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V. Die Entfaltung des Verfassungsstaates

[S. 113] Wenn wir den Begriff der »Ausgänge« wieder wie oben fassen, als eine organische, aus inneren Kräften bedingte Weiterentwicklung des entfalteten Feudalstaates nach vor- oder rückwärts, nicht als ein von äußeren Kräften bedingtes, mechanisch herbeigeführtes Ende - dann kann man aussprechen, daß seine Ausgänge lediglich durch die selbständige Entwicklung der vom ökonomischen Mittel begründeten gesellschaftlichen Schöpfungen bestimmt werden.

Solche Einflüsse können auch von außen, aus fremden Staaten kommen, die dank einer weiter gediehenen wirtschaftlichen Entwicklung straffere Zentralisation, bessere militärische Gliederung und größere Stoßkraft besitzen. Wir haben solche Fälle schon gestreift: die selbständige Entwicklung der mittelländischen Feudalstaaten wurde durch ihren Zusammenstoß mit den ökonomisch viel reicheren, straff zentralisierten Seestaaten, Karthago und vor allem Rom, abgeschnitten. Auch die Zerstörung des Perserreiches durch Alexander darf hier [her]angezogen werden, da Makedonien damals bereits die ökonomischen Errungenschaften der hellenischen Seestaaten sich angeeignet hatte. Das beste Beispiel für solche Fremdeinflüsse bietet aber wieder die neueste Zeit in Japan, dessen Entwicklung durch die kriegerischen und friedlichen Einwirkungen des westeuropäischen Kulturkreises in fast unglaublicher Weise abgekürzt wurde. In kaum einem Menschenalter hat es den Weg vom entfalteten Feudalstaat zum voll ausgebildeten modernen Verfassungsstaat zurückgelegt.

Mir scheint, als handle es sich hier eben nur um eine Abkürzung des Prozesses. Soweit wir zu sehen vermögen - denn jetzt werden die historischen Belege sehr selten, und die Ethnographie bietet uns überhaupt keine mehr -, müssen innere Kräfte auch ohne starke, fremde Einflüsse den entfalteten Feudalstaat mit strenger Folgerichtigkeit immer denselben Weg zum gleichen Ausgang führen.

Die Schöpfungen des ökonomischen Mittels, die diesen Gang beherrschen, sind das Städtewesen und die in den Städten entwickelte Geldwirtschaft, die die Naturalwirtschaft allmählich verdrängt und damit die Achse, um die das ganze Staatsleben kreist, an eine andere Stelle verlegt: an die Stelle des Grundvermögens rückt allmählich das mobile Kapital.

a) Die Emanzipation der Bauernschaft

[S. 114] All das folgt mit Notwendigkeit aus den Grundvoraussetzungen des feudalen Naturalstaates. Je mehr sich das Großgrundeigentum zum Landesfürstentum auswächst, um so mehr muß im gleichen Schrittmaß die feudale Naturalwirtschaft zerfallen.

So lange das Großgrundeigentum noch verhältnismäßig klein ist, läßt sich der primitive Imkergrundsatz, der dem Bauern gerade die Lebensnotdurft läßt, durchführen: wenn es sich aber räumlich ins Gewaltige dehnt und, wie regelmäßig der Fall, durch Fehdegang, Kommendation kleiner Grundherren, Erbschaft und Ehepolitik einen weit um den eigentlichen Kern umherliegenden Streubesitz einschließt, dann läßt sich die Imkerpolitik nicht mehr durchführen. Will der Grundherr nicht eine Unzahl von Aufsichtsbeamten besolden, was teuer und politisch nicht ungefährlich ist, so muß er den Bauern eine irgendwie begrenzte Abgabe (halb Rente, halb Steuer) auflegen. Die wirtschaftliche Notwendigkeit einer Verwaltungsreform kommt also der politischen Notwendigkeit, die »Plebs« zu heben, die wir oben betrachteten, entgegen.

Je mehr nun der Grundherr aufhört, privatwirtschaftliches Subjekt zu sein, je ausschließlicher er öffentlich-rechtliches Subjekt wird, nämlich Landesfürst: um so mehr setzt sich die oben dargestellte Solidarität zwischen Fürst und Volk durch. Wir sahen, daß die einzelnen Magnaten schon in der Übergangsperiode zwischen Großgrundeigentum und Fürstentum das größte Interesse daran hatten, eine »milde« Regierung zu führen, nicht nur um die eigene Plebs zu kräftigem Staatsbewußtsein zu erzielen, sondern auch, um den noch aufrechten Gemeinfreien den Übertritt in die Hörigkeit zu erleichtern und den Nachbarn und Rivalen das kostbare Menschenmaterial zu entziehen. Dieses Interesse muß dem zur vollen faktischen Selbständigkeit gelangten Landesfürsten das Verharren auf dem einmal eingeschlagenen Wege dringend anempfehlen. Vor allem aber wird er, wenn er nun wieder selbst Land und Leute an seine Beamten und Offiziere verlehnt, das dringendste politische Interesse daran haben, ihnen seine Untertanen nicht mit Haut und Haaren auszuliefern. Um sie in der Hand zu behalten, beschränkt der Fürst das Rentenrecht der »Ritter« auf bestimmte Leistungen in Naturalien und Fronden, während er andere, im Landesinteresse nötige (Wege-, Brückenfronden [S. 115] usw.) für sich vorbehält. Wir werden sofort erkennen, wie sehr der Umstand, daß der Bauer im entfalteten Feudalstaat mindestens an zwei Herren zu leisten hat, für seinen späteren Aufstieg entscheidet.

Aus allen diesen Gründen muß im entfalteten Feudalstaat der Bauer auf irgendwie begrenzte Abgaben gestellt werden. Aller Überschuß gehört von jetzt an ihm zur freien Verfügung. Damit ist der Charakter des Grundeigentums völlig umgeschlagen: gehörte ihm bisher von Rechts wegen der gesamte Ertrag, abzüglich des notdürftigen Unterhaltes des Bebauers, so gehört jetzt der gesamte Ertrag von Rechts wegen dem Bebauer abzüglich einer festen Rente für den Eigentümer: der Großgrundbesitz ist Grundherrschaft geworden. Das ist der zweite große Schritt, den die Menschheit zu ihrem Ziele tut. Der erste war der Übergang vom Bären- zum Imkerstadium, der die Sklaverei erfand; dieser hebt sie auf. Der arbeitende Mensch, bisher nur Objekt des Rechtes, ist jetzt zum ersten Male Rechtssubjekt geworden. Der rechtlose Arbeitsmotor seines Herrn, der nur auf Leib und Leben eine notdürftige Gewähr besaß, ist jetzt steuerpflichtiger Untertan eines Fürsten geworden.

Nun spannt das ökonomische Mittel, seines Erfolges zum ersten Male sicher, ganz anders seine Kräfte an. Der Bauer arbeitet mit unvergleichlich mehr Fleiß und Sorgfalt, erzielt Überschüsse, und damit ist die »Stadt« im strengen ökonomischen Sinne geschaffen, die Gewerbsstadt. Bäuerliche Überschüsse bedeuten Nachfrage nach Gütern, die die bäuerliche Wirtschaft nicht selbst erzeugt; und Intensivierung des bäuerlichen Betriebes bedeutet Verminderung der gewerblichen Güter, die bisher der bäuerliche Hausfleiß nebenbei erzeugte: denn der Bodenbau und die Viehzucht absorbieren mehr und mehr von der Arbeitskraft der bäuerlichen Familie. Arbeitsteilung zwischen Urproduktion und Gewerbe wird möglich und notwendig; das Dorf wird vorwiegend der Sitz der ersteren, die Gewerbsstadt entsteht als Sitz der letztgenannten.

b) Die Entstehung der Gewerbsstadt

Man verstehe nicht falsch: nicht die Stadt entsteht, sondern die Gewerbsstadt. Die reale historische Stadt besteht längst, und keinem [S. 116] entfalteten Feudalstaat fehlt sie. Sie ist entstanden entweder aus dem reinen politischen Mittel als Burg [1], oder aus dem Zusammenwirken des politischen mit dem ökonomischen Mittel als Meßplatz, oder aus dem religiösen Bedürfnis als Tempelbezirk [2]. Wo solche Städte im historischen Sinne in der Nachbarschaft bestehen, gliedert sich die neu erwachsende Gewerbsstadt ihr an; sonst entsteht sie spontan aus der nunmehr entfalteten Arbeitsteilung und wird in der Regel sich nun ihrerseits auch als Burg und Kultstätte ausbauen.

