesung der Öffentlichkeit übergeben. Sie mögen zugleich beweisen, daß ich nicht der berüchtigte „Marxfresser'' bin, als den mich die Parteiapologeten hinzustellen belieben, weil ich auch dieser grandiosen Erscheinung gegenüber die schönste Pflicht des Schülers gegen den Meister geübt habe: die Pflicht der weiterbauenden Kritik.

Folgendermaßen lauteten die Sätze der Einführung:

„Vor langen Jahren führte mich ein in Rom lebender Freund in die Kirche Pietro in Vincoli. Ich schritt durch das dämmerige Hauptschiff — da stockte mein Fuß und mein Atem. Dort saß drohend ein Riese aus weißem Stein, wallenden Bartes, die mächtige Hand um die Lehne des marmornen Stuhles gekrampft, der ganze Leib gespannt in gesammelter Kraft: im nächsten Augenblick wird er aufspringen und den zermalmen, der seinen Götterzorn erregt hat. Michelangelos Moses! Wir standen lange stumm vor dem Genius, den der Genius geschaffen, im tiefsten aufgewühlt, voll zager Bewunderung. Dann flüsterte mein Freund: „Wenn hier einmal Barbaren eindringen, werden sie ganz still und scheu wieder hinausschleichen!"

Mit ähnlichen Empfindungen, mit gleicher Erschütterung im Tiefsten, trete ich jedesmal vor das Bild des Mannes, dem diese Vorlesung gilt, und vor sein Werk. Sie kennen alle sein Bild, das einer mit allem Recht dankbaren Masse von ungezählten Millionen fast zum Heiligenbilde, zum Symbol ihrer tiefsten Sehnsucht, ihrer heiligsten Hoffnung, ihrer überpersönlichen Anspannung auf Mensch-

*) Vossische Zeitung vom 4. Mai 1918. (Abgedruckt aus „Wege zur Gemeinschaft", 1924, mit Zustimmung des Verlages Hueber, München.)

[S.317] heitsziele hin geworden ist. Sie kennen den prachtvollen, wildbärtigen Löwenkopf von Karl Marx, den Kopf eines Propheten und zugleich eines Denkers, glühend von gewaltiger männlicher Kraft, die breite Stirn gewölbt von Weltgedanken. Ein Prophet auch er! Auch er ein Moses, der sein Volk aus der Knechtschaft hinauszuführen gewillt war ins Land, da Milch und Honig fließt, ein vom Götterfunken Erglühter auch er, der seine Kraft, seine Hoffnung, seinen Willen zu ergießen wußte in das Herz und Hirn der Millionen, um sie über sich selbst, über die kleinen Sorgen des Tages zu erheben und ihren Willen zu spannen zu höchsten Zielen, durch eine vierzigjährige Wüstenwanderung hindurch ohne Ermatten.

Das war der Mann! Schon dreißig Jahre deckt ihn die Erde — er starb am 14. März 1883 —, und schon hebt sich klar und klarer sein Charakterbild aus der Geschichte, das, solange er lebte, von der Parteien Haß und Gunst verwirrt war wie wenige. Denn er war ein Brecher und Zerbrecher im Sinne Nietzsches. Er zerschlug alte Werte und setzte neue über die Menschheit. Rücksichtslos, im Dienste der gewaltigen Gedanken, denen er diente, schritt er über alles fort, was ihm im Wege stand, über Rechte und Vorrechte, Urteile und Vorurteile; laut und scharf klang seine Axt durch den Wald der Gesellschaft. Er legte keinen Wert darauf, sanft vorzugehen; er hatte nicht die Zeit dazu, er hatte nicht das Temperament dazu. Wo solche Feuerseelen brennen, da prasselt's im dürren Gehölz rings um sie, und manches verträumte Vogelnest geht mit in Flammen auf. Solche Männer haben wenig Freunde, solange sie leben; als gegen rücksichtslose Störer richtet sich gegen sie die ganze Empörung der Kleinen, die nichts anderes haben als ihre guten Manieren und keine andere Hoffnung auf Geltung als die, gelobt zu werden, weil sie selbst loben, geschont zu werden, weil sie selbst schonen.

So ging es auch Karl Marx. Man könnte von ihm sagen, was Detlev Liliencron in seiner „kleinen Ballade" von sich selbst träumte: „Hoch weht mein Busch, hell klingt mein Schild, im Wolkenbruch der Feindesklingen."

