Franz Oppenheimer als Mensch und Zionist

Deutsche Version eines hebräischen Vortrags, der anläßlich des hundertsten Geburtstages von Franz Oppenheimer im Rahmen des Instituts für die Erforschung des Zionismus an der Universität Tel-Aviv, am 7. April 1964, gehalten wurde. Erstabdruck im Bulletin des Leo Beack Instituts, Bd. 7, 1964, S. 1 - 20.

[S. 1] Es wird mir nicht ganz leicht, hier ein lebendiges Bild von Franz Oppenheimer zu zeichnen, denn ich kann mich nicht rühmen, einer seiner Schüler zu sein, wenigstens nicht von der Universität her. Im Gegenteil: ich entsinne mich nicht, daß in Berlin, wo ich Mitte der zwanziger Jahre studierte, sein Name auch nur einmal von den Historikern erwähnt wurde, weder von Friedrich Meinecke, noch von Erich Marcks oder von Albert Brackmann, nicht in ihren Vorlesungen über die Geschichte des Staates im Mittelalter und in der Neuzeit, und auch nicht in ihren Seminaren über Machiavelli und über andere Theoretiker des modernen Staates - obwohl doch Franz Oppenheimer der Entstehung des Staates, seiner Wurzel und seinem Wesen eine große Anzahl von Büchern und Aufsätzen gewidmet hat, seit er im November 1907 sein kleines Buch »Der Staat« veröffentlicht hatte.[1] Dieses kleine Buch über den Staat war übrigens, wenn ich mich recht erinnere, dann das erste Buch Franz Oppenheimers, das mir zu Gesicht kam - ich nehme an, daß ich es auf einem der Bücherwagen neben der Universität in Berlin erstanden habe, mit deren Schätzen ich die Grundlage meiner wissenschaftlichen Privatbibliothek gelegt habe.

Oppenheimer war damals, in den Jahren 1919 - 1929, Professor für Soziologie an der Universität Frankfurt a. M. Er hatte zwar vorher, seit 1909, an der Universität Berlin vor einer großen und interessierten Zuhörerschaft gelesen, aber nur als Privatdozent; [S. 2] eine öffentliche Bestallung konnte im Wilhelminischen Deutschland kein Dozent erwarten, der die Idee des Sozialismus vertrat, wenn auch eines liberalen Sozialismus. So sah man Oppenheimer als Outsider an, als eine aus dem Rahmen fallende Persönlichkeit, und seine Ansichten wurden kaum erwähnt, wenigstens nicht von den Historikern, obwohl diese sich durchaus mit den Auffassungen anderer Soziologen, wie etwa Max Weber und Werner Sombart, ernsthaft und leidenschaftlich auseinandersetzten. Noch weniger waren sie geneigt, eine kleine Broschüre Oppenheimers zu erwähnen, die mir kurz danach durch Zufall in die Hände kam. Ihr Titel war »Die Judenstatistik des preußischen Kriegsministeriums«: die gründliche Analyse eines antisemitischen Buches, das auf bösartig gesammeltem und bösartig ausgewertetem statistischem Material beruhte. War das erste Buch von Interesse für uns, weil wir Erklärungen und Ausdeutungen der in unserer Zeit vorgehenden Wandlungen suchten, so zeigte uns die kleine Broschüre Franz Oppenheimer von einer ganz anderen Seite: den Polemiker, den Kämpfer für die Ehre der Juden, dessen Waffe eine scharfsinnige Analyse der Statistik war, mit so grundlegenden und überzeugenden Ausführungen, daß ich seitdem das Heftchen oft Studenten zur Lektüre empfahl als eine Art Einführung in die Statistik, damit sie aus ihm, gleich mir, die in dieser Grundwissenschaft liegenden Methoden der Erklärung - und der Irreführung lernten.[2]

Etwa um die gleiche Zeit hörte ich von Franz Oppenheimer auch in zionistischen Kreisen. Man diskutierte damals, im Jahre 1926, erregt die scharfe Kritik, die er an dem zionistischen Kolonisationswerk im allgemeinen, an der landwirtschaftlichen Siedlung im besonderen, und ganz besonders an den Kibbuz-Siedlungen übte. Seinen offiziellen Bericht, der nur als vervielfältigtes Rundschreiben unter den Mitgliedern des Aktionskomitees verbreitet wurde, sah ich damals nicht. [3] Aber ich hörte einen Vortrag, den Oppenheimer in Berlin über diese seine dritte Reise nach Palästina hielt, die er im Auftrage der Zionistischen Exekutive unternommen hatte, um sein Gutachten [S. 3] über das Aufbauwerk, die bei ihm angewandten Methoden und die Lage der Kolonisation im allgemeinen abzugeben. Er erzählte begeistert vom Lande, von seinen Fortschritten und von seiner Schönheit, er sprach mit Anerkennung von der Hingabe und dem Pioniergeist der Siedler; gleichzeitig aber übte er Kritik - manchmal mit beißender Schärfe, dann wieder in ironischem Ton - an gewissen Erscheinungen im Leben des Jischuw, an den in der landwirtschaftlichen Kolonisation gehandhabten Methoden und insbesondere an den Kollektivsiedlungen. Besonders in Erinnerung ist mir seine Kritik an der Art, wie man in den Kibbuzim die Kinder verwöhne: man ziehe dort die Kinder in einem Luxus groß, sagte er, als wenn sie Kinder von Lords wären, während gleichzeitig die Eltern sich von Brot und Tomaten ernähren. Seine Worte fanden Zustimmung und Widerspruch, erregten Begeisterung, Aufregung und Zorn - und manchmal diese verschiedenen Reaktionen zugleich. Wie er da vor uns am Rednerpult stand - ein hochgewachsener schöner Mann, aufrecht und gesund; Statur und Gesicht eines Wanderers und Bergsteigers; auf einer Wange die Schmisse, die er als Meister im Florettfechten der Studentenverbindung erhalten hatte, der er während seiner Studienzeit angehörte; ein Redner von ungewöhnlicher Gewalt, dem alle Feinheiten der Sprache und des Ausdrucks zur Verfügung standen; ein temperamentvoller Träumer und Kämpfer, der lobte und spottete, verherrlichte und geißelte - bekam man den Eindruck, daß er es liebte, Widerspruch zu erregen, und daß es auf jeden Fall unmöglich war, ihm einfach zuzuhören, wie man einem andern Vortrag zuhört. Er zwang seine Hörer, Stellung zu nehmen, sich mit seinen Argumenten auseinanderzusetzen, ja oder nein zu sagen, oder sich zu entschließen, die Frage eingehender zu studieren. Mir scheint, darauf beruhte auch sein großer Einfluß auf seine Schüler an der Universität und ebenso auf alle, die seine Schüler durch die Lektüre seiner Bücher wurden. Er lehrte sie, nichts kritiklos zu übernehmen, keine Autoritäten anzuerkennen, ohne ihre Lehren und deren Grundlagen selbst geprüft zu haben - auch nicht seine eigene Autorität; sich des Lehrers würdig zu erweisen durch eine fruchtbare Kritik, so wie er selbst es als eine Pflicht ansah, sich seinen Vorgängern gegenüber zu verhalten: von ihnen zu lernen und seine Treue zu ihnen dadurch zu beweisen, daß er selbständig forschte und prüfte, daß er dankbar anerkannte, was er wahr an ihnen empfand, und daß er alles, was ihm nicht begründet genug erschien, kritisierte, negierte und ablehnte.

