25/2005
Ein Kampf von sechs Monaten
Susanne Simon besucht Frau Lenart, 87
Frau Lenart, 1917 geboren, ist die Tochter des Nationalökonomen und Soziologen Franz Oppenheimer. Sie emigrierte nach Kalifornien. 1964 lud der ehemalige Bundeskanzler Erhard sie zum hundertsten Geburtstag ihres Vaters nach Berlin ein. Das wurde ihre Rückkehr nach Deutschland.
Frau Lenart und ich treffen uns in ihrer Berliner Wohnung. Ich überreiche ihr eine Sonnenblume im Topf. "Oh, das ist aber schön!" Sie prüft die Erde. "Die braucht Wasser." Frau Lenart geht mit der Pflanze im Arm durch den geräumigen, halbdunklen Flur ins Berliner Zimmer und von dort in die Küche. Fotos hängen an den Wänden, um den großen Tisch stehen mehrere Stühle. Die Wohnung wirkt, als wäre gerade ein Dazugehöriger für immer gegangen. Sie schreitet mit der lässigen Eleganz einer Grande Dame, die es gewohnt war, viele Gäste zu empfangen. Dabei wirkt sie zart und zerbrechlich in dem schwarzen Männer-T-Shirt, das um ihren Körper zu einem Hauskleid wird. Groß ist darauf der König der Löwen abgebildet. Den Film hat ihr Sohn in München synchronisiert, erzählt sie mit amerikanischem Akzent, während sie die Pflanze wässert und Tee kocht. "Mein Sohn kümmert sich rührend um mich. Vor einem Jahr sind mein Mann und kurz danach meine Tochter gestorben, ich habe eine schwere Zeit. Jetzt lebe ich hier mit meinem Enkel."
Sie bittet mich in ihr Schlafzimmer, um liegen zu können, weil sie Schmerzen hat. "Das ist mein neuer Begleiter. Ich habe ihn Puff, the dark smoke cloud getauft. Sieht er nicht so aus? Wie ein dunkles Rauchwölkchen?" Frau Lenart strahlt. Der Kater liegt träge auf einer ausgebreiteten Herald Tribune auf dem Bett und schnurrt unter unseren Händen. Ich ziehe mir einen Stuhl ans Bett und setze mich so, dass wir uns gut sehen können.
Im Lexikon habe ich gelesen: Ende 1938 wurde Franz Oppenheimer und seiner Tochter die Ausreise bewilligt. Ich frage sie, was sich hinter diesen knappen Information verbirgt.
Frau Lenart lässt ihren Kopf ins Kissen sinken. "Im Frühling 1938 hatten sie meinem Vater wie so vielen anderen Juden den Pass entzogen. Wir beschlossen auszuwandern. Er beantragte drei Mal einen Ausreisepass und jedes Mal kam die Antwort: abgelehnt. Den letzten Bescheid kriegten wir zwei Wochen nach der Reichskristallnacht am 9. November und wir wussten, es würde schrecklich werden. Die Billets für das Schiff nach Marseilles hatten wir schon gebucht, es sollte am 10. Dezember losgehen. Mein Vater war sehr krank, die Ärzte gaben ihm noch wenige Wochen zu leben. Mir war klar, die Nazis wollten ihn deshalb so lange hier behalten, weil sie davon ausgingen, dass er in den USA schlecht von ihnen sprechen würde. Womit sie ja recht hatten. Da wurde ich so wütend, dass ich beschloss, zum Berliner Hauptquartier zu gehen. Dort traf ich auf einen sehr netten jungen Mann und ich gefiel ihm wohl. Ich war ja damals sehr jung und sehr blond und ich hatte meine Zöpfe um den Kopf gewickelt. Ich sah aus wie eine aus der Hitlerjugend."
Frau Lenart lacht und weist mich auf ein Foto hin, das im Bücherregal steht. "Mein Mann mochte das Bild nicht. Zu stolz, meinte er. Ich mag es."
"Der junge Mann also sagte: 'Bringen Sie Ihren alten Herrn nach Kalifornien und dann kommen Sie zurück. Sie können als Halbjüdin jeden heiraten und jede Stelle annehmen. Ihr Pass ist einwandfrei arisch, zeigen Sie den einfach und lassen Sie sich nicht bluffen.' 'Was ist jetzt mit dem Pass für meinen Vater', fragte ich. 'Da kann ich nichts machen, die Pässe werden in der Prinz Albrechtstraße bearbeitet.' Das war die Gestapo." Frau Lenart schließt die Augen.