Aber das sind zufällige historische Beimengungen. Im streng ökonomischen Sinne bedeutet »Stadt« den Ort des ökonomischen Mittels, des äquivalenten Tauschverkehrs zwischen Urproduktion und Gewerbe. Dem entspricht auch der Sprachgebrauch: eine reine, wenn auch noch so große Festung, eine noch so große Anhäufung von Tempeln, Klöstern und Wallfahrtsstätten, wenn sie ohne Markt möglich wären, würde man immer nur nach ihren äußeren Merkmalen als »stadtähnlich« oder »stadtartig« bezeichnen.

So wenig sich an dem Äußeren der historischen Stadt geändert haben mag, so gewaltig ist doch die innere Umwälzung, die ihr Entstehen ankündigt. Die Gewerbsstadt ist der Gegenpol und Widerpart des Staates; wie er das entfaltete politische, so ist sie das entfaltete ökonomische Mittel! Der große Kampf, der die Weltgeschichte erfüllt, ja bedeutet, spielt hinfort zwischen städtischem und staatlichem Wesen.

Die Stadt, als ein politisch wirtschaftlicher Körper, unterhöhlt das Feudalsystem mit politischen und wirtschaftlichen Waffen. Mit der ersten entwindet, mit der zweiten entlockt sie der feudalen Herrenklasse die Macht.

Auf dem politischen Felde vollzieht sich dieser Prozeß dadurch, [S. 117] daß die Stadt als Zentrum eigener Macht in das politische Kräftespiel eingreift, das den entfalteten Feudalstaat bewegt, zwischen Zentralgewalt, örtlichen Grundherren und Untertanen. Als Festungen und Wohnstätten kriegerischer Männer, wie als Lagerplätze der für die Kriegsführung erforderlichen Güter (Waffen usw.) und später als Zentren der Geldwirtschaft sind sie in den Kämpfen zwischen der Zentralgewalt und den werdenden Landesfürsten oder zwischen diesen untereinander wichtige Stützpunkte und Bundesgenossen und können bei kluger Politik bedeutende Rechte erwerben.

In der Regel stehen die Städte in diesen Kämpfen auf Seite der Zentralgewalt gegen die feudalen Junker; und zwar aus sozialen Gründen, weil der Landedelmann dem Patrizier die gesellschaftliche Gleichstellung versagt, die der Reichere doch fordert; - aus politischen Gründen, weil die Zentrale, kraft der Solidarität zwischen Fürst und Volk, doch viel mehr das Gemeininteresse im Auge hat, als der nur seinen Privatinteressen dienende Großgrundbesitzer; - und schließlich aus wirtschaftlichen Gründen, weil das Städtewesen nur in Frieden und Sicherheit gedeihen kann. Das Faust- und Fehderecht und der Stegreif sind mit dem ökonomischen Mittel nicht vereinbar: darum stehen die Städte meistens in Treue zu dem Friedens- und Rechtsschützer, zuerst zu dem Kaiser, dann zu dem souveränen Landesherrn; und wenn die bewaffnete Bürgerschaft ein Raubnest bricht und ausräuchert, so spiegelt sich im Tropfen nur der gleiche gewaltige Gegensatz wie im Weltmeer der Geschichte.

Um diese politische Rolle mit Erfolg spielen zu können, muß die Stadt möglichst viele Bürger heranziehen, ein Bestreben, das auch durch rein wirtschaftliche Erwägungen geboten wird. Denn mit der Bürgerzahl wächst Arbeitsteilung und Reichtum. Darum fördert die Stadt die Einwanderung mit allen Kräften und zeigt auch hierdurch wieder die Polarität ihres Wesensgegensatzes gegen den Landedelmann. Denn die neuen Bürger, die sie heranzieht, entzieht sie den Feudalgütern, die sie dadurch an Steuer- und Wehrkraft ebenso schwächt, wie sie selbst sich stärkt. Die Stadt tritt als mächtiger Mitbieter in jene Auktion ein, in der der hörige Bauer an den Meistbietenden (die meisten Rechte Bietenden) versteigert wird. Sie bietet ihm die volle Freiheit, zuweilen auch noch Haus und Hof. Der Grundsatz »Stadtluft macht frei« wird durchgekämpft, und die Zentralgewalt, froh die Städte zu stärken und die aufsässigen Edlen zu [S. 118] schwächen, setzt gemeinhin gern ihr Siegel unter das neu entstandene Recht.

Der dritte große Fortschritt der Weltgeschichte: Die Ehre der freien Arbeit ist entdeckt oder besser wiederentdeckt; sie war verschollen seit jenen fernen Zeiten in denen der freie Jäger und der noch nicht unterworfene Hackbauer den Ertrag ihrer Arbeit genossen. Noch trägt der Bauer das Pariahzeichen des Unfreien, und noch ist sein Recht schwach: aber in der mauerumgürteten, wehrhaften Stadt trägt der Bürger das Haupt hoch, als ein Freier in jedem rechtlichen Sinne.

Zwar gibt es noch Rangstufen der politischen Berechtigung innerhalb der Stadtmauer. Die Alteingesessenen, die Ritterbürtigen, die Altfreien, die reichen Grundbesitzer weigern dem Zugezogenen, dem unfrei Geborenen, dem armen Handwerker und Höker das Mitregiment. Aber wie wir es oben bei der Schilderung der Seestädte sahen: in der Stadtluft können solche Rangstufen nicht erhalten bleiben. Die intelligente, skeptische, straff gegliederte und zusammengefaßte Mehrheit erzwingt die Gleichberechtigung. Nur dauert der Kampf im entfalteten Feudalstaat gemeinhin länger, weil hier die Parteien ihre Sache nicht unter sich allein abzumachen haben; die großen Grundherren der Nachbarschaft und die Fürsten greifen hemmend in das Kräftespiel ein. Dieser tertius gaudens existierte nicht in den antiken Seestaaten, wo außerhalb der Stadt kein mächtiges Feudalherrentum bestand.

Das sind die politischen Waffen der Stadt im Kampfe gegen den Feudalstaat: Bundesgenossenschaft mit der Krone, unmittelbare Offensive, und Fortlocken der Hintersassen in die freie Stadtluft. Nicht minder wirksam aber ist ihre wirtschaftliche Waffe, die vom städtischen Wesen unzertrennliche Geldwirtschaft, die den Natural- und damit den Feudalstaat völlig zerstört.

c) Die Einflüsse der Geldwirtschaft

Der soziologische Prozeß, den die Geldwirtschaft auslöst, ist so bekannt und in seiner Mechanik so allgemein anerkannt, daß wir uns mit kurzen Andeutungen begnügen dürfen.

[S. 119] Stärkung der Zentralgewalt bis zur Allmacht und Schwächung der Lokalgewalten bis zur Ohnmacht, das ist auch hier, wie in den Seestaaten die Folge der eindringenden Geldwirtschaft.