[S. 4] Dieser lebendige Eindruck von Oppenheimer vertiefte sich in dem Maße, in dem ich - in Zusammenhang mit meinen eigenen Forschungsarbeiten über Herzl, das zionistische Kolonisationswerk, die Judenfrage und die Geschichte des Zionismus - in engere Berührung mit seinen allgemeinen und seinen zionistischen Anschauungen kam, und mit seiner Tätigkeit hier im Lande.

* * *

1896, kurz vor dem fin de siècle, erschienen zwei Bücher, die nach der Ansicht ihrer Verfasser von entscheidender Bedeutung für die Menschheit waren - und die auf jeden Fall entscheidende Bedeutung für das Leben ihrer Schöpfer hatten: »Der Judenstaat« von Theodor Herzl und »Die Siedlungsgenossenschaft« von Franz Oppenheimer. Beide Männer verfaßten ihre Bücher nicht als literarische oder wissenschaftliche Werke, sondern jeder von ihnen wollte sie als Aufruf zur Tat verstanden wissen, und wenn sie danach auch zu Theoretikern ihrer Lehre wurden, so geschah das eigentlich gegen ihre Absicht, wenigstens gegen ihre ursprüngliche Absicht. Nicht um der Theorie willen schrieben sie, sondern um Anhänger für ihre leitende Idee zu werben, mit der sie die Menschheit aus einer Not befreien und ein Weltproblem lösen wollten: der eine - Herzl - die Judenfrage, der andere - Oppenheimer - die soziale Frage. Beide haben von sich bezeugt, daß ihre Leitidee ihnen mit einem Male kam, wie in einer plötzlichen Eingebung, obgleich natürlich - wie sie selbst recht wohl wußten, und wie wir es heute auf Grund der Quellen in allen Einzelheiten nachzeichnen könnten - jenem schicksalhaften Augenblick der blitzartigen Erkenntnis eine langjährige ruhige, sozusagen unterirdische Entwicklung vorausging, eine Entwicklung freilich mit Erschütterungen, die den schöpferisch vulkanischen Ausbruch ankündigen konnten. Wir alle kennen Herzls Äußerungen darüber, wie er den Weg zu sich und zu seinem Volke wie unter einem überirdischen Zwange fand, unter dem Rauschen von Adlerflügeln über seinem Haupte. Ähnlich bezeugt Franz Oppenheimer von sich, daß die grundlegende Erkenntnis seiner Lehre ihm blitzartig in einer Nacht gegen Ende des Jahres 1893 kam. "Wie man in dunkler Nacht im Gebirge in einem Wetterleuchten eine ganze Kette von Gipfeln und Gletschern vor sich sieht, so sah ich damals in einem einzigen Augenblick die ganze Arbeit meines Lebens scharf vorgezeichnet vor mir. Es war die Sekunde dessen, was die alte Mystik »die Gnadenwahl« nannte ... Ich hatte in jener blitzartigen Erkenntnis [S. 5] den Faden ergriffen, der mich durch das Labyrinth der Tatsachen geführt hat." [4]

Und bei beiden, bei Herzl wie bei Oppenheimer, so sehr sie sich auch in ihrem Charakter und dem Wesen ihrer Berufung unterschieden, ist in gleicher Weise erstaunlich und bewundernswert, mit welcher Treue sie zu sich und zu dem ihnen auferlegten Gebot standen: kein innerer Zweifel und keine äußere Bezweiflung konnte in ihnen den Glauben an die Richtigkeit ihrer Grundanschauung erschüttern und sie vom Wege der Berufung ablenken, die ihnen, wie sie beide überzeugt waren, von einer überirdischen Macht auferlegt war, und der sie zu gehorchen hatten.

Die Ähnlichkeit, die beider Lebenslauf aufweist, geht aber noch weiter. Des einen Leitidee enthielt in sich jeweils auch wesentliche Elemente von der Auffassung des anderen. Herzl rang ebenfalls sein ganzes Leben lang mit der sozialen Frage und über sie gelangte er eigentlich zu seiner Grundauffassung der Judenfrage. Um die gleiche Zeit wie Oppenheimer kam Herzl, unabhängig von ihm, zu ähnlichen Gedanken über die Notwendigkeit, die Ideen des Sozialismus und der individuellen Freiheit in der Konzeption eines »liberalen Sozialismus« zu vereinigen, und auch er sah die genossenschaftlich organisierte Wirtschaft, die für ihn eine Art Mittelweg zwischen Kollektivismus und ungebändigtem Individualismus darstellte, als die gesündeste Grundlage für die zukünftige Gesellschaft an, befürwortete sie schon im »Judenstaat« und baute auf ihr Staat und Gesellschaft in »Altneuland«, dem Staat der Träume, auf.

Andererseits haben bei Oppenheimers Entwicklung zu seiner Leitidee, nach der die eigentliche Ursache der sozialen Frage der Gegenwart, und der Schlüssel für das Verständnis der Geschichte, die von den Großgrundbesitzern den Arbeitern gegenüber geübte Bodensperre ist, die, durch Eroberungsgewalt entstanden, als Reste traditioneller politischer Herrschaft sich bis in die Gegenwart erhalten hat - ich deute hier diese Gedankengänge nur an, die das Thema anderer Ausführungen sein werden [5] -, zweifellos Oppenheimers Judentum und seine Erlebnisse als Jude eine nicht unbedeutende Rolle gespielt. Denn Jude war und blieb Oppenheimer sein ganzes Leben lang, so [S. 6] eng er auch mit der deutschen und westeuropäischen Kultur innerlich verbunden war. Als Sohn eines Predigers der Berliner jüdischen Reformgemeinde, der ein ärmlich-genügsames Leben führte, um nicht mit seinem Gewissen und seinen Anschauungen in Konflikt zu geraten, und als Sohn einer Mutter, von der Oppenheimer rühmte, sie sei schlechthin die klügste Frau gewesen, die er in seinem Leben kennengelernt habe, einer Frau, deren hohe Intelligenz in glücklichem Gleichgewicht gehalten wurde von einer "nie fehlenden Sicherheit der Intuition und des Urteils", von Güte, Opferwilligkeit und Gerechtigkeitssinn - erbte Franz Oppenheimer von seinen Eltern Anlagen und Fähigkeiten, die sich bei ihm zu einer an Genialität grenzenden Fruchtbarkeit vereinten. Seine Liebe zur preußisch-deutschen Heimat war gleichzeitig von dem Stolz auf seine jüdischen Wurzeln durchdrungen, die, der Familientradition zufolge, nach Posen und nach Spanien wiesen.