"Ich nahm ein Taxi und fuhr zur Gestapo. Dem Pförtner zeigte ich meinen Pass und der schickte mich zum Zimmer 312. Dort trug ich ein paar grimmigen älteren Herren mit dicken Bäuchen mein Problem vor. Einer brachte mir eine dicke Akte, auf der Franz Oppenheimer stand und sagte: 'Hier! Gucken Sie nach, ob Sie was finden.' Man ließ mich in einem Zimmer mit einem langen Konferenztisch allein. Dort schlug ich den Ordner mit einer Unmenge an Papieren auf.
In der Akte waren drei verschiedene Franz Oppenheimer vermischt, ich klaubte das alles auseinander. So eine Unordnung, dachte ich, und das in der tüchtigen Gestapo! Neu sortiert gab ich dem Herrn die Akte zurück und fragte, ob ich jetzt den Pass haben könne. 'Nein, kommen Sie morgen wieder', hieß es. Am nächsten Morgen, es war ein Freitag, ließ mich der Pförtner nicht ein. Das war das Ende. Verzweifelt rannte ich zu einer Telefonzelle am Potsdamer Platz. Zitternd ließ ich mich mit der Zimmernummer 312 verbinden. Eine nette Stimme fragte mich, was ich bräuchte und ich betete noch einmal die ganze Litanei bis zum jetzigen Stand herunter.
'Das Beste ist, Sie kommen gleich herüber und wir bringen das in Ordnung', sagte die Stimme. 'Aber die lassen mich nicht herein', rief ich. 'Deshalb habe ich doch 312 angerufen!' 'Sie sind nicht bei 312 gelandet. Hier spricht der Adjutant von Himmler.' Mir wurde schlecht. 'Also kommen Sie, damit wir das in Ordnung bringen!' Ich rannte zurück in die Prinz Albrechtstraße, das war ja nur ein paar Häuser weiter und wartete an der Pforte. Ein gutaussehender junger Mann kam die Treppe herunter. 'Fräulein Oppenheimer? Zimmer 20.' Schweigend gingen wir am Pförtner vorbei, den langen Gang entlang bis Zimmer 20. Dort diktierte er einem schlecht gelaunten, blonden Herrn einen Brief. Ich sollte am Montag wieder anrufen. Der Adjutant begleitete mich hinaus und ich dankte ihm. Er hat mir seinen Namen nicht gesagt und ich wagte nicht zu fragen. Erst viele Jahre später ergab sich ein vager Zusammenhang.
Ich ging mit sehr wenig Hoffnung nach Hause, denn es war ja wieder einer von vielen Anträgen. Ich hatte Geburtstag und es wurde ein sehr deprimierendes Wochenende. Montagfrüh rief ich an. Der blonde Mann sagte: 'Ja, der Pass liegt bei Abteilung 2.' Ich war so perplex, ich stotterte nur, 'Wirklich?'"
Frau Lenart wird laut und imitiert die ungeduldig knatternde Stimme eines Beamten: "'Wieso, wollen Sie es schriftlich?' Beng! Er haute den Telefonhörer auf die Gabel. Und ich steckte meinen Vater in ein Taxi und wir fuhren zur Abteilung 2.
Die Halle war voller verzweifelter Juden, wir wurden glatt durchgeführt zum Desk, und mein Vater hatte seinen Pass in der Hand, er brauchte bloß zu unterschreiben. Dann fuhren wir nach Hause, und ich weiß noch, wie wir an den Landwehrkanal kamen, da erwischte uns um ein Haar ein Laster, der aus einer Seitenstraße einbog. Wir schauten uns an und sagten gleichzeitig, als hätten wir es geübt: 'Na, nun wäre es doch eigentlich schade gewesen!'" Frau Lenart lacht übermütig.
"Zwei Tage später sind wir abgereist. Auf einmal fiel meinem Vater das Gehen leichter, allein auf dem Schiff nahm er 30 Pfund zu, er hatte wieder Hoffnung. Mein Gott, das war eine Schlacht von sechs Monaten gewesen! Und mein Vater hatte lange gebraucht, um anzuerkennen, wie schlimm es um Deutschland stand.