„Ein Wolkenbruch von Feindesklingen". Wahrlich!! Und heute? „Hoch weht sein Busch". Dieser Störer, dieser utopistische Phantast, dieser talmudistische Scholastiker, dieser verlehrte Dialektiker, dieser verhegelte Ricardianer, dieser blutrünstige Umstürzler, — und wie die holdseligen Epitheta noch alle heißen mögen, er hat sich durchgesetzt und „hoch weht sein Busch, hell klingt sein Schild" [S.318] über die Welt, während selbst Fachmänner sich lange besinnen müssen, von wem die Rede ist, wenn die lautesten seiner Gegner von ehemals genannt werden. Wie Schopenhauer, der auch ein Outsider, ein Unzünftiger war, hat auch Marx über die Zunft den Sieg davongetragen; auch sein Werk ist heute der vornehmste Gegenstand geworden fachmännischer Untersuchungen und Vorlesungen. Jeder muß sich mit ihm abfinden, jeder mit ihm auseinandersetzen und keiner ist, in dessen Gedanken bewußt oder unbewußt nicht als mächtigstes Ferment Marxsche Gedanken treiben."

Nicht der Kritik darf und soll der heutige Gedenktag gewidmet sein. Es mag genügen, zu sagen, daß auch dieser Große das Schicksal aller Großen gehabt hat. Jeder steht im Banne seiner Zeit und seiner sozialen Gruppe, die seinem Denken und Handeln unüberschreitbare Grenzen setzt; keiner erreicht die letzte Wahrheit, keinem kann die rückschauende Kritik mehr zubilligen, als daß er eine neue Sprosse in die Leiter eingebaut hat, die zur Höhe führt. Der Meister hat seine Meister gehabt und seine Schüler haben das Werk weiter zu führen, um selber wieder die Meister ihrer sie überwindenden Schüler zu werden.

Das aber mindert dem wahrhaft Verstehenden weder die Bewunderung noch die Dankbarkeit. Und so wollen wir denn heute in Bewunderung und Dankbarkeit die drei gewaltigen Fortschritte bezeichnen, die die Wissenschaft Karl Marx schuldet.

Er hat als erster Aufgabe und Methodik des wissenschaftlichen Sozialismus ein für alle Male festgestellt. Vor ihm war aller Sozialismus „Utopie": man versuchte, „die künftige Ordnung der Gesellschaft aus dem Kopfe zu erfinden". Marx aber „macht den Schritt von der Utopie zur Wissenschaft", indem er jedem kommenden Sozialismus die Aufgabe stellt, „die künftige Ordnung aus den Entwicklungstendenzen der kapitalistischen Gesellschaft selbst mittels des Kopfes zu entdecken". Der Weg zu dieser Lösung führt mithin einzig und allein über das volle theoretische Verständnis der Entstehung und des Wesens der kapitalistischen Verkehrswirtschaft. Ich glaube, und habe ein Menschenleben an den Beweis gewandt, daß der gigantische Versuch der Lösung dieser Aufgabe, den Marx unternommen hat, in mehreren Punkten mißglückt ist: aber das tut seinem Verdienste keinen Abbruch, die Aufgabe zuerst klar gestellt zu haben. Es ist gerade heute nötig, das scharf zu betonen, weil der größte Teil seiner politischen Anhänger wieder flott [S.319] dabei ist, die künftige Ordnung aus dem Kopfe zu erfinden; sie sind wieder „Utopisten" geworden.

Der zweite große Fortschritt, den wir dem Meister danken, ist der Kern seiner „materialistischen Geschichtsauffassung". Nur der Kern, wenn ich richtig sehe. Auch hier gilt es, viel Schlacke von dem reinen Erz zu scheiden: aber auch hier wird der Hauptgedanke bleiben, daß es nicht die Ideen der Menschen sind, die ihr gesellschaftliches Sein bestimmen, sondern daß es umgekehrt das gesellschaftliche Sein ist, das die Ideen bestimmt. Dieser Satz ist während der letzten zwei Dezennien mehr und mehr zum Hauptschlüssel aller soziologischen Erkenntnis überhaupt geworden und wird bleiben, wenn auch die übermäßige Zuspitzung auf das Ökonomisch-Technologische hin aufgegeben werden muß.