Als Beruf wählte Oppenheimer die Medizin, weil andere ehrenvolle Zweige der Wissenschaft und des öffentlichen Dienstes, die ihn hätten interessieren können, für Juden verschlossen waren. Von der Medizin her kam er zur Erkenntnis der Gesellschaft und der sozialen Frage, wie vor ihm auch andere Volkswirtschaftler und Soziologen von der ärztlichen Wissenschaft her zu ihren Anschauungen gelangten, Männer wie Bernard de Madeville, Victor Aimée Huber und vor allem Francois Quesnay, der Gründer der physiokratischen Schule der Volkswirtschaft, den Oppenheimer immer als einen seiner hervorragendsten Vorläufer angesehen hat. Auch unter den zionistischen Führern und Politikern gab es nicht wenige, bei denen die Medizin ihre politischen Anschauungen mitbestimmte, von Leo Pinsker und Max Mandelstamm bis zu Max Nordau und Alexander armorek und David Eder in der Zeit der Zionist Commission, um nur einige der bedeutendsten zu erwähnen. Offenbar sahen diese Männer die Gesellschaft als einen lebenden Organismus an und verstanden ihre Mißstände als Krankheiten, die nur dann heilbar sind, wenn man ihren Erreger und die Bedingungen ihrer Entstehung entdeckt, den Erreger bekämpft und die Bedingungen verbessert, welche die Verbreitung der Krankheit erleichtern [Vermuteter Setzfehler; dürfte richtig heißen »die Heilung der Krankheit erleichtern«; W.K.]. Diese Betrachtungsweise bringt freilich die Gefahr mit sich, daß der Arzt und Wissenschaftler glaubt, man könne, wie Goethe den Mephisto spotten läßt, alles Weh und Ach aus einem Punkte kurieren. Auch Oppenheimer war [S. 7] nicht frei von solchem Dogmatismus. Herzls Haltung war demgegenüber mehr die eines Ingenieurs und Dramatikers, der glaubt, man könne durch eine auf richtiger Einschätzung der statistischen Fakten und der dynamischen Kräfte basierten Planung und durch geschickte Organisation und Inszenierung die Massen ihrem Heile entgegenführen.

Es ist wohl kaum ein Zufall, daß die beiden Persönlichkeiten den Weg zueinander fanden und sich gegenseitig von der Wahrheit ihrer Lehre überzeugten. Trotzdem kam es erst 1902 zur ersten Begegnung zwischen ihnen. Angeregt durch die Mitglieder des Wiener Engeren Aktionskomitees (der damaligen Zionistischen Exekutive), Oskar Marmorek und Johann Kremenetzki, veröffentlichte Oppenheimer - damals ein freier Schriftsteller, der sechs Jahre vorher seine Praxis als Arzt aufgegeben hatte, um sich ganz der Verbreitung und systematischen Ausarbeitung seiner Gedanken zu widmen - im Dezember 1901 und Januar 1902 einen in Fortsetzungen erscheinenden Aufsatz in der offiziellen Wochenschrift der Zionistischen Organisation »Die Welt« unter dem Titel »Jüdische Siedlungen«. In diesem Aufsatz entwickelt er seine Vorschläge in bezug auf die Gründung von landwirtschaftlichen Siedlungen als Produktivgenossenschaften. Gegen Ende seiner Ausführungen verglich er den ersten Versuch einer genossenschaftlich organisierten Siedlung, der 1831 auf dem irischen Gut Rahaline gemacht worden war, mit der neuen, elektrisch betriebenen Versuchsbahn in Berlin-Zossen. Herzl war von diesem Vergleich bezaubert und ebenso von der ganzen, von Begeisterung und messianischem Glauben durchdrungenen Argumentation des Aufsatzes. [6] Er schrieb, anscheinend am 25. Januar 1902, an Oppenheimer [7] und teilte ihm mit, daß er eine Versuchssiedlung nach Oppenheimers Plänen verwirklichen wolle. Gleichzeitig sandte er ihm das Kapitel aus dem noch unvollendeten Manuskript seines Romans »Altneuland«, in dem er eine derartige Siedlung (»Neudorf«) nach diesen Prinzipien in dem Zukunftsstaat [S. 8] in Palästina schilderte. Vier Monate danach, Mitte Mai 1902, traf Herzl in Berlin mit Oppenheimer zusammen. Die beiden Männer machten aufeinander einen tiefen Eindruck. Herzl versprach, Oppenheimer in Bälde die Möglichkeit zu geben, eine genossenschaftliche Versuchssiedlung zu errichten. In Oppenheimer vertiefte sich die Überzeugung, daß Herzls zionistische Konzeption richtig sei; schon vorher hatte er ihr mit Sympathie gegenübergestanden. Als Oppenheimer im Februar 1903 an Herzl den Entwurf einer Antwort sandte, die er auf die Anfrage einer Zeitung über seine Stellungnahme gegenüber dem Zionismus zu geben beabsichtigte, antwortete ihm Herzl, der sich auch sofort in der »Welt« veröffentlichte, am 13. Februar 1903: "Nach dieser Antwort werden Sie nicht nur von sich selbst, sondern von vielen unserer Besten für einen trefflichen Zionisten gehalten werden."