Jahre später sah ich im Fotoalbum meiner Tante eine junge Frau mit Kind. Auf meine Frage, wer das sei erfuhr ich folgende Geschichte: Der Schwager meines Vaters war Professor für Ägyptologie und Dekan an der Universität in Leipzig gewesen. Er hatte einen Assistenten, den er sehr schätzte, einen hochbegabten Ägyptologen. Eines Tages stand der in Uniform vor ihm. 'Sind Sie jetzt wahnsinnig geworden', fragte mein Onkel ihn. 'Nein, die Partei braucht jeden anständigen Mann, den sie kriegen kann. Ich werde sehr viel Gutes tun.' Er wurde Adjutant von Himmler. Und dann, als er begriff was von ihm erwartet wurde, hat er sich am Fensterkreuz erhängt."
(c) ZEIT online, 21.6.2005
32/2005
Blausäure im Mittelmeer
Susanne Simon besucht zum zweiten Mal Frau Lenart, 87
Frau Lenart, 87, gelang es im Dezember 1938 ihrem Vater, dem Nationalökonom und Soziologen Franz Oppenheimer einen Pass zu verschaffen, mit dem er Deutschland verlassen konnte (ZEIT online vom 21.6.2005). In einem weiteren Gespräch erzählt sie, wie sie selbst Nazi-Deutschland den Rücken kehrte
"Unvergesslich das Gefühl, als ich Deutschland verließ. Mein Gott! Ich weiß noch wie ich über die Grenze fuhr. Wie sie meinen 'arischen' Pass begutachtet und mir zurückgegeben haben. Wie schön das war. Am nächsten Morgen wachte ich auf in meinem Schlafwagenabteil um 7 Uhr, ich zog die Gardinen hoch und guckte raus. Es war noch stockdunkel, Mitte Dezember eben, und ich sah nichts als glänzende Schienen, aber es waren Schweizer Schienen. Das war so unglaublich schön!"
"Mein Vater reiste über Frankreich aus und wir trafen uns an der Riviera. Unser Schiff nach Japan war sabotiert worden, die Maschinerie kaputt. Unsere Billets wurden umgetauscht für ein späteres Schiff, und so hatten wir 14 Tage am Mittelmeer. Es war herrlich."
Frau Lenart schweigt. Hochkonzentriert hat sie mir aus ihrem Leben berichtet, mit dem Wunsch, dass ich genau verstehen solle. Jetzt ist der Schmerz, der sich als heftige Migräne äußerte, laut geworden. Als ich überlege, ob es nicht besser sei, mich zu verabschieden, beginnt Frau Lenart von Neuem mit leiser Stimme zu erzählen.
"Wenn ich all die Leute sehe, die in Konzentrationslagern waren, was die haben aushalten müssen. Ich habe so viel Glück in meinem Leben gehabt, das ist unwahrscheinlich."
"Die Kristallnacht habe ich noch am Ku'damm erlebt", fährt sie nach einer eindringlichen Pause fort. "Ich war im Kino, um mir einen amerikanischen Film anzusehen, im Marmorhaus. Das gab es damals noch, direkt an der Gedächtniskirche. Danach stieg ich in eine Straßenbahn, die fuhr zu der Zeit mitten auf dem Ku'damm bis zur Uhlandstraße. Als ich in der Straßenbahn saß, fiel mir auf, dass der Ku'damm voller Menschen war. Auf einmal stoppte die Straßenbahn vor uns ganz abrupt und blieb stehen. Wir konnten auch nicht weiter, nichts rührte sich mehr. Und dann kamen die Lastwagen. Mit der SA. Die hatten zivile Mäntel um, weil sie einen Mopp darstellen sollten. Aber ich erkannte sofort die Hosen und die Stiefel. Sie begannen mit Eisenstangen die Fenster einzuschlagen. Wie heute auch, gab es Glaskästen vor den Läden, große Auslagen. Die zerschlugen sie. Unsere Straßenbahn saß fest direkt vor einem Juwelierladen. Ich sah einen fetten SA-Mann, der das Glas der Schmuckvitrine zerstörte und um ihn herum standen eine ganze Menge Leute. Kein Mopp. Standen da und sahen dämlich aus. Sahen aus, als wäre ihnen die ganze Sache verflucht peinlich. Es hat sich kein Mensch gerührt, um zu plündern. Der SA-Mann griff in die Vitrine und nahm eine kleine Damenuhr heraus. Ich konnte ihn nicht hören, es war ja die Glasscheibe der Bahn dazwischen, aber er sagte offenbar, sie sollen sich bedienen, sie sollen nehmen. Keiner rührte sich. Standen ganz still. Da griff er nach einem Mädchen von cirka zwölf Jahren, zog sie aus der Menge, drückte ihr die Uhr in die Hand und schloss ihre Finger darum und stupste sie zurück. Die Kleine verkroch sich und kurz darauf fuhr die Straßenbahn weiter. Aber von wegen Plündern, kein Mensch hat sich gerührt. Es war alles der da. Mein Gott, der hat den Leuten zugeredet wie einem kranken Schimmel!"