Die gewaltigste Leistung aber des Denkers ist der theoretischen Nationalökonomik zugute gekommen. Er hat das Problem des Kapitals grundsätzlich völlig gelöst. Bis auf ihn wurde das Kapital als eine Sache aufgefaßt: von hier aus aber ist die Lösung des Zins-und Profitproblems völlig unmöglich. Marx erkannte als erster, daß es sich nicht um eine Sache, sondern um ein durch Sachen vermitteltes „Verhältnis" zwischen Menschen, um ein gesellschaftliches Verhältnis handle, und hinterließ seinen Nachfolgern nur noch die verhältnismäßig leichte Aufgabe, die Natur dieses Verhältnisses als eines Monopolverhältnisses näher zu bestimmen. Wir können uns heute kaum vorstellen, welche ungeheure, geradezu titanische Kraft der Abstraktion aufgewendet werden mußte, um hinter dieses letzte Geheimnis der Wissenschaft zu kommen, die Betrachtung gänzlich vom Stofflichen zu lösen und das Wirrnis eingewurzelter Irrtümer zu überwinden, die die wirkliche Lösung verhüllten.

In tiefer Ehrfurcht neigen sich heute Millionen Herzen dem großen Toten. Ich möchte mit den Worten schließen, mit denen meine Kritik seiner Gesellschaftslehre endet.*) „Wenn auch gerade diejenigen Ergebnisse seines Lebenswerkes werden fallen müssen, die der kämpfende Volksmann für die entscheidenden hielt, so bleibt es dennoch eine wissenschaftliche Leistung allerersten Ranges, ein Zeughaus des Geistes, aus dem sich noch ganze Geschlechter ihr Rüstzeug holen werden, eine Zyklopenburg, an der nicht nur der

*) Das Grundgesetz der Marxschen Gesellschaftslehre, Darstellung und Kritik. Berlin 1903.

[S.320] objektive Denker, sonder sogar der Klassengegner voll staunender Ehrfurcht emporblickt. Karl Marx wird weiterleben als ein Beobachter von fast beispielloser Schärfe des Blicks für das wirtschaftliche Leben seiner Zeit, als ein ökonomischer Denker, der kühne und schöpferische Genialität in der Erfassung der theoretischen Zusammenhänge verband mit der Kraft subtilster, eindringlichster Kritik seiner Vorgänger; — als ein Historiker sondergleichen von wahrhaft prophetischer Kraft in der Intuition des geschichtlichen Entwicklungsganges; — als ein Philosoph, dessen Denken ebenso breit spannte wie tief bohrte; — als ein Wecker der Gewissen voll Kraft, Feuer und tiefster Sittlichkeit. Wie ihn heute die Arbeiterklasse verehrt, so wird ihn dereinst die Menschheit verehren als einen der großen Förderer des Glücks und der Freiheit, als einen ihrer großen Denker."

[S.321] Besprechung von Walter Lippmann:

„UNITED STATES FOREIGN POLICY: SHIELD OF THE REPUBLIC"*)

Der sensationelle Erfolg von Lippmanns Buch ist wohl verdient. Es stellt die Außenpolitik der Vereinigten Staaten von der Zeit ihrer Ursprünge an ganz meisterhaft dar — vom Blickpunkt der „Staatsraison" und einer traditionellen Machtpolitik her gesehen. Vor allem prüft es die Frage, wie weit die USA zur Erfüllung ihrer jeweiligen außenpolitischen Verpflichtungen auf eine entsprechend starke Macht zählen konnten. Für die Zeit bis 1899 ist die Antwort positiv. Bei jedem Konflikt mit einer atlantischen Macht um die Wahrung der Monroe-Doktrin konnten die Vereinigten Staaten auf die durch vitale Eigeninteressen bestimmte unbedingte Unterstützung eines Großbritannien rechnen, dessen Seeherrschaft noch nicht umstritten war. Konflikte mit einer pazifischen Macht waren noch nicht zu befürchten, da Japan sich nur sehr langsam entwickelte, und da Rußland seinem Wesen nach ein Landstaat und freundlich eingestellt war.

Um die Wende des 19. Jahrhunderts trat eine völlig neue Situation ein. Deutschland begann, die britische Seeherrschaft in Frage zu stellen, und zugleich hatte die Annektion der Philippinen den USA eine eine neue schwere Verpflichtung auferlegt. Von jener Zeit an begann die Außenpolitik der Nation „insolvent" zu werden. Um das verlorene Gleichgewicht zwischen den übernommenen Verpflichtungen und der Macht, sie zu erfüllen, wieder herzustellen, hätte sie ihre Land- und Seestreitkräfte vervielfachen müssen. Und da sie es nicht fertigbrachte, diesen notwendigen Schluß zu ziehen, konnte der erste Weltkrieg nicht vermieden werden.