Hier ist vielleicht der Ort, sogleich einige Worte über Franz Oppenheimer zionistische Auffassung zu sagen. Wie viele westeuropäische Zionisten, und wie auch nicht wenige aus dem Osten, kam Oppenheimer zum Zionismus in erster Linie aus einem Gefühl verletzten Stolzes, verletzt einerseits durch die Anschuldigungen des modernen Rassenantisemitismus, der sich zu Ende der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts zu organisieren begann, und andererseits durch den Mangel an aufrechter Haltung vieler Juden, die sich um jeden Preis in ihrer Denk- und Lebensweise der nichtjüdischen Umgebung anzugleichen suchten. Für Oppenheimer bestand kein Gegensatz zwischen Judentum und Deutschtum oder Europäertum, wenn man diese Begriffe nur richtig faßte. Er war Jude seiner Abstammung nach, und dieses Bewußtsein, das starke Empfinden dieser Verwurzelung, der Tradition langer Geschlechter, der zwischen allen Stammesgenossen bestehenden Verbindung, blieb in seinem Herzen immer lebendig. Gleichzeitig fühlte er sich aber als Berliner, als in der Mark Brandenburg Beheimateter, als preußisch.deutscher Bürger, der diese Heimat liebte, seine Landschaft, seine Geschichte, seine Literatur und Kunst, das Volk und den Staat - nicht weniger, als jeder andere deutsche Bürger, welcher Abstammung er auch sei. Seine Muttersprache, die Sprache des täglichen Umgangs, seines Denkens und seines Schreibens war das Deutsche, und er beherrschte diese Sprache wie sie nicht viele beherrschten - es ist ein ästhetisches Vergnügen, seine Schriften zu lesen, die nichts von der quasiwissenschaftlichen Geschraubtheit und nichts von jener Vernebelung [S. 9] durch abstrakte Begriffe haben, durch die sich viele Wissenschaftler im allgemeinen und viele Soziologen im besonderen auszeichnen. Diese Geradlinigkeit im Denken und Reden sah er als eine Erbschaft seiner Eltern an und als ein Wahrzeichen guten deutschen Stils. Den Zionismus verstand er, wie er im Basler Programm definiert worden ist: als eine Bewegung, die alle die vereinigt, welche "eine öffentlich-rechtlich gesicherte Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina erstreben". Und die Betonung liegt hier auf den Worten "für das jüdische Volk", für das nationale Kollektiv. "Der Zionismus ist also nicht, wie man oft gemeint hat", schrieb er 1909 in einem Aufsatz, "eine Bewegung der Juden, welche nach Palästina auswandern wollen, sondern er ist eine Bewegung, welche die Auswanderung des jüdischen Volkes will. Und ihr darf jeder beitreten, der dieses Ziel will, ganz gleichgültig, ob er sich zum jüdischen Volke rechnet oder nicht. Zionist ist also selbstverständlich jeder, der für seine Person die Übersiedlung so bald als möglich vorzunehmen gedenkt: aber ebenso gut ist auch Zionist derjenige, der lediglich aus opportunistischen oder geschichtsphilosophischen oder sogar aus feindseligen Rücksichten die Übersiedlung der ersten Klasse wünscht." Das Basler Programm hatte, seiner Ansicht nach, den "Rahmen gespannt, in den jeder Jude sich einordnen konnte, nicht nur die unter dem härtesten Drucke lebenden Osteuropäer, die noch sprachlich, kulturell und religiös so sehr eine eigene Nation bildeten, daß von einer Assimilation gar keine Rede sein konnte, sondern auch die kulturell und national bereits völlig assimilierten Juden des europäischen Westens und der freien Staaten jenseits der See, die aus irgendwelchen Gründen des Familienstolzes, der religiösen Pietät oder des wohlberechtigten Trotzes gegen ungerechte Zumutungen, dennoch das Band ihrer Zusammengehörigkeit mit den übrigen Juden der Welt nicht durch die Taufe lösen mochten." [8]

Seine innere Verbundenheit mit der deutschen Kultur und dem deutschen Nationalgefühl war irgendwie harmonisch vereint mit dem Glauben an die Werte des Judentums, das er, wie sein Vater, im Sinne der Propheten auffaßte - und manche sahen sogar in ihm einen Nachfahren der prophetischen und messianischen Gestalten des Judentums. Ich sage: die beiden Welten, die jüdische und die deutsch-europäische, waren in seinem Innern so eng verbunden, daß ihn die Forderung konsequenter [S. 10] zionistischer Führer von der Art Kurt Blumenfelds völlig unverständlich anmutete, die auf den zionistischen Landestagungen von Posen (1912) bis Leipzig (1914) die Forderung aufstellten, die deutschen Juden sollten anerkennen, daß sie nicht wirklich mit Deutschland verwurzelt seinen; zur Pflicht jedes wirklichen Zionisten gehöre es daher, eine persönlich verpflichtende Verbindung mit Palästina herzustellen und die eigene Alijah vorzubereiten. Der Grad der Zugehörigkeit westeuropäischer Juden - meinte Oppenheimer - zu den Völkern, in deren Mitte sie lebten, und das Maß, in dem sie sich mit ihnen identifizierten, seien von politischen und soziologischen Gegebenheiten und von Traditionen religiöser und familiärer Natur bedingt. Nur eines schien ihm über allen Zweifel erhaben, weil naturbedingt: "Nationaljude in demjenigen Sinne, wie es der russische oder rumänische Glaubensgenosse sein muß, kann der westeuropäische Jude unmöglich sein." Seine zionistische Auffassung war im Grunde genommen der Anschauung näher, wie sie später Louis Brandeis in den Vereinigten Staaten vertrat, oder wie sie heute von vielen Zionisten in Amerika vertreten wird, und sie stand dadurch im Gegensatz zu der zionistischen Konzeption, die sich in der Zionistischen Vereinigung für Deutschland durchsetzte. Noch als Oppenheimer 1931 seine Erinnerungen veröffentlichte, nur zwei Jahre also, bevor die Nazis an die Macht kamen, hatte er kein Gefühl dafür, daß die Grundlage für diese seine Auffassung erschüttert sei, zumindest in Deutschland ...

Gleichzeitig aber verband sich Oppenheimer, verband er sein Lebenswerk mit Palästina und wirkte er auf die Siedlungsarbeit im Lande, wie es nur wenige getan haben. Dem äußeren Anschein nach tat er das, weil ihm hier ein Versuchsfeld zur Verfügung stand, auf dem er seine Lehre erproben und beweisen konnte. In Wirklichkeit aber trieb ihn dazu nicht weniger das Gefühl einer inneren Verknüpfung zwischen ihm, dem Volke und dem Lande, und die Hoffnung, auf diese Weise der jüdischen Renaissance-Bewegung eine sichere Grundlage zu geben, die einzige Grundlage, seiner Ansicht nach, auf der man mit Sicherheit und mit Aussicht auf Erfolg den Bau errichten könne.

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Herzl lud Oppenheimer ein, seine Anschauungen dem VI. Zionistenkongreß vorzutragen, der im August 1903 in Basel zusammentrat. [S. 11] Es war das jener stürmische Kongreß, auf dem Herzl zur Diskussion und Abstimmung das Angebot der britischen Regierung für eine autonome jüdische Siedlung in Ostafrika stellte, das in unserer Geschichte unter dem falschen Namen »Ugandaplan« bekannt ist, - der letzte Kongreß, an dem Herzl teilnehmen konnte. Oppenheimer war schon vor dem Kongreß bekannt, daß Herzl Verhandlungen über eine jüdische Ansiedlung auf der Sinai-Halbinsel führte; Herzl hatte sogar Oppenheimer zu bewegen versucht, an der Forschungs-Expedition dorthin teilzunehmen. Über die weitere Entwicklung der Verhandlungen mit England, zum Ostafrika-Plan hin, hatten ihn Herzl jedoch nicht eingeweiht, wahrscheinlich weil er selber Zweifel hegte, ob die Verhandlungen mit der britischen Regierung bis zum Kongreß so weit gediehen sein würden, daß man darüber öffentlich sprechen konnte. In seinem Brief vom 18. Juni 1903 schrieb Herzl nur an Oppenheimer, er wolle in seine Hände eines der wichtigsten Referate des kommenden Zionistenkongresses legen. "Ich denke mir ihr Referat", führt Herzl einen Monat später, am 14. Juli 1903 aus, "als ein nicht gerade auf Palästina, sondern auf dasjenige Ansiedlungsgebiet berechnetes, welches wir auf national-jüdischer Grundlage und mit öffentlich-rechtlichen Sicherheiten zunächst als den Zufluchtsort für unsere unmittelbar betroffenen Massen erwerben können ... Ihr Referat denke ich besonders als eine Zusammenfassung derjenigen allgemeinen Prinzipien, welche im gegebenen Falle, selbstverständlich unter Wahrnehmung aller möglichen Umstände, bei unserer Ansiedlung zu verwirklichen wären."