"Als ich zu Hause am Hohenzollernplatz ankam, da waren auch schon die. Die Fensterscheiben der Apotheke waren zerschlagen. Das war am 9. November, ein schlimmes Datum, eine sehr schlimme Zeit."
"Mein Vater war zu Hause und hatte nichts gemerkt. Ich habe ihm erzählt. Am Tag drauf tranken wir Kaffee mit meinem Bruder, dem Sohn meines Vaters aus erster Ehe. Da kam die Gestapo in unsere Wohnung und verhaftete ihn. Für acht Tage. Erst haben sie alle Juden unter 70 arretiert. Dann haben sie die meisten zunächst wieder laufen lassen, bevor die Deportationen los gingen. Mein Bruder war mit einem arischen Mädchen verheiratet. Er konnte dann ohne Schwierigkeiten ausreisen."
"Viele haben Deutschland schon vor Beginn des Krieges verlassen. Mein künftiger Mann, den ich bis dahin nur auf der Bühne gesehen hatte, ging mit seinen Eltern kurz nach der Olympiade in die USA. Er hatte schon begriffen, dass er raus muss. Er war in Zentralamerika geboren, so war es nicht so kompliziert. Am letzten Tag der Olympiade war ich in Berlin. Die Kästen mit Drucken vom Stürmer hatten sie alle abgedeckt oder entfernt. Die Ausländer sollten nichts merken. Nachher habe ich dann den Film von der Riefenstahl gesehen - der war ausgezeichnet. Sie war eine große Künstlerin." Frau Lenart hält einen Moment inne und lacht. "Sie hat sich mit den falschen Leuten ins Bett gelegt."
"Dann kam für diejenigen, die sich im Ausland sicher fühlten, das schlimme Erwachen."
"Sie haben ja so furchtbar in Polen gewütet, und die meisten Juden saßen im Osten fest. Haben nicht darauf gerechnet. Mein Onkel, Karl Oppenheimer, war in Holland. Er hat Selbstmord begangen, als Deutschland in Holland einfiel. Er dachte, er sei sicher in Holland. Er hatte Krebs. Es war zu leicht für ihn, er war Chemiker."
"Mein Vater hatte auch die Blausäure in der Tasche. Seit Mitte der Dreißiger Jahre. Er wollte bloß sicher sein. Wenn sie ihn abgeholt hätten, hätte er sie geschluckt. Später hat er mir erzählt, dass er die Blausäure ins Mittelmeer an der Riviera geworfen hatte."
Ich teile Frau Lenart mein Bedenken mit, ob das Erzählen nicht zu aufwühlend sei. "Nein gar nicht. Aber wie gesagt, so viel Glück kann nicht gut enden."
"Ich habe in meinem ganzen Leben nichts Schlimmes erlebt, bis letztes Jahr mein Mann und meine Tochter starben. Da konnte ich sehen, wie behütet mein Leben war. Das war mein erster Schreck. An Krebs hat keiner gedacht. Die Migräne liegt ja in der Familie. Da hatte sie mit gerechnet. Meine Tochter dachte, es ist bloß die Migräne. Shoshana. Meine Schwiegermutter hieß Rose. Im Hebräischen heißt Rose Shoshana."