Die Herrschaft ist nicht das Ziel, sondern das Mittel der Herren zu ihrem eigentlichen Ziele, dem »Prestige«, das arbeitsloser Genuß möglichst vieler, möglichst kostbarer Genußgüter verleiht. Im Naturalstaat ist die Herrschaft das einzige Mittel dazu: dem Markgrafen und Landesherrn gibt seine politische Macht den Reichtum. Je mehr Bauern ihm dienen, um so größer seine Streitmacht, um so mehr dehnt er seinen Herrschaftsbezirk und damit seine Einkünfte. Zahlt aber erst ein reicher Markt Produkte der Landwirtschaft mit verlockenden Waren, so ist es für jedes noch vorwiegend privatwirtschaftliche Subjekt, d.h. für jeden, noch nicht zum Landesfürstentum aufgestiegenen Grundherrn - und dazu gehören jetzt die Ritter - viel rationeller, die Zahl der Bauern nach Möglichkeit zu vermindern und nur so viele übrig zu lassen, wie mit äußerster Anstrengung möglichst viel Produkte aus dem Acker ziehen können, und ihnen von diesen Produkten so wenig wie möglich zu lassen. Das gewaltig vermehrte »produit net« des Grundeigentums wird nun aber, wieder ganz rationell, nicht mehr zur Unterhaltung einer streitbaren Garde verwendet, sondern auf den Markt geführt und gegen Waren verkauft. Das Gefolge wird aufgelöst, der Ritter ist zum Rittergutsbesitzer geworden. Damit ist wie mit einem Schlage die Zentralgewalt (Reichskönig oder Landesherr) der Rivalen um die Herrschaft ledig, ist politisch allmächtig geworden. Die trotzigen Vasallen, die den Schattenkönig zittern machten, haben sich bald, nach einem kurzen Intermezzo der Mitregierung im Ständestaat, in geschmeidige Höflinge verwandelt, die den roi soleil umschranzen; jetzt sind sie auf ihn angewiesen: denn nur die militärische Macht, die er jetzt allein (als Soldheer) in Händen hat, kann sie davor schützen, daß ihre bis zum Äußersten getriebenen Hintersassen ihr Joch abwerfen. Stand in der Naturalwirtschaft die Krone fast immer mit Bauern und Städten im Bunde gegen den Adel, so haben wir jetzt das Bündnis des aus dem Feudalstaat geborenen Absolutismus mit dem Adel gegen die Vertreter des ökonomischen Mittels.

Seit Adam Smith pflegt man diese grundstürzende Umwälzung so darzustellen, als habe der dumme Junker sein Erstgeburtsrecht für ein [S. 120] Linsengericht verkauft, indem er die Herrschaft für törichte Luxuswaren verschacherte. Nichts kann falscher sein. Der einzelne irrt häufig in der Wahrung seiner Interessen: eine Klasse irrt niemals auf die Dauer!

Die Wahrheit ist, daß die Geldwirtschaft unmittelbar, ohne das Dazwischentreten der agrarischen Umwälzung, die Zentralgewalt politisch so sehr stärkt, daß ein Widerstand des Grundadels sinnlos wäre. Wie die Geschichte des Altertums beweist, ist das Heer einer finanziell starken Zentralgewalt dem feudalen Aufgebot immer überlegen. Mit Geld kann man Bauernjungen vortrefflich bewaffnen und zu Berufssoldaten drillen, deren geschlossener Masse der lockere Verband des Ritterheeres nicht gewachsen ist. Und dazu kann der Fürst in diesem Stadium noch auf die wehrhaften Bataillone der städtischen Innungen rechnen. Die Feuerwaffe tat in Westeuropa das übrige, auch sie ein Produkt, das nur in der Gewerbswirtschaft der wohlhabenden Stadt entstehen konnte. Aus diesen militärtechnischen Gründen muß selbst derjenige Feudalherr, der den Luxus nicht achtet und den Wunsch hat, seine relative Selbständigkeit zu erhalten oder zu steigern, sein Gebiet der gleichen agrarischen Umwälzung unterwerfen: denn, um stark zu sein, braucht auch er jetzt vor allem Geld, das nunmehr der nervus rerum geworden ist, um Waffen zu kaufen und Berufssoldaten zu dingen. Die geldwirtschaftliche Umwälzung schafft den zweiten kapitalistischen Großbetrieb; neben die Großlandwirtschaft tritt die Großunternehmung des Krieges: die Kondottieri erscheinen auf der Bühne. Söldnermaterial ist ja jetzt genug auf dem Markte, um Heere zusammenzubringen: die entlassenen Feudalgardisten und die expropriierten Bauern.

Auf diese Weise kann wohl einmal ein Junker als Kondottiere noch zum Landesfürstentum aufsteigen, wie es in Italien öfters geschah, und wie es Albrecht Wallenstein schon erreicht hatte. Aber das ist individuelles Schicksal, das am Schlußergebnis nichts ändert. Die lokalen Mächte verschwinden aus dem politischen Kräftespiel als selbständige Machtzentren, behalten nur so lange noch ein Restchen ihres ehemaligen Einflusses, wie sie dem Fürsten als Finanzquelle nötig sind: der Ständestaat.

Die unendliche Machtvermehrung der Krone wird nun noch gesteigert durch eine zweite Schöpfung der Geldwirtschaft, das Beamtentum. Wir haben den »Hexenkreis« ausführlich dargestellt, den der [S. 121] Feudalstaat zwischen Zusammenballung und Zerfall ohne Ausweg durchlaufen mußte, solange er gezwungen war, die Beamten mit »Land und Leuten« zu besolden und dadurch zu selbständigen Machtfaktoren aufzufüttern. Die Geldwirtschaft zerbricht den Hexenkreis. Fortan vollzieht die Zentralgewalt die Funktionen durch besoldete Beamte, die von ihr dauernd abhängig sind [3]. Von jetzt an ist einer straff zentralisierten Regierung die Dauer ermöglicht, und Reiche entstehen, wie sie seit den geldwirtschaftlich entfalteten Seestaaten nicht mehr existiert hatten.

Diese Umwälzung der politischen Kräftekonstellation hat sich, soweit ich sehen kann, überall an die Ausbildung der Geldwirtschaft angeschlossen - vielleicht mit einer einzigen Ausnahme: Ägypten. Hier scheint - von irgendeiner Gewißheit ist nach mir gewordener sachverständiger Auskunft keine Rede - die Geldwirtschaft sich erst in der griechischen Zeit entfaltet zu haben. Bis dahin leistet der Bauer Naturalzinse [4]. Dennoch finden wir schon nach der Austreibung der Hyksos im neuen Reiche den königlichen Absolutismus voll ausgebildet: »Die militärische Macht wird durch ausländische Söldner gestützt, die Verwaltung durch ein in der Hand des Königs zentralisiertes Beamtentum geführt, die Lehensaristokratie ist verschwunden« [5].

Indessen bestätigt gerade diese Ausnahme die Regel. Ägypten ist ein Land von einzigem geographischen Charakter. Schmal zwischen Wüste und Gebirge eingepreßt, wird es in seiner ganzen Länge von einer natürlichen Straße durchzogen, die dem Transport von Massengütern viel weniger Schwierigkeiten entgegenstellt, als selbst die prächtigste Landstraße: die Wasserstraße des Nil. Und diese Straße ermöglichte es dem Pharao, die Steuern sämtlicher Gaue in seinen eigenen Magazinen, den »Häusern des Königs« [6] zu zentralisieren und von da aus Beamte und Garnisonen in naturalibus zu besolden. [7] [S. 122] Darum bleibt Ägypten, nachdem es einmal zu einem Großstaat geeinigt war, auch zentralisiert, bis fremde Mächte seinem staatlichen Dasein ein Ende bereiten. »Der Umstand, daß im Zustande der Naturalwirtschaft der Herrscher unmittelbar und ausschließlich über die Genußgüter verfügt und von den gesamten Einkünften nur eine solche Menge und solche Art von Gütern an seine Beamten abgibt, wie es ihm wünschenswert und nützlich erscheint, und die Verteilung der Luxusgüter ebenfalls fast ausschließlich in seiner Hand ruht, ist die Quelle seiner ungeheuren Machtfülle.« [8]

Mit dieser einen Ausnahme, wo ein gewaltiger Strom die Aufgaben der Zirkulation löst, hat wohl immer die Geldwirtschaft die Auflösung des Feudalstaates bewirkt.