Oppenheimer verstand recht wohl die Absicht Herzls. War er auch schon vorher Zionist gewesen, so bestärkte ihn der Progrom von Kischinew während der russischen Osterfeiertage am 6. und 7. April 1903 um so mehr in seiner zionistischen Grundhaltung. Sein ganzer Stolz bäumte sich dagegen auf, daß hier Raub und Mord gegen die Juden organisiert worden war, ohne daß die Juden sich zur Selbstverteidigung gegen ihre Angreifer ermannt hatten. "Kischinew treibt mir täglich zwanzigmal das Blut in die Stirn", hatte er Herzl am 25. Mai 1903 geschrieben. Und jetzt, am 12. Juni 1903, verdeutlichte er in einem mit seiner Zustimmung von Herzl in der »Welt« veröffentlichten Brief seine Einstellung noch: "Sie wissen, daß ich Zionist bin und fest auf dem Boden des Basler Programms stehe ... Ich muß hinzufügen, daß ich nicht begreifen kann, wie nach Kischinew ein Jude nicht Zionist sein kann!"

[S. 12] Durchdrungen von zionistischem Geist, vom Glauben an die im jüdischen Volke schlummernden Kräfte und die Macht der Sehnsucht nach dem Lande der Väter, war auch Oppenheimers Referat auf dem sechsten Zionistenkongreß in Basel, das Herzl noch vor dem Kongreß gelesen und gebilligt hatte, obwohl sein Inhalt im Widerspruch zu manchen seiner eigenen Thesen stand. Herzl stellte sich den Aufbau des Landes in erster Linie als ein Werk des Transports und der Organisation vor, dessen gelingen von der Güte der Planung und dem Willen zur Durchführung abhing. Oppenheimer stimmte dieser Auffassung nur für eine verhältnismäßig späte Phase des Werkes zu. In der ersten Periode müsse jedoch Siedlungsarbeit auf begrenzten Flächen durchgeführt werden, um das Land, die Siedler und die Siedlungsmethoden zu erproben. Das Werk, das zu verwirklichen uns auferlegt ist, sagte er, ist ohne Präzedenz: wir haben eine Völkerwanderung ungeheuren Ausmaßes zu organisieren, eine Wanderung von Menschen, die seit vielen Hunderten von Jahren die lebendige Verbindung mit dem Boden verloren haben und die "außerdem noch durch Hunger, schmutzige Not, Gram und soziale Erniedrigung verkümmert sind". Von hier aus entwickelte er die Grundvoraussetzungen der Ansiedlung. Vor allem Gemeinbesitz an Grund und Boden, sodann die Landwirtschaft als Grundlage der Gesamtwirtschaft und schließlich Selbsthilfe und nicht Philanthropie. "Unser Anfang muß demnach sein: genossenschaftliche Bauerndörfer; das wird uns vorgeschrieben durch die Geschichte, durch die Wirtschaftswissenschaft und durch unsere heilige Überlieferung." In allen Teilen des Landes seien fruchtbare, ausgedehnte Ländereien zu erwerben, die sich zur Errichtung landwirtschaftlicher Großbetriebe eigneten. Auf diesen landwirtschaftlichen Großbetrieben sollen die Landarbeiter die Arbeit lernen und Genossenschaftsgeist erwerben. Diese genossenschaftlichen Großbetriebe sind die ersten Pfähle; um sie herum werden andere Dörfer entstehen, ein Netz fruchtbarer Koopertiv-Siedlungen, welche die Grundlage für die stetige Erweiterung des Siedlungswerkes und für Kreditgewährung legen. Gelangen die Siedlungen zu dieser stufe des Gedeihens und werden sie kreditwürdig, dann - und erst dann - ist die Zeit gekommen für die Organisierung von Masseneinwanderung und Massenansiedlung auf landwirtschaftlicher Grundlage, der einzigen Basis, auf der ein großes Kolonisationswerk entstehen kann: "Hier ist nur der Anfang schwer, dann wächst das Werk ins Riesenhafte ... Die Geldmittel strömen uns noch viel schneller zu als die Menschen, [S. 13] und es braucht keine Generation darüber zu sterben, bis der letzte Paria Europas zum freien Bürger seines eigenen Vaterlandes umgewandelt ist."

Der Vortrag wurde mit Beifall aufgenommen, - eine Debatte fand jedoch kaum statt. Der sechste Kongreß war zu sehr mit den erregten Diskussionen über den Ugandaplan beschäftigt. Das einzig wirkliche Ergebnis des Referates und der Konstellation auf dem Kongreß war, daß Oppenheimer, gemeinsam mit Selig Soskin und Otto Warburg, als Mitglied einer Kommission zur Erforschung Palästinas gewählt wurde, der zum ersten Mal auch ein kleines Budget für ihre Arbeit bewilligt wurde. Oppenheimer kam dadurch in engere Beziehung zu den Kräften der zionistischen Bewegung, die eine sofortige Kolonisationsarbeit auf gesunder Basis in Palästina erstrebten. Außerdem drang der Genossenschaftsgedanke nunmehr in weitere Kreise der zionistischen Bewegung ein. Man hatte zwar über die genossenschaftliche Siedlungsweise und ihre Vorteile für ein junges Kolonisationswerk schon früher gesprochen. Auch Herzl hatte ja diese Idee im »Judenstaat« und in anderen Schriften (und besonders dann in seinem 1902 erschienenen Roman »Altneuland«) befürwortet. Nachman Sirkin war schon 1898 mit einer programmatischen Schrift in diesem Sinne hervorgetreten, und diese Tendenz hatte ihren Ausdruck auch bereits in einigen Resolutionen des Kongresses und anderer zionistischer Tagungen gefunden. Jetzt aber wurde durch einen bekannten Wissenschaftler und Schriftsteller bewiesen, daß die Genossenschaftsidee nicht nur ein schöner Wunschtraum sei, sondern die Forderung von Wissenschaftlern darstellte, die sich einen Namen als Autoritäten auf diesem Gebiet in der nichtjüdischen Welt erworben hatten. Es geschah hier etwas ähnliches, was mit dem Gedanken der Rückkehr nach Palästina durch herzl geschehen war: einerseits begann man ihn höher zu schätzen, weil ihn ein bei den Nichtjuden anerkannter Mann vertrat, und andererseits wurde der Gedanke neu formuliert und seine Anhänger durch eine aktive Persönlichkeit organisiert, die von dem glauben an die erlösende Kraft dieses Gedankens durchdrungen war. Die Genossenschaftsidee drang tief auch in die Reihen der Arbeiter ein. Alle genossenschaftlichen Arbeitsweisen, die im Laufe der Jahre in Palästina entstanden, wurden von diesem neuen Geiste belebt und gestärkt.