(c) ZEIT online, 9.8.2005
04/2006
Der gute arische Pass
Frau Lenart wurde am 3.12.1917 als Tochter des Nationalökonomen und Soziologen Franz Oppenheimer geboren. 1938 beschaffte sie ihrem Vater im letzten Moment ein Ausreisevisum. Sie reisten nach Japan, wo Herr Oppenheimer einen Vertrag mit der Keio-Universität in Tokio hatte. Doch wider Erwarten war der Kampf um ein Visum noch nicht beendet. Frau Lenart lebt in ihrer Berliner Wohnung, sie wird jedoch bald zu ihrem Sohn nach München ziehen
"Angekommen in der Hafenstadt Yokohama standen mein Vater und ich in einer Traube von Journalisten und gaben Interviews. Das Erstaunen war groß: Als damals 21-Jährige sprach ich bereits etwas japanisch. Jetzt hätte alles gut sein können. Doch während unserer Schiffsreise war das deutsch-japanische Kulturabkommen geschlossen worden. Juden durften nun auch in Japan keine Vorträge mehr halten, die Keio-Universität trat bedauernd von ihrem Vertrag zurück. Wir wendeten uns gleich an den amerikanischen Konsul. Herr Oppenheimer könne als prominenter Professor jederzeit in die USA einreisen, erklärte er uns, aber ich, seine Tochter, müsse über die deutsche Quote hinein. Das könne Jahre dauern. Also schlug er vor, ein Einwanderervisum für beide zu beantragen, weil er davon ausging, dass mein Vater nicht ohne mich reisen wolle."
Frau Lenart grinst. "Er kannte meinen Vater nicht. Aber zunächst beantragten wir die Visa und es vergingen einige Wochen." Frau Lenart schweigt, rührt Zucker im Tee, schabt bedächtig Kreise auf den Tassengrund.
"Nach einigen Wochen wurden wir zur Fremdenpolizei zitiert, das war die japanische Gestapo. Der Polizeichef erklärte, das Kulturabkommen verbiete Juden ohne Einwanderervisum für die USA, in Japan zu wohnen. Ich sagte ihm, das sei doch sehr einfach, ich hätte einen arischen Pass, gälte nicht als Jüdin und mein Vater könne jederzeit in die USA. 'Was soll das heißen', erwiderte der Mann. 'Ich habe erfahren, dass Ihr Vater ein Einwanderervisum beantragt hat.' Da packte mich die Wut." Frau Lenart wird laut. "'Wer hat Ihnen dieses Märchen aufgebunden?' Mein Zorn hatte ihn überrascht und er verplapperte sich: 'Das amerikanische Konsulat!' Das hätte er nicht offiziell wissen dürfen. Also setzte ich meinen Vater ins Taxi, wir fuhren zum amerikanischen Konsulat und ich informierte den Konsul.
Das Gesicht des guten Mannes färbte sich erst weiß, dann grün. Er klingelte nach dem obersten Sekretär. Sie sprachen, auch das Gesicht des Sekretärs färbte sich grün. Er war von mir als Spion entlarvt worden und wurde fristlos entlassen. Er war es, der unser erstes Gespräch mit dem Konsul an die Gestapo weitergegeben hatte. Auch der Chef der Fremdenpolizei wurde von der Regierung wegen hoher Indiskretion entlassen. Das Kapitel endete damit, dass wir ein achtmonatiges Visum für Japan sicher hatten und die Zeit genießen konnten. Die Japaner waren - abgesehen von der Gestapo - rührend nett zu uns.
Zu Deutschen hatten wir dort keinen Kontakt. Doch, einmal." Frau Lenarts Augen blitzen schalkhaft. "Ich saß im Hotel in Yamanaka und las ein japanisches Buch. Mein zahmes Erdhörnchen schlief in meinem Büstenhalter. Ein junges deutsches Ehepaar setzte sich an meinen Tisch. Reichsdeutsche, vermutete ich. Nazis wahrscheinlich. Wir wechselten kein Wort miteinander. Da wachte das Erdhörnchen auf und entschloss sich, herauszukriechen. Ich trug einen sehr engen Pullover. Dort, wo es an mir entlang kroch, bildeten sich Beulen. Das Ehepaar schaute entsetzt, bestimmt fünf Minuten lang. Ich tat, als wäre nichts." Frau Lenart freut sich. "Dann ergriffen sie schweigend die Flucht.
Als unser Visum auslief, sagte die Fremdenpolizei, die Weisheit Ihres Vaters ist hier nicht mehr erwünscht. Sie deportierte uns ganz offiziell nach Shanghai. Man besorgte uns sogar die Tickets für ein schönes Schiff. Ich muss zugeben, dass ich mich in Shanghai köstlich amüsiert habe, das darf man ja kaum sagen, wenn man vor Hitler geflohen ist, ich bin jede Nacht ausgegangen und habe viel getanzt. Wirklich schändlich. Wir lebten in einem wunderbaren Hotel, mein Vater schrieb und ließ von einem jungen Engländer ein Buch übersetzen.