Selbst damals wurde der Nation nicht erklärt, daß sie durch die Bedrohung höchst vitaler eigener Interessen zum Kampf genötigt worden war! So wurde nach einem gewonnenen Kriege der Friede dennoch verloren. Isolationismus und Pazifismus nahmen überhand. Und während die Gefährdung der Nation ständig zunahm, nahm

*) In „The American Journal of Economics and Sociology", Januar 1944 (drei Monate nach Franz Oppenheimers Tod).

[S.322] ihre Macht ständig ab. Und darum wurde ein zweiter Weltkrieg unvermeidlich.

Alles das — wir wiederholen es — ist absolut meisterhaft. Und ebenso meisterhaft — vom Blickpunkt der heutigen Machtpolitik — ist auch der Vorschlag für den kommenden Frieden: ein „Kern-Bündnis" zwischen den Vereinigten Staaten, Britannien und Rußland, dem sich Frankreich und die west- und nordeuropäischen Staaten anschließen könnten; Entwaffnung Deutschlands und Japans, und Neutralisierung Polens und der Donau- und Balkanstaaten. Dies würde den Frieden für einen genügend langen Zeitraum sichern, um die Wunden dieses schrecklichen Krieges heilen zu können.

Dennoch denkt Lippmann zu klar und kennt die Geschichte zu gut, um nicht zu sehen, welche Gefahren uns drohen werden, wenn sich Rußland nicht mit der Sicherheit innerhalb seiner Grenzen begnügen, und wenn China zu einer vereinten, hochindustrialisierten und darum machtvoll militarisierten Nation heranwachsen und schließlich ein neuer und noch gefährlicherer Mitbewerber um die Weltherrschaft werden sollte.

Hiermit haben wir die verborgenen Mängel dieser glänzenden Schrift bloßgelegt. Sie enthält nicht den geringsten Hinweis auf das bedeutsamste unter den Problemen, die die amerikanische Außenpolitik zu lösen haben wird: unsere Demokratie so attraktiv zu gestalten, daß Rußland und China sich genötigt oder wenigstens veranlaßt sehen werden, sie nachzuahmen.

Unserem bisherigen System hat es gewiß an solcher Anziehungskraft gefehlt: Wir müssen uns ein für alle Male klarmachen, daß es als eine nur politische Demokratie eine unvollkommene Demokratie ist! Um die Gefahr des Kommunismus und eines sich neu erhebenden Faschismus endgültig aus dem Wege zu räumen, muß diese Demokratie in eine auch ökonomisch fundierte vollkommene Demokratie verwandelt werden, in der es tatsächlich eine Gleichheit der Chancen für alle gibt. In einem Staat, in dem mehr als die Hälfte des Bodens von weniger als einhalb Prozent der Familien angeeignet worden ist, kann von einer solchen Gleichheit keine Rede sein!

Hier liegt eine der wichtigsten Ursachen der Übel, von denen unsere Demokratie heimgesucht wird. Die anständigen Vertreter totalitären Denkens sind überzeugt, daß diese Demokratie bereits abgeschlossen, endgültig und nicht mehr verbesserungsfähig sei: sie [S.323] werde auch weiter zur Massenabwanderung ländlicher Bevölkerungen in die Städte, zu niedrigen Löhnen und zu einem Mißverhältnis zwischen Produktions- und Kaufkraft führen. Und darum sei sie außerstande, ein gutes ökonomisches — und auf weitere Sicht auch politisches Funktionieren der Gesellschaft zu sichern.

So wie die Wohltätigkeit, muß auch die Außenpolitik daheim beginnen! Für den Augenblick begünstigt uns die Tatsache, daß sich der Faschismus namentlich in seiner nazistischen Form als abstoßend erwiesen hat. Heute sieht die Welt noch ein — aber kaum noch für lange —, daß unsere Demokratie gewiß bei weitem das kleinere Übel ist. Dennoch werden wir den Kampf um den Frieden erst gewonnen haben, wenn wir unsere Demokratie so reformieren, daß sie der Welt überhaupt nicht mehr als Übel erscheinen kann.