Immerhin vergingen wiederum sechs Jahre, bis Oppenheimers Plan zum zweitenmal auf einem Zionistenkongreß zur Diskussion [S. 14] gestellt wurde. [9] Es war das auf dem neunten Kongreß, der vom 26. - 31. Dezember 1909 in Hamburg zusammentrat. Oppenheimer kam nach Hamburg, unterstützt durch gewichtige Kräfte der Poale Zion um Schlomo Kaplansky in Wien, aber auch durch den Sprecher der Poale Zion in Erez Israel, Jizchak Ben Zwi, und ebenso durch weite Kreise von Zionisten aller Schichten und Länder. Er trat diesmal nicht nur als Redner auf, sondern als ein Fordernder im Namen der Idee, in seinem eigenen Namen und im Namen Herzls, der ihm ja sieben Jahre vorher die Durchführung seines Projektes versprochen hatte. Er forderte vor allem eine gesunde Landwirtschaft als Grundlage des Kolonisationswerkes. Nur auf dieser Basis lasse sich auch eine Industrie aufbauen, die für die Entwicklung des Landes unbedingt notwendig sein werde. Er wolle nicht, sagte er, gerade seine eigene Ware verkaufen, seine eigene Methode anpreisen, aber er sei überzeugt, daß der von ihm vorgeschlagene Weg der richtige sei. Diesmal begründete er seine Worte nicht ausführlich mit wissenschaftlichen Argumenten und durch eingehende Darlegungen, er erläuterte vielmehr den Gedanken mehr in praktischer Form und beschloß sein Referat mit praktischen Vorschlägen. Hier in Hamburg führte der Vortrag auch zu praktischen Ergebnissen. Oppenheimers Ausführungen hatten den ganzen Kongreß überzeugt. Einstimmig wurde ein Beschluß angenommen, "die genossenschaftliche Siedlungsmethode in den Tätigkeitsbereich der Zionistischen Organisation aufzunehmen". Zur Durchführung dieses Beschlusses solle der Keren Kajemeth den für die Errichtung einer Siedlungsgenossenschaft notwendigen Boden in Erbpacht zur Verfügung stellen. Für die Finanzierung sei ein spezieller Genossenschaftsfonds zu gründen, dessen Leitung ein aus Vertretern des Jüdischen Nationalfonds und der Arbeiterschaft zusammengesetztes Komitee übernehmen solle.

Der Keren Kajemeth erklärte sich bereit, sobald der Genossenschaftsfonds 100.000 Frs. (4000 Pfund Sterling) aufbringe, die gleiche Summe für den Ankauf von Boden, Ameliorierungsarbeiten und die Errichtung von Gebäuden zur Verfügung zu stellen. Nach dem von Oppenheimer und seinen Ratgebern ausgearbeiteten [S. 15] Budgetvorschlag sollte diese Summe bis zu dem - wie man hoffte, sehr nahen - Zeitpunkt ausreichen, an dem die richtig geplanten und geleiteten landwirtschaftlichen Siedlungen zu gewinnbringenden Unternehmungen würden.

Der Beschluß wurde mit allgemeiner Befriedigung aufgenommen. Auf dem Kongreß selbst gingen für den Genossenschaftsfonds bereits Zeichnungen in der Höhe von 40.000 Frs. ein. Tatsächlich versprach Oppenheimer mit seinem Plan auch etwas großes. "Die Schaffung einer tragfähigen Kreditbasis für die Massensiedlung freier jüdischer Bauern in Palästina", verkündete der Aufruf des Genossenschaftsfonds vom 28. Januar 1910, "das ist die Absicht des Werkes. Es zielt über die Kleinkolonisation auf die Großkolonisation, und nicht nur für Bauern; denn wer Bauern schafft", hieß es weiter mit ausdrücklicher Betonung, "schafft auch Städte, in denen andere Zehntausende, hoffentlich Hunderttausende als freie stolze Bürger leben können."

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In seinem Kolonisationsplan versuchte Oppenheimer, durch die Errichtung eines großen Genossenschaftsgutes die Vorteile des Großgrundbetriebes - rationalere und modernere Arbeitsmethoden, verhältnismäßig kleinere Ausgaben für Gebäude etc. - zu vereinigen mit den Vorzügen des auf Eigenarbeit basierten kleinbäuerlichen Betriebes, nämlich dem "Eigeninteresse des Besitzers, dem heiligen Eigeninteresse des Liberalismus". Die Entwicklung der Genossenschaftssiedlung sollte sich in drei Etappen vollziehen. Zu Beginn ist ein landwirtschaftlicher Großbetrieb zu errichten, der unter der Leitung eines fachmännischen Agronomen steht und den Arbeitern - zusätzlich zu ihrem nach der Arbeitsleistung abgestuften Lohn - auch einen ansehnlichen Gewinnanteil gibt, der wiederum dem Lohn entsprechend gestuft ist. Hat die Siedlung die Anfangsschwierigkeiten überwunden, und haben die Arbeiter in diesen Jahren der Vorbereitung ansehnliche Ersparnisse gemacht, so sollen sie als Arbeiter-Produktivgenossenschaften die Leitung der Genossenschaftsfarm auf eigene Verantwortung übernehmen. Sie werden natürlich günstige Bedingungen für den Erwerb des Inventars und die Zahlung der Erbpacht auf den Boden erhalten. Auf dieser Stufe fallen dann schon Gewinn, aber auch Verlust vollständig der Arbeiter-Produktivgenossenschaft zu. Die dritte Phase der Entwicklung stellt die Gründung der [S. 16] Siedlungsgenossenschaft dar. Diese Phase wird erreicht, indem sich im Wirtschaftsgebiet der Siedlung auch nichtlandwirtschaftliche Elemente - Handwerker, Kaufleute, Angehörige freier Berufe, möglicherweise auch Rentner - ansiedeln, für die von vornherein ein Fünftel der Bodenfläche zurückgestellt worden ist. Durch die Aufnahme dieser Art von Genossenschaftsmitgliedern vermindern sich vor allem die Ausgaben für öffentliche Dienste. Von nun an kann jedes Mitglied der Arbeiter-Produktivgenossenschaft für sich entscheiden, wie er für die Zukunft sein Leben und seine Arbeit organisieren will. Er kann Arbeiter der Kooperativgruppe bleiben und im Gemeinschaftshaus oder mit seiner Familie in einem besonderen Hause wohnen. Mit Hilfe einer Anleihe aus der Genossenschaftskasse wird ihm aber auch ermöglicht, sich selbst ein Haus zu bauen und dazu zehn Dunam Boden zu pachten, die er in seiner freien Zeit bearbeitet. Schließlich steht ihm sogar frei, aus der Arbeiter-Produktivgenossenschaft auszuscheiden und eine eigene Wirtschaft auf einem von der Siedlung gepachteten Grundstück aufzubauen.

Gelingt es der Versuchssiedlung, diesen Entwicklungsgrad zu erreichen und sich bis an die Grenze ihrer Aufnahmefähigkeit zu erweitern, dann erfüllt der gesamte Versuch die ihm gestellte Aufgabe: eine Basis für landwirtschaftlichen Kredit zu schaffen. Dann wird sich nämlich das Großkapital dazu bereitfinden, das Geld für die Errichtung weiterer Genossenschaftssiedlungen zur Verfügung zu stellen - das heißt, der Weg wird gebahnt sein für die Finanzierung des landwirtschaftlichen Siedlungswerkes in Palästina.