Die Kosten der Umwälzung tragen Bauern und Städte. Im Friedensschluß liefern sich Krone und Junker den Bauern gegenseitig aus, teilen ihn sozusagen in zwei ideelle Hälften; die Krone bewilligt dem Adel den größten Teil des Bauernlandes und den größten Teil der Arbeitskraft der nicht gelegten Bauern; der Adel bewilligt der Krone die Rekrutenaushebung und Steuern auf Bauernschaften und Städte. Der Bauer, der schon in der Freiheit reich geworden war, sinkt in Armut und damit in soziale Deklassierung zurück.

Die Städte werden durch die nunmehr verbündeten ehemaligen Feudalgewalten unter das Knie gebogen, wo sie nicht selbst, wie z.B. in Oberitalien, schon feudale Zentralgewalten geworden waren. (Auch dann noch verfallen sie zumeist der Herrschaft der Kondottieri.) Die Angriffsmacht der Gegner ist stärker, ihre eigene Macht ist schwächer geworden. Denn mit der Kaufkraft der Bauern verfällt ihr Wohlstand, wie er mit ihr entstanden war. Die kleinen Landstädte stagnieren und verarmen und verfallen wehrlos dem fürstlichen Absolutismus; die großen, wo die Luxusnachfrage der Herren ein starkes Gewerbe auferzieht, zerklüften sozial und verlieren dadurch an politischer Kraft. Denn die Masseneinwanderung, die jetzt in ihre Mauern erfolgt: entlassene Gardisten, gelegte Bauern, verarmte Handwerker der Kleinstädte, ist eine proletarische. Zum erstenmal erscheint der »freie Arbeiter« der Marxschen Terminologie massenhaft auf dem städtischen Arbeitsmarkte; und nun tritt wieder das »Gesetz der Agglomeration« vermögens- und klassenbildend in Wirksamkeit und zerklüftet die Stadtbevölkerung in heftigen Klassenkämpfen, [S. 123] durch deren Ausnützung der Landesfürst fast immer die Herrschaft gewinnt. Nur wenige echte »Seestaaten«, »Stadtstaaten«, können sich auf die Dauer dieser Umklammerung durch das Fürstentum entziehen.

Wieder hat sich, wie in den Seestaaten, die Achse des Staatslebens auf eine andere Stelle verlegt. Statt um das Grundvermögen kreist es jetzt um das Kapitalvermögen (denn auch das Grundeigentum ist jetzt »Kapital« geworden). Warum mündet nun die Entwicklung nicht, wie bei den Seestaaten, in die kapitalistische Sklavenwirtschaft ein?

Dafür sind zwei Gründe maßgebend: ein innerer und ein äußerer. Der äußere ist der, daß eine ergiebige Sklavenjagd kaum irgendwo noch möglich ist, wo fast alle Länder in erreichbarem Umkreise ebenfalls als starke Staaten organisiert sind. Wo sie möglich ist, wie z.B. in den amerikanischen Kolonien der Westeuropäer, bildet sie sich sofort aus.

Der innere Grund aber ist der, daß der Bauer hier, im Gegensatz zum Seestaat, nicht einem, sondern mindestens zwei [9] Berechtigten leistungspflichtig ist: dem Grundbesitzer und dem Landesherrn. Beide halten sich die Hände fest, um dem Bauern den Rest von Prästationsfähigkeit zu erhalten, der für ihre Interessen nötig ist. Namentlich haben starke Fürsten, z.B. die brandenburgisch-preußischen, viel für die Bauern getan. Aus diesem Grunde blieb der Bauer, wenngleich jämmerlich ausgebeutet, überall da persönlich frei und Rechtssubjekt, wo das Feudalsystem voll entfaltet gewesen war, als die Geldwirtschaft einsetzte.

Daß diese Erklärung richtig ist, ergibt sich klar aus den Verhältnissen derjenigen Staaten, die von der Geldwirtschaft ergriffen wurden, ehe das Feudalsystem fertig entwickelt war. Das sind die ehemals slawischen Gebiete Deutschlands, namentlich aber Polen. Hier hatte sich der Feudalstaat noch nicht so kunstvoll gestaffelt, als der Getreidebedarf der großen Gewerbszentren des Westens den Ritter, das staatsrechtliche Subjekt, in den Rittergutsbesitzer, das privatwirtschaftliche Subjekt, verwandelte. Daher war der Bauer nur einem einzigen Herrn, dem Grundherrn, leistungspflichtig, und daher entstehen hier die schon gekennzeichneten Adelsrepubliken, die der [S. 124] kapitalistischen Sklavenwirtschaft so nahe kommen, wie der Druck der staatlich vorgeschritteneren Nachbarn es irgend gestattet. [10]

Das, was jetzt noch folgt, ist so allgemein bekannt, daß einige Worte genügen. Die Geldwirtschaft, zum Kapitalismus entfaltet, tritt klassenbildend neben den Grundbesitz; der Kapitalist fordert Gleichberechtigung und erzwingt sie schließlich, indem er die niedere Plebs revolutioniert und zum Sturme gegen die alte Herrschaftsordnung führt, selbstverständlich unter dem Banner des »Naturrechts«. Kaum ist der Sieg errungen, so wendet die Klasse des mobilen Reichtums, die Bourgeoisie, die Waffen rückwärts, schließt mit dem alten Gegner Frieden und bekämpft die Plebs im Namen des Legitimismus oder wenigstens einer üblen Mischung legitimistischer und scheinliberaler Argumente.

So hat sich allmählich der Staat entfaltet: vom primitiven Raubstaat zum entfalteten Feudalstaat, zum Absolutismus, zum modernen Verfassungsstaat.

d) Der moderne Verfassungsstaat

Betrachten wir Statik und Kinetik des modernen Staates etwas näher.

Er ist grundsätzlich noch dasselbe Wesen, wie der primitive Raub- und der entfaltete Feudalstaat. Nur ein neues Element ist hinzugetreten, das wenigstens die Bestimmung hat, im Interessenkampfe der Klassen das Gemeininteresse des Staatsganzen zu vertreten: die Beamtenschaft. In wieweit sie tatsächlich dieser Bestimmung gerecht wird, werden wir an seiner Stelle betrachten. Zunächst studieren wir den Staat in denjenigen Charakterzügen, die er aus seinen Jugendstufen mit herübergebracht hat.

Noch immer ist seine Form die Herrschaft, sein Inhalt die Ausbeutung des ökonomischen Mittels, diese noch immer begrenzt durch das Staatsrecht, das einerseits die hergebrachte »Verteilung« des nationalen Gesamtproduktes schützt, andererseits die Leistungspflichtigen bei der Prästationsfähigkeit zu erhalten sucht. Noch immer kreist die Innenpolitik des Staates in derjenigen Bahn, die ihm durch [S. 125] das Parallelogramm aus der zentrifugalen Kraft des Klassenkampfes und der zentripetalen Kraft des staatlichen Gemeininteresses vorgeschrieben wird; und noch immer wird seine Außenpolitik bestimmt durch das Interesse der Herrenklasse, das jetzt aber außer dem landed auch das moneyed interest umfaßt.

Grundsätzlich sind nach wie vor nur zwei gesellschaftliche Klassen zu unterscheiden: eine herrschende, der vom gesamten Erzeugnis der Volksarbeit (des ökonomischen Mittels) mehr zufällt, als sie beigetragen hat, und eine beherrschte, der weniger zufällt, als sie beigetragen hat. Jede dieser Klassen zerfällt je nach dem Grade der ökonomischen Entwicklung, in mehr oder weniger Unterklassen und -schichten, die sich nach der Gunst und Ungunst des für sie geltenden Verteilungsschlüssels abstufen.