Aber zehn Monate später meinte mein Vater, dass er hier nichts mehr zu tun habe, in Amerika jedoch schon. 'Ich will in die USA reisen', sagte er. 'Aber ich habe doch noch kein Visum', erwiderte ich. 'Ich habe nicht gesagt, dass wir fahren. Ich habe gesagt, dass ich fahre!'" "Wie war das für Sie?", frage ich. Frau Lenart lacht. "Ich kannte meinen Vater. Vor allem war ich glücklich, dass er wieder so gut in Schuss war und mich nicht mehr brauchte. Er hat ja noch fünf Jahre gelebt. Ich kaufte sein Billet, brachte ihn zum Schiff and I kissed him good bye."
Frau Lenart seufzt. "Ich hatte doch keine Ahnung, wann ich nachkommen konnte. Dann fuhr ich mit der Rikscha zurück ins Hotel.
Dort angekommen ließ der Manager des Hotels ausrichten, ich solle mich sofort beim amerikanischen Konsul melden. Ich stürzte zum Telefon. 'Ist Ihr Vater nicht heute auf dem Weg in die USA?'" Frau Lenarts Stimme überschlägt sich hell. "Plötzlich hatte der Konsul ein Visum für mich, auch eine Reise mit Fähre und Schnellzug, um das Schiff, auf dem mein Vater saß, in Yokohama einholen zu können! Ich packte mit zitternden Händen, bis mir einfiel, was der Konsul und ich vergessen hatten: ein Durchreisevisum für Japan."
Frau Lenart redet schnell, erregt, als erlebe sie noch einmal diese Chance, mit dem Vater zusammenzukommen für den nächsten großen Schritt. "Da kam mir der Gedanke an meinen schönen arischen Pass. Mit dem, dachte ich, könnte ich so tun, als sei ich ein deutscher Tourist, der den Stempel für Japan braucht, um dort seinen Sommerurlaub zu verbringen. Ich stellte mich also in die Schlange der Wartenden, vor mir und hinter mir eine Menge Nazis. Mir war nicht ganz wohl: die Sorge, was tun, wenn die eine schwarze Liste haben. Aber ich hoffte auf dieselbe Schlamperei, die mir bei der Gestapo in Deutschland geholfen hatte. Und tatsächlich, das Mädchen schaute meinen Pass gar nicht an, drückte mir wie allen anderen den Stempel drauf." Frau Lenart haut auf den Tisch. "Jetzt hatte ich ein Visum ohne Ablaufdatum. Und wissen Sie, wer in Yokohama auf mich wartete?" Frau Lenart grinst. "Die Polizei." Sie lacht. "Aber jetzt waren sie in der Klemme. Ich hatte sowohl ein gültiges Visum für Japan als auch für die USA. Da mussten sie sich was einfallen lassen. Die Lösung war, mich auf schnellstem Wege nach Amerika zu deportieren, mich gleich auf das Schiff meines Vaters zu schicken."
Frau Lenart lehnt sich zurück und erzählt genüsslich: "Aber ich hatte keine Lust. Ich wollte noch mit dem restlichen Geld für meine Freunde einkaufen gehen, auf der Ginza, der großen Shopping-Street in Tokio. Gab das ein Palaver mit den Polizisten am Bahnsteig! Sie konnten es mir nicht verbieten, also ließen sie mich und setzten mir einen Spion auf die Nase. Der arme Kerl - durch sämtliche Einkaufszentren habe ich ihn geschleppt, er muss am Ende hundemüde gewesen sein. Ich habe immer gemerkt, wenn ich in Japan beschattet wurde. Ich vermute, dass das FBI mich in Shanghai beschattet hatte. Washington dachte, der Vater ist auf dem Weg in die USA, die Tochter hat uns den Spion aus Yokohama geliefert, jetzt lassen wir sie rein.
Drei Monate später marschierten die Japaner in Shanghai ein. Das wäre mehr als brenzlig für mich geworden. Am Abend ging ich aufs Schiff. Das war ein Wiedersehen. Mein Vater war selig."
(c) ZEIT online, 21.2.2006