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Im Frühjahr 1910 fuhr Franz Oppenheimer nach Palästina. Die Eindrücke seiner Erkundungsreise vertieften seine Erkenntnis, daß es die wichtigste Aufgabe der Zionistischen Organisation sei, Arbeiter aus proletarischen Kreisen anzusiedeln; darin - wie auch die Erfahrung in anderen Ländern bewiesen habe - liege die einzige Garantie für die Nationalisierung des Bodens. Ebenso wurde er neu gestärkt in der Überzeugung, daß nur der von ihm vorgeschlagene Weg Aussicht auf Erfolg habe. Durch Werbereisen in Deutschland, Österreich und besonders Galizien gelang es ihm während des Jahres 1910, die für den Anfang erforderliche Summe von 100.00 Mark (5000 Pfund Sterling) [S. 17] für den Genossenschaftsfonds aufzubringen. [10] Das Problem bestand nun noch darin, den für das zu errichtende Dorf notwendigen und geeigneten Boden zu finden. Zufällig gelang damals der Palestine Land Development Company (PLDC) ein wichtiger Bodenkauf: es wurde die erste größere Bodenfläche im Emek Jesreel erworben, ein Bodenkomplex im Zentrum des Emek, dem kurze Zeit danach der Name Merchawiah gegeben wurde. Man beschloß also, den ersten Versuch einer Genossenschaftssiedlung nach den Oppenheimerschen Grundsätzen auf dem Boden von Merchawiah zu machen. Eine in vieler Hinsicht schicksalhafte Entscheidung wurde damit gefällt.

Als Oppenheimer zum erstenmal Herzl und der zionistischen Öffentlichkeit seinen Plan in Vorschlag brachte, bemerkte er, es sei erwünscht, das Experiment auf einem Gebiete mit optimalen Erfolgsaussichten durchzuführen, gewissermaßen ein »reines Experiment« zu veranstalten, das heißt einen von störenden nichtlandwirtschaftlichen Faktoren möglichst freien Versuch. Am besten sei es daher, diesen ersten versuch nicht in Palästina zu unternehmen, sondern in einem Lande, dessen klimatische und landwirtschaftliche Bedingungen besser erforscht und dessen Arbeiter besser erprobt seien. Tatsächlich begann man nun - zu Anfang des Jahres 1911 - den Versuch mit einer ganzen Reihe von unerprobten Faktoren: in einem unentwickelten Lande, über dessen Bodenverhältnisse man noch kaum etwas wußte; auf einem Landstrich, den man erst noch praktisch in jüdischen Besitz überführen mußte, auch nachdem der Kauf unter Schwierigkeiten formal abgeschlossen war. Man ging an die Gründung einer Siedlung heran in einem Gebiet, in dem die Behörden und die Bevölkerung der Umgebung dem Eindringen der Juden sich widersetzten; mit Siedlern, von denen viele ohne oder ohne genügende Erfahrung in landwirtschaftlicher Arbeit im allgemeinen und der Arbeit im Lande im besonderen waren, und deren Bestand auch ständig fluktuierte.

Zu all dem kam der prinzipielle Widerstand gegenüber dieser Siedlungsform, der in weiten Kreisen der jüdischen Arbeiterbewegung im Lande vorhanden war. Gerade um diese Zeit - und sicher nicht ohne Einfluß des Elans, der von Oppenheimers Verfechtung des Genossenschaftsgedankens ausging - begannen [S. 18] die ersten Versuche einer Gemeinschaftssiedlung in einer von Oppenheimers Gedanken abweichenden Form, jener Form der Kollektivsiedlung in Deganiah und Kinereth, die sich den Namen »Kwuzah« gab. Man dachte sogar daran, das Experiment der Siedlungsgenossenschaft nach Deganiah zu überführen, und versuchte die junge Kwuzah von Deganiah dazu zu bewegen, die Oppenheimerschen Grundsätze zu übernehmen. Die Kwuzah lehnte jedoch diesen Vorschlag ab. "Die Arbeiter sehen" - hieß es in dem Beschluß der Kwuzah vom 26. Dezember 1911 - "die vollständige Freiheit in der Arbeit und in der Entwicklung ihrer Initiative als notwendig für den Bestand ihrer Kwuzah an und würden es als einen Rückschritt betrachten, sich der Leitung der Siedlungsgenossenschaft zu unterstellen. Sie glauben an den Erfolg der Kwuzah nicht weniger als an den der Siedlungsgenossenschaft und sehen keinen Grund dafür, eine Sache zu unterbrechen, um sich einer anderen anzuschließen. Außerdem", heißt es weiter in dem Beschluß, "sind sie gegen zwei Prinzipien in Oppenheimers Lehre: a) die unterschiedliche Entlohnung der Arbeiter; b) die Oberaufsicht, die durch einen offiziellen Leiter über eine Arbeitergruppe ausgeübt werden soll, deren Mitglieder seit Jahren ihre Arbeit kennen." So stand nun der Gedanke kollektiver Gleichheit, mit Befriedigung der Bedürfnisse jedes Mitglieds gegen Arbeitsleistung nach Vermögen, dem liberalistischen Grundgedanken gegenüber: Bezahlung nach Arbeitsertrag; nicht die Unterschiede in Anlagen und Fähigkeiten verwischen, die die Natur gesetzt hat, sondern sie ausnützen und sie in die für die allgemeine Wohlfahrt richtigen Bahnen leiten.

Es ist hier nicht der Platz, diesen Versuch - der sieben Jahre, von 1911 bis 1918, dauerte und von dessen Fortschritt sich Oppenheimer auf seiner zweiten Reise ins Land im Jahre 1913 überzeugte - in allen Einzelheiten darzustellen. Er ist oft geschildert worden, durch die Beteiligten, durch Beobachter, durch Führer der verschiedenen Seiten, durch Historiker und Nationalökonomen. Trotzdem ist es sehr wohl möglich, daß noch nicht das letzte Wort über jenes kolonisatorische Experiment gesprochen ist - das schließlich scheiterte. Freilich unter Bedingungen scheiterte, unter denen selbst viele nach anderen Methoden geleitete Siedlungen gescheitert wären. Kriegsumstände, mit Okkupation der Siedlung und Beschlagnahme seiner Ernte durch das Militär, trugen dazu bei, viele Krankheiten und Schädigungen durch Einflüsse der Natur, die Unmöglichkeit, [S. 19] die Siedlung zu entwickeln und das Wohngebiet zu erweitern, auch als aus der Gruppe von Junggesellen eine Ansiedlung von Familien mit Kindern entstanden war. Oppenheimer hatte mit seinem Argument sicher recht, daß eine Privatsiedlung sich unter so ungünstigen Umständen nicht so lange hätte halten können. Dazu ist allerdings zu bemerken, daß gewisse Kwuzah-Siedlungen unter ähnlichen Bedingungen doch standhielten, weil sie gerade durch den Gedanken der Gleichheit zusammengehalten wurden, während die Ungleichheit der Entlohnung, die Oppenheimer als eine unerläßliche Voraussetzung für die Entwicklung der Arbeiter und der Siedlung ansah, in Merchawiah während der Krisenzeit - eher als Sprengkraft wirkte, denn als einigendes und zum Einsatz anspornendes Moment.