In hochentwickelten Staaten findet sich zwischen den beiden Hauptklassen eine Übergangsklasse eingeschoben, die ebenfalls untergeschichtet sein kann. Ihre Mitglieder sind nach oben leistungspflichtig, nach unten leistungsberechtigt. Um ein Beispiel zu wählen, so sind im modernen Deutschland in der herrschenden Klasse mindestens drei Schichten vertreten: die großen Landmagnaten, die zugleich Industrie- und Bergherren sind, die großen Industriellen und Bankokraten, die oft zugleich schon Großgrundbesitzer sind und daher schnell mit der ersten Schicht verschmelzen (Fürsten Fugger, Grafen Donnersmarck), und drittens die kleinen Landjunker. Die beherrschte Klasse besteht mindestens aus Kleinbauern, Landarbeitern, Industriearbeitern samt kleinen Handwerkern und Unterbeamten. Die Übergangsklassen sind die »Mittelstände«: Groß- und Mittelbauern, die kleinen Industriellen und bessersituierten Handwerker und diejenigen reichen Bourgeois, die noch nicht reich genug geworden sind, um gewisse traditionelle Schwierigkeiten zu überwinden, die ihrer Aufnahme in den Konnubialverband entgegenstehen (Juden). Sie leisten nach oben unentgolten und empfangen von unten unentgolten; es ist individuelles Schicksal, was auf die Dauer überwiegt; danach bestimmt sich der Ausgang, den die Schicht oder das Individuum erlebt: volle Rezeption nach oben oder volles Versinken nach unten. Aszendent sind von den Übergangsklassen Deutschlands jetzt z.B. der Großbauer und Mittelindustrielle, deszendent die Mehrzahl der Handwerker. Damit sind wir schon zur Kinetik der Klassen gelangt.

[S. 126] Das Interesse jeder Klasse setzt eine reale Menge assoziierter Kräfte in Bewegung, die mit einer bestimmten Geschwindigkeit auf die Erreichung eines bestimmten Zieles hindrängen. Dieses Ziel ist für alle Klassen dasselbe: das Gesamterzeugnis der auf die Gütererzeugung gewandten produktiven Arbeit aller Staatsangehörigen. Jede Klasse erstrebt einen möglichst großen Anteil am Nationalprodukt; und da alle dasselbe erstreben, bildet der Klassenkampf den Inhalt aller Staatsgeschichte (immer abgesehen von den durch das Staatsinteresse erzeugten gemeinsamen Handlungen, von denen wir hier absehen dürfen, weil sie von der bisherigen Geschichtsbetrachtung - zumeist mit größter Einseitigkeit - in den Vordergrund gerückt worden sind). Dieser Klassenkampf stellt sich historisch dar als Parteienkampf. Eine Partei ist ursprünglich und auf die Dauer kaum je etwas anderes als die organisierte Vertretung einer Klasse. Wo eine Klasse durch die soziale Differenzierung in mehrere Schichten mit verschiedenen Sonderinteressen zerfällt, da zerfällt alsbald auch die Partei in entsprechend viele junge Parteien, die je nach dem Grade der Divergenz der Klasseninteressen Bundesgenossen oder Todfeinde sein werden. - Wo umgekehrt ein alter Klassengegensatz durch die soziale Differenzierung verschwindet, da verschmelzen auch in Bälde die beiden alten Parteien zu einer neuen. Als Beispiel für den ersten Fall mag die Abspaltung der mittelständischen und antisemitischen Parteien vom deutschen Liberalismus genannt werden, als Folge davon, daß jene deszendente, dieser aszendente Schichten vertreten; den zweiten Fall mag die politische Verschmelzung charakterisieren, die den ostelbischen Kleinjunker mit dem westelbischen Großbauern im Bunde der Landwirte zusammenführt. Da jener sinkt und dieser steigt, treffen sie sich auf halbem Wege. Alle Parteipolitik hat nur einen Inhalt: der vertretenen Klasse einen möglichst großen Anteil am Nationalprodukt zu verschaffen. Mit anderen Worten: die bevorzugten Klassen wollen ihren Anteil mindestens auf der alten Höhe halten, womöglich noch vermehren bis auf ein Maximum, das den ausgebeuteten Klassen gerade noch die Prästationsfähigkeit läßt (ganz wie im primitiven Imkerstadium) und das ganze Mehrprodukt des ökonomischen Mittels beschlagnahmt, ein Mehrprodukt, das mit wachsender Volksdichtigkeit und Arbeitsteilung ungeheuer anwächst; - die Gruppe der ausgebeuteten Klassen will ihren Tribut womöglich auf Null vermindern, das gesamte Nationalprodukt selbst [S. 127] verzehren; - und die Übergangsklassen streben danach, den Tribut nach oben soviel wie möglich zu vermindern, das unentgoltene Einkommen von unten soviel wie möglich zu vermehren.

Das ist Ziel und Inhalt des Parteienkampfes. Die herrschende Klasse führt ihn mit allen Mitteln, die ihr die überkommene Herrschaft in die Hand legt. Sie gibt die Gesetze, die zu ihrem Zwecke dienen (Klassengesetzgebung), und wendet sie so an, daß die scharfe Schneide immer nach unten, der stumpfe Rücken immer nach oben gerichtet ist (Klassenjustiz.) Sie handhabt die Staatsverwaltung zwiefach im Interesse ihrer Klassenangehörigen, indem sie erstens alle hervorragenden Stellungen, die Einfluß und Gewinn bringen, ihnen vorbehält (Heer, obere Verwaltung, Justiz), und zweitens die Staatspolitik durch diese ihre Geschöpfe leitet (Klassenpolitik: Handelskriege, Kolonialpolitik, Schutzzollpolitik, Arbeiterpolitik, Wahlpolitik usw.). Solange der Adel herrscht, beutet er den Staat wie ein Rittergut aus; sobald die Bourgeoisie ans Ruder kommt, exploitiert sie ihn wie eine Fabrik. Und die Klassen-Religion deckt alles mit ihrem Tabu, solange es geht.

Noch bestehen im Staatsrecht eine Anzahl politischer Privilegien und wirtschaftlicher Machtpositionen zugunsten der Herrenklasse: plutokratisches Wahlsystem, Koalitionsbeschränkung, Gesindeordnung, »Liebesgaben« usw. Und darum ist der Verfassungskampf der Jahrtausende hindurch das Staatsleben beherrschte, noch nicht beendet. Er vollzieht sich zumeist friedlich in den Parlamenten, aber auch zuweilen durch Straßendemonstrationen, Massenstreiks und Revolten.

Aber die Plebs hat begriffen, daß nicht, wenigstens nicht mehr, in diesen Resten der feudalen Machtpositionen die Zitadelle der Gegner zu suchen ist. Nicht politische, sondern wirtschaftliche Ursachen müssen es sein, die es bewirken, daß auch im modernen Verfassungsstaate sich die »Verteilung« grundsätzlich nicht geändert hat. Nach wie vor lebt die große Masse in bitterer Armut, bestenfalls in karger Dürftigkeit, in harter, zermalmender, verdumpfender Fron - und nach wie vor zieht eine schmale Minderheit, eine aus Altprivilegierten und Emporkömmlingen gemischte neue Herrenklasse, den ins Ungeheure gewachsenen Tribut unentgolten ein, um verschwenderisch zu genießen. Diesen wirtschaftlichen Ursachen der mangelhaften Verteilung gilt fortan mehr und mehr der Klassenkampf als unmittelbarer [S. 128] Lohnkampf zwischen Proletariat und Exploiteuren mittels Streik, Gewerkschaft, Genossenschaft. Die wirtschaftliche Organisation tritt erst gleichberechtigt, dann führend neben und vor die politische. Die Gewerkschaft beherrscht zuletzt die Partei. So weit ist die Entwicklung des Staates in Großbritannien und den Vereinigten Staaten bisher gediehen.

Viel feiner differenziert, viel mächtiger integriert, wäre auch der Verfassungsstaat also nach Form und Inhalt grundsätzlich nichts anderes, als seine Vorstufen, wenn nicht die Beamtenschaft als neues Element in ihn eingetreten wäre.

Grundsätzlich ist der Beamte, aus Staatsmitteln besoldet, dem ökonomischen Interessenkampf entrückt. Daher gilt in jeder tüchtigen Bureaukratie die Beteiligung des Beamten an Erwerbsunternehmungen mit Recht als nicht dem Amte angemessen. Wäre das Prinzip völlig durchführbar, und brächte nicht auch der beste Beamte als seine »persönliche Gleichung« die Staatsauffassung der Klasse mit, aus der er entstammt, so wäre in dem Beamtentum in der Tat jene schlichtende und ordnende Instanz oberhalb des Interessenkampfes gegeben, die den Staat seinen neuen Zielen zuführen könnte. Sie wäre der Punkt des Archimedes, von dem aus die Welt des Staates bewegt werden könnte.

Aber leider ist weder das Prinzip völlig durchführbar, noch sind die Beamten abstrakte Menschen ohne Klassenbewußtsein. Ganz abgesehen davon, daß die Beteiligung an einer bestimmten Art der Unternehmung, der Großlandwirtschaft, in allen Staaten so lange geradezu als höhere Qualifikation des Beamten gilt, wie der Grundadel überwiegt, wirken auf zahlreiche Beamte, und gerade auf die einflußreichsten, gewaltige ökonomische Interessen ein und ziehen sie unbewußt und gegen ihren Willen in den Kampf mit hinein. Väterliche und schwiegerväterliche Zuschüsse, ererbter Besitz und nahe Verwandtschaft mit Interessenten des landed oder moneyed interest verstärken die aus der »Kinderstube« mitgebrachte Solidarität mit der herrschenden Klasse, aus der diese Beamtenschaft fast ausnahmslos hervorgeht, während diese Solidarität bei Fortfall solcher ökonomischen Beziehungen leichter durch das reine Staatsinteresse zurückgedrängt wird.

Aus diesem Grunde finden wir in der Regel die tüchtigste, objektivste, unparteilichste Beamtenschaft in armen Staaten; Preußen z.B. [S. 129] verdankte früher vor allem seiner Armut jenen unvergleichlichen Beamtenstand, der es sicher durch alle Klippen steuerte. Seine Mitglieder waren wirklich der Regel nach von allen Erwerbsinteressen, unmittelbaren und mittelbaren, völlig gelöst.

In reicheren Staatsgebilden ist dieses ideale Beamtentum seltener zu finden. Die plutokratische Entwicklung zieht den Einzelnen mehr oder weniger mit in den Strudel, nimmt ihm einen Teil seiner Objektivität, seiner Unparteilichkeit. Dennoch erfüllt der Beamtenstand noch immer einigermaßen die Aufgabe, die ihm zugefallen ist, das Staatsinteresse gegen die Klasseninteressen zu wahren; und, wenn auch wider Willen oder wenigstens ohne klares Bewußtsein davon, wahrt er es so, daß das ökonomische Mittel, das den Beamtenstand erschuf, in seinem langsamen Siegesgang gegen das politische Mittel gefördert wird. Gewiß: die Beamten treiben die Klassenpolitik, die die Konstellation der Kräfte im Staate ihnen vorschreibt; gewiß: sie sind im Grunde nur Vertreter der Herrenklasse, der sie entstammen. Aber sie mildern die Schärfe des Kampfes, sie treten Ausschreitungen entgegen, sie bewilligen Änderungen des Rechtes, die durch die soziale Entwicklung reif geworden sind, ehe der offene Kampf darum entbrennt. Wo ein tüchtiges Fürstengeschlecht herrscht, dessen jeweiliges Haupt sich gleich Friedrich nur als »den ersten Beamten des Staates« betrachtet, gilt das Gesagte in verstärktem Maße von ihm, da sein Interesse, als des dauernden Nutznießers des Dauerwesens Staat, ihm vor allem gebietet, die zentripetalen Kräfte zu verstärken und die zentrifugalen zu schwächen. Wir haben im Laufe der Betrachtung öfters die natürliche Solidarität zwischen Fürst und Volk als segensreiche geschichtliche Kraft kennen gelernt: im vollendeten Verfassungsstaat, in dem der Monarch nur noch in relativ unendlich geringem Maße privatwirtschaftliches Subjekt, und fast ganz »Beamter« ist, drückt diese Interessenverknüpfung noch viel stärker durch als im Feudalstaat und absoluten Staat, wo die Herrschaft noch wenigstens zur einen Hälfte Privatwirtschaft ist.

Die äußere Form der Regierung ist auch im Verfassungsstaate nicht von entscheidender Bedeutung: der Klassenkampf wird in der Republik mit den gleichen Mitteln geführt wie in der Monarchie und führt zum gleichen Ziele. Immerhin ist die Wahrscheinlichkeit ziemlich groß, daß ceteris paribus in der Monarchie die Kurve der Staatsentwicklung gestreckter, mit geringeren sekundären Einbuchtungen [S. 130] verläuft, weil der Fürst, für Tagesströmungen weniger empfindlich als ein auf kurze Jahre gewählter Präsident, eine vorübergehende Einbuße an Volkstümlichkeit weniger zu scheuen braucht und daher seine Politik auf längere Zeiträume spannen kann.

Noch ist einer Abart des Beamtentums zu gedenken, deren Einfluß auf die Höherentwicklung des Staatswesens nicht unterschätzt werden darf, des wissenschaftlichen Beamtentums der Hochschulen. Es ist nicht nur Schöpfung des ökonomischen Mittels, wie das Beamtentum überhaupt, sondern gleichzeitig Vertreter einer geschichtlichen Kraft, die wir bisher nur als Bundesgenossen des Eroberungsstaates kennen gelernt haben, des Kausalbedürfnisses. Dieses Bedürfnis sahen wir auf primitiver Stufe die Superstition erschaffen; und deren Bastard, das Tabu, fanden wir überall als starke Waffe in den Händen der Herrenklasse. Aus demselben Bedürfnis aber ist nunmehr die Wissenschaft entstanden, die jetzt die Superstition angreift und zertrümmert und dadurch der Entwicklung den Weg bereiten hilft. Das ist die unschätzbare geschichtliche Leistung der Wissenschaft und namentlich der Hochschulen.

VI. Die Tendenz der staatlichen Entwicklung

[S. 131] Wir haben die Entwicklung des Staates in ihren Hauptzügen aufzudecken versucht von der fernsten Vergangenheit bis zur Gegenwart, dem Erdforscher ähnlich, der einen Strom von seinen Quellen abwärts verfolgt bis zum Austritt in die Ebene. Breit und gewaltig rollt er seine Wogen an ihm vorbei, bis er im Dunst des Horizontes verschwindet ins Unbekannte, noch nicht Erforschte, für ihn Unerforschliche.

Breit und gewaltig rollt auch der Strom der Geschichte - und alle Geschichte bis heute ist Staatengeschichte - an uns vorbei, und sein Lauf entschwindet uns in den Nebeln der Zukunft. Dürfen wir es wagen, Vermutungen über seinen ferneren Lauf anzustellen, bis er, »dem erwartenden Erzeuger freudebrausend an das Herz« sinkt? Ist eine wissenschaftlich begründete Prognose der künftigen Staatsentwicklung möglich?

Ich glaube, daß sie möglich ist. Die Tendenz [11] der Entwicklung des Staates führt unverkennbar dazu, ihn seinem Wesen nach aufzuheben: er wird aufhören, das »entfaltete politische Mittel« zu sein, und wird »Freibürgerschaft« werden. Das heißt: die äußere Form wird im wesentlichen die vom Verfassungsstaate ausgebildete bleiben, die Verwaltung durch ein Beamtentum: aber der Inhalt des bisherigen Staatslebens wird verschwunden sein; die wirtschaftliche Ausbeutung einer Klasse durch die andere. Und da es somit weder Klassen noch Klasseninteressen mehr geben wird, wird die Bureaukratie des Staates der Zukunft jenes Ideal des unparteiischen Wahrers des Gemeininteresses wirklich erreicht haben, dem die heutige sich mühsam anzunähern versucht. Der »Staat« der Zukunft wird die durch Selbstverwaltung geleitete »Gesellschaft« sein.

Man hat Bibliotheken geschrieben über die Abgrenzung der Begriffe Staat und Gesellschaft. Von unserem Standpunkt aus läßt sich das Problem leicht beantworten. Der »Staat« ist der Inbegriff aller durch das politische, die »Gesellschaft« der Inbegriff aller durch das ökonomische Mittel geknüpften Beziehungen von Mensch zu [S. 132] Mensch. Bisher waren Staat und Gesellschaft in eins verschlungen: in der »Freibürgerschaft« wird es keinen »Staat«, nur noch »Gesellschaft« geben.

Diese Prognose der Staatsentwicklung ist eine Ineinsfassung aller der berühmten Formeln, in denen die großen Geschichtsphilosophen das »Wertresultat« der Weltgeschichte zu geben versuchten. Sie enthält den »Fortschritt von kriegerischer Tätigkeit zur friedlichen Arbeit« St. Simons ebenso wie die »Entwicklung von der Unfreiheit zur Freiheit« Hegels; die »Entfaltung der Humanität« Herders ebenso wie das »Hindurchdringen der Vernunft durch die Natur« Schleiermachers.

Unsere Zeit hat den frohen Optimismus der Klassiker und Humanisten eingebüßt: der soziologische Pessimismus beherrscht die Geister. Die hier gestellte Prognose kann kaum irgendwo auf Anhänger rechnen. Nicht nur, daß sie den Nutznießern der Herrschaft kraft ihrer Klassenstimmung unglaublich erscheinen muß: auch die Angehörigen der beherrschten Klasse stehen ihr mit dem äußersten Skeptizismus gegenüber. Die proletarische Theorie sagt zwar grundsätzlich den gleichen Endzustand, die klassenlose, von aller Ausbeutung erlöste Gesellschaft, voraus, aber sie hält ihn nicht auf dem Wege der Evolution, sondern nur auf dem Wege der Revolution für möglich und stellt ihn sich unter dem Bilde einer, von der historisch gewordenen gänzlich abweichenden Gestalt der »Gesellschaft«, d.h. der Organisation des ökonomischen Mittels, vor: als marktlose Wirtschaftsordnung, als Kollektivismus. - Die anarchistische Theorie hält Form und Inhalt des »Staates« für untrennbar, Schrift und Kopf derselben Münze: keine »Regierung« ohne Ausbeutung! Sie will daher Form und Inhalt des Staates zerschlagen und den Zustand der Anarchie herbeiführen, selbst wenn dabei alle ökonomischen Vorteile der großen arbeitsteiligen Volkswirtschaft geopfert werden müßten. - Sogar der bedeutende Denker, der zuerst den Grund zu der hier vorgetragenen Staatslehre gelegt hat, Ludwig Gumplowicz, ist soziologischer Pessimist, und zwar aus denselben Gründen, wie die von ihm so heftig befehdeten Anarchisten. Auch er hält Form und Inhalt, Regierung und Klassenausbeutung, für ewig untrennbar: da er aber - mit Recht - ein Zusammenleben vieler Menschen ohne eine mit Zwangsgewalt ausgestattete Regierung nicht für möglich hält, so [S. 133] erklärt er den Klassenstaat für eine »immanente«, nicht bloß für eine historische Kategorie.

Nur das kleine Häuflein der Sozialliberalen oder der liberalen Sozialisten glaubt bisher an die Evolution einer Gesellschaft ohne Klassenherrschaft und Klassenausbeutung, die neben der politischen auch die ökonomische Bewegungsfreiheit des Individuums, natürlich innerhalb der Grenzen des ökonomischen Mittels, gewährleistet. Das war das Kredo des alten, vormanchesterlichen, sozialen Liberalismus, wie ihn Quesnay und namentlich Adam Smith verkündeten, und wie es in der Neuzeit von Henry George, Eugen Dühring und Theodor Hertzka aufgenommen wurde.

Diese Prognose läßt sich zwiefach begründen, geschichtsphilosophisch und volkswirtschaftlich, als Tendenz der Staats- und als Tendenz der Wirtschaftsentwicklung, die beide deutlich einem Punkte zustreben.

Die Tendenz der Staatsentwicklung enthüllte sich uns als ein steter, siegreicher Kampf des ökonomischen Mittels gegen das politische. Das Recht des ökonomischen Mittels, das Recht der Gleichheit und des Friedens, sahen wir im Anfang auf den winzigen Kreis der Blutverwandtschaftshorde beschränkt, eine Mitgift schon aus vormenschlichen Gesellschaftszuständen [12]; rings um dieses Friedenseiland tobte der Ozean des politischen Mittels und seines Rechtes. Aber weiter und weiter sahen wir die Kreise sich spannen, aus denen das Recht des Friedens seinen Widerpart verdrängt hat, und sahen sein Vordringen überall geknüpft an das Vordringen des ökonomischen Mittels, des als äquivalent betrachteten Tauschverkehrs der Gruppen untereinander. Zuerst vielleicht durch den Feuertausch, dann durch den Frauentausch und schließlich durch den Gütertausch dehnte sich das Gebiet des Friedensrechtes immer weiter; es schützte die Marktplätze, dann die zum Markt führenden Straßen, dann die auf den Straßen ziehenden Kaufleute. Wir haben ferner gesehen, wie der »Staat« diese Friedensorganisation in sich aufnimmt, sie fortbildet, und wie sie dann im Staat selbst das Gewaltrecht immer weiter zurückdrängt. Kaufmannsrecht wird Stadtrecht; die Gewerbsstadt, das entfaltete ökonomische Mittel, unterhöhlt durch seine Waren- und Geldwirtschaft den Feudalstaat, das entfaltete politische Mittel; und [S. 134] die städtische Bevölkerung vernichtet zuletzt im offenen Kampf die politischen Reste des Feudalstaates und erstreitet der gesamten Bevölkerung des Staates die Freiheit und das Recht der Gleichheit zurück. Stadtrecht wird Staatsrecht, zuletzt Völkerrecht.

Nun sehen wir nirgend eine Kraft, die dieser bisher dauernd wirksam gewesenen Tendenz jetzt noch hindernd in den Weg treten könnte. Im Gegenteil: die bisherigen Hemmungen des Prozesses werden augenscheinlich immer schwächer. Die Tauschbeziehungen der Nationen gewinnen international eine die kriegerisch-politischen Beziehungen immer mehr überwiegende Bedeutung; und durch den gleichen Prozeß ökonomischer Entwicklung überwiegt intranational das mobile Kapital, die Schöpfung des Friedensrechtes, immer mehr das Grundeigentum, die Schöpfung des Kriegsrechtes! Gleichzeitig verliert die Superstition immer mehr an Einfluß. Und so muß man schließen, daß die Tendenz sich bis zur vollen Ausscheidung des politischen Mittels und seiner Schöpfungen, bis zum vollen Siege des ökonomischen Mittels durchsetzen wird.

Aber, wird man einwerfen: dieser Sieg ist ja bereits errungen. Im modernen Verfassungsstaat sind ja alle erheblicheren Reste des alten Kriegsrechts ausgemerzt!

Nein, es besteht noch ein solcher Rest, aber ökonomisch maskiert, dem Anschein nach kein rechtliches Privileg, sondern ein ökonomisches Eigentum, das Großgrundeigentum, die erste Schöpfung und die letzte Zitadelle des politischen Mittels. Seine Maske hat es davor bewahrt, das Schicksal der übrigen feudalen Schöpfungen zu erleiden; und dieser letzte Rest des Kriegsrechtes ist zweifellos das letzte, einzige Hindernis auf dem Wege der Menschheit; und zweifellos ist die Wirtschaftsentwicklung jetzt im Begriff, ihn zu vernichten.

Ich habe diese Behauptung, deren Beweis an dieser Stelle mir der Raum nicht gestattet, in eigenen Werken als wahr erwiesen, auf die ich hinweisen muß [13]. Hier kann ich nur die Hauptsätze aneinanderreihen:

Die Verteilung des Gesamterzeugnisses des ökonomischen Mittels unter die einzelnen Klassen der Verfassungsstaaten, die [S. 135]»kapitalistische Verteilung«, unterscheidet sich grundsätzlich nicht von der feudalen Verteilung.

Die Ursache ist nach der übereinstimmenden Auffassung der sämtlichen bedeutenden volkswirtschaftlichen Schulen einzig darin zu suchen, daß das Angebot »freier« (d.h. nach Karl Marx politisch freier und zugleich wirtschaftlich kapitalloser) Arbeiter die Nachfrage dauernd übertrifft, d.h., daß das »Kapitalverhältnis« besteht. Es »laufen stets zwei Arbeiter einem Unternehmer nach, unterbieten sich«, und so bleibt der Kapitalistenklasse der »Mehrwert« übrig, während der Arbeiter nie dazu gelangt, selbst Kapital zu bilden und Unternehmer zu werden.

Woher stammt das Überangebot freier Arbeiter?

Die Erklärung der bürgerlichen Theorie, wonach dieses Überangebot durch Erzeugung zu vieler Proletarierkinder hervorgerufen wird, beruht logisch auf einem Fehlschluß und widerspricht allen bekannten Tatsachen [14].

Die Erklärung der proletarischen Theorie, wonach der kapitalistische Produktionsprozeß selbst die »freien Arbeiter« durch »Freisetzung« immer wieder in genügender Anzahl reproduziert, beruht logisch auf einem Fehlschluß und widerspricht allen bekannten Tatsachen [15].

Alle Tatsachen zeigen vielmehr, und die Deduktion kann es widerspruchsfrei ableiten, daß das Massenangebot »freier Arbeiter« vom Großgrundeigentum stammt: Ab- und Auswanderung sind die Ursachen der kapitalistischen Verteilung. Hier besteht ein echtes soziologisches Gesetz, das Theodor v. d. Goltz 1893, zwanzig Jahre nach dem Tode von John Stuart Mill, zehn Jahre nach dem Tode von Karl Marx, zuerst entdeckte und formulierte: »Mit dem Umfange des Großgrundeigentums parallel und mit dem Umfang des bäuerlichen Besitzes in umgekehrter Richtung geht die Wanderung.«

Nun geht zweifellos die Tendenz der Wirtschaftsentwicklung auf Ausstoßung des Großgrundeigentums. Es verblutet rettungslos an der rechtlichen Befreiung seiner Hintersassen, die ihm die städtische Entwicklung aufzwang. Die Freizügigkeit führte zur Landflucht; die [S. 136] Auswanderung schuf die »überseeische Konkurrenz« und den Sturz der Produktenpreise, die Abwanderung erzwingt dauernd steigende Löhne. So wird die Grundrente von beiden Seiten her verringert und muß allmählich auf Null sinken, da auch hier keine Gegenkraft erkennbar ist, die den Prozeß ablenken könnte [16]. So geht das Großgrundeigentum zugrunde [17]. Ist es aber verschwunden, dann gibt es kein Überangebot freier Arbeiter mehr, »zwei Unternehmer laufen einem Arbeiter nach und überbieten sich«, es bleibt kein »Mehrwert« für die Kapitalistenklasse übrig, der Arbeiter kann selbst Kapital bilden und selbst - im Wege der Genossenschaft - Unternehmer werden. Das politische Mittel ist in seiner letzten noch aufrechten Schöpfung vernichtet, das ökonomische Mittel herrscht allein. Der Inhalt dieser Gesellschaft ist die »reine Wirtschaft« [18] des äquivalenten Tausches von Gütern gegen Güter oder von Arbeitsleistungen gegen Güter - und die politische Form dieser Gesellschaft ist die »Freibürgerschaft«.

Diese theoretische Ableitung wird nun bestätigt durch die historische Erfahrung. Wo immer eine Gesellschaft existierte, in der kein Großgrundeigentum wachsende Rente zog, bestand die »reine Wirtschaft«, näherte sich die Form des Staates der »Freibürgerschaft«.

Solch ein Gemeinwesen war Deutschland fast vierhundert Jahre lang [19], von etwa dem Jahre 1000 nach Christi, wo das primitive Großgrundeigentum sich in die sozial harmlose Großgrundherrschaft umwandelte, bis etwa zum Jahre 1400, wo das durch das politische Mittel, den Raubkrieg, im Slawenlande neu erstandene Großgrundeigentum dem Bauern aus dem Stammlande das Siedelland sperrte [20]. Ein solches Gemeinwesen war - und ist noch fast unverändert -, der [S. 137] Mormonenstaat Utah, wo eine weise Bodengesetzgebung nur Klein- und Mittelbauern duldete [21]. Ein solches Gemeinwesen war Grafschaft und Stadt Vineland [22] in Jowa, U. S., so lange, wie jeder Siedler Land ohne Zuwachsrente erhalten konnte. Ein solches Gemeinwesen ist vor allem Neu-Seeland, dessen Regierung den Klein- und Mittelgrundbesitz mit allen Kräften fördert, während sie den - mangels freier Arbeiter übrigens so gut wie rentelosen - Großgrundbesitz mit allen Mitteln einengt und auflöst [23].

Überall hier ein erstaunlicher, erstaunlich gleichmäßig - nicht mechanisch gleich! - verteilter Wohlstand, aber kein Reichtum. Denn Wohlstand ist die Herrschaft über Genußgüter; Reichtum aber die Herrschaft über Menschen. Nirgend sind hier Produktionsmittel »Kapital«; sie hecken keinen Mehrwert: es gibt eben keine »freien« Arbeiter und kein »Kapitalverhältnis« [24]. Und die politische Form dieser Gemeinwesen steht überall, soweit es der Druck der noch nach dem Kriegsrecht organisierten Umwelt gestattet, der Freibürgerschaft sehr nahe und nähert sich ihr immer mehr. Der »Staat« verfällt oder kommt auf neuem Lande, wie in Utah oder Neu-Seeland, nur keimhaft zur Entwicklung, und die freie Selbstbestimmung freier Menschen, die kaum einen Klassenkampf kennen, setzt sich immer kräftiger durch. Im Deutschen Reiche z.B. ging dem politischen Aufstieg der Städtebünde und dem Verfall des Feudalstaates die Emanzipation der Gewerke, die damals noch die ganze »Plebs« der Städte umfaßten, und der Verfall des Patriziats der Geschlechter in gleichem Schritte parallel. Nur die Errichtung neuer primitiver Staaten an der Ostgrenze konnte diese segensreiche Entwicklung unterbrechen und ihre wirtschaftliche Blüte knicken. Wer an einen bewußten Zweck in der Geschichte glaubt, mag sagen: die Menschheit mußte erst noch durch eine neue Leidensschule gehen, ehe sie freigesprochen werden konnte. Das Mittelalter hatte das System der freien Arbeit entdeckt, [S. 138] aber noch nicht zu seiner vollen Leistungsfähigkeit entwickelt. Die neue Sklaverei des Kapitalismus mußte erst noch das unvergleichlich wirksamere System der kooperierenden Arbeit, die Arbeitsteilung in der Werkstatt, entdecken und ausgestalten, um den Menschen zum Herrn der Naturkräfte, zum König des Planeten, zu krönen. Antike und kapitalistische Sklaverei waren nötig: jetzt sind sie überflüssig geworden. Standen neben jedem freien Bürger Athens angeblich fünf menschliche Sklaven, so haben wir neben jeden Bürger unserer Gesellschaft schon das Vielfache von Sklaven gestellt, von Sklaven aus Stahl, die nicht leiden, wenn sie schaffen. Jetzt erst sind wir reif geworden für eine Kultur, die so hoch über der Kultur des periklëischen Zeitalters stehen wird, wie Volkszahl, Macht und