Zweifellos aber hat der Genossenschaftsgedanke in der Landwirtschaft dank Oppenheimers Wirken weite Kreise ergriffen. Durch ihn hat er praktische Formen angenommen, und schließlich sind auch Bestandteile der liberalen Auffassung Oppenheimers in die Lebensweise von Kwuzah und Kibbuz eingedrungen. Heute gibt es viele Siedlungen in Israel, die tatsächlich Formen des Übergangs zwischen diesen beiden Auffassungen aufweisen. Kwuzah und Moschaw Merchawiah sehen sich mit Stolz als Fortsetzer des Werkes im Geiste Oppenheimers an, wenn auch nicht als Durchführer aller Einzelheiten seiner Konzeption. Und die Siedlung Merchawiah bildete zugleich den Grundstein für das weit verzweigte Siedlungswerk des Gebietes, das unser aller Stolz ist, das Emek Jesreel. Mehr noch, es ist durchaus offen, ob nicht unter den heutigen Bedingungen - mit Einwanderern anderer Herkunft, anderer Ideologien und anderer Lebensziele - ein neuer, den Grundlagen der Oppenheimerschen Auffassung nahe kommender Versuch Aussicht auf Erfolg hätte. Ein befugtes Urteil darüber steht mir nicht zu.

* * *

Es ist wohl im Rahmen dieser Betrachtungen angebracht, hier abzubrechen und die Lebensgeschichte Oppenheimers nicht weiter zu verfolgen. Sie ist von nun an mehr die Geschichte seines wissenschaftlichen Werkes, worüber mein Kollege, Dr. Walter Preuss, berichten wird. Ich stelle also nicht Oppenheimers Tätigkeit im »Komitee für den Osten« während des ersten Weltkrieges dar, bei der er, treu seiner allgemeinen Auffassung, versuchte, [S. 20] dem deutschen Heere und den Juden Polens zugleich zu helfen, indem er auf die gemeinsamen Interessen hinwies und sich bemühte, zwischen den beiden Lagern zu vermitteln. Ebensowenig gehe ich auf die bereits erwähnten Auseinandersetzungen im Zusammenhang mit seinem Bericht von 1926 über das Kolonisationswerk im Lande ein, - ich kann da nur wiederholen: durch seine klare und energische Stellungnahme gegenüber jeder Erscheinung und jedem Problem erregte Oppenheimer notwendigerweise den Widerspruch all derer, die von seiner Kritik betroffen wurden. Nie aber erzeugte er Haß; man stimmte seinen Argumenten zu oder lehnte sie ab - an seiner Aufrichtigkeit und an seiner Autorität hat nie jemand gezweifelt. Bis auf unsere Tage hat sich sein Bild so erhalten: im Herzen aller, die ihn kannten, und in den Tafeln der Geschichte ist er eingezeichnet als ein Kämpfer für seine Wahrheit, als treuer Diener des Leitgedankens seines Lebens - und als eine von Tragik umwitterte Persönlichkeit. Deutschland, sein Deutschland, das er liebte und an dessen Niedergang bis zu dem nazistischen Verfall er nicht glauben konnte, - er mußte es verlassen, und unser Land war noch nicht genügend entwickelt, um ihn gebührend aufzunehmen. Noch ein-, zweimal, besuchte er Palästina, aber seine Besuche waren keine Ereignisse mehr in der Geschichte unserer Kolonisation. Er freute sich über jeden Fortschritt im Lande - und fühlte sich einsam, wie jede große Persönlichkeit, die ihre Wahrheit gefunden hat, während die Welt sich weigert, sie anzunehmen und zu verwirklichen. In diesem Gefühl der Einsamkeit starb er am 30. September 1943 in Los Angeles.

Fußnoten
[1]
Franz Oppenheimer: Der Staat. Die Gesellschaft, Sammlung sozial-psychologischer Monographien, herausgegeben von Martin Buber, 14. und 15. Band. Verlag Rütten und Loening, Frankfurt a. M., 1907. [Neuauflage Berlin 1990, Libertad Verlag.]
[2]
Die Judenstatistik des preußischen Kriegsministeriums. Verlag für Kulturpolitik, München, 1922. Wiederaufgenommen in: Soziologische Streifzüge, Gesammelte Reden und Aufsätze, 2. Bd., München, 1926, S. 252 - 283. Ich habe nie das von ihm in der Einleitung, S. 6, als Warnung zitierte englische Witzwort vergessen: "Es gibt dreierlei Arten Lügen: Notlügen, gemeine Lügen und Statistik."
[3]
Bericht an die zionistischen Behörden über meine Reise als Gutachter nach Palästina im März/April 1926.
[4]
Franz Oppenheimer: Mein wissenschaftlicher Weg, Verlag Felix Meiner, Leipzig 1929, S. 16.
[5]
Siehe die von Dr. Walter Preuss: Franz Oppenheimers wissenschaftliche Bedeutung. In: Bulletin des Leo Beack Instituts, Bd. 7, 1964, S. 56 - 68.
[6]
Der Aufsatz schließt mit folgenden Worten: "... Wenn das jüdische Kapital und das jüdische Herz hier durchführen werden, was die jüdische Intelligenz ersonnen hat, dann werden sie das Wort des alten Testaments einlösen, das die Messianische Sendung des Judentums versprach. Sie werden glühende Kohlen auf das Haupt ihrer Feinde sammeln und den Antisemitismus in seiner Wurzel durchhauen. Seit 7 Jahren diene ich um meine Gedanken, wie Jakob um Rahel; meine Gedanken habe ich durchgekämpft in der Wissenschaft: Werden meine Stammesgenossen mir nun helfen, auch mein Werk durchzusetzen für meine Stammesgenossen?" - »Die Welt«, 1902, Nr. 4, S. 6.
[7]
Der Brief Herzls ist nicht erhalten, und wir kennen seinen Inhalt nur aus Herzls Eintragungen in seinem Tagebuch und aus Oppenheimers Antwort.
[8]
Österreichische Rundschau, Bd. 13, Heft 6; wiederabgedruckt in Soziologische Streifzüge, Jena 1927, S. 212 - 236.
[9]
Zwar wurde schon auf der Sitzung des Großen Aktionskomitees der Zionistischen Organisation, die im April 1904 in Wien tagte (»die Versöhnungs-Konferenz«), der letzten zionistischen Tagung, an der Herzl teilnahm, ein Beschluß angenommen, der die Errichtung einer Siedlung nach den genossenschaftlichen Prinzipien Oppenheimers forderte; dieser Beschluß wurde jedoch nicht durchgeführt.
[10]
Der Genossenschaftsfonds wurde im Oktober 1910 offiziell begründet als: »Erez Israel, Siedlungsgesellschaft m.b.H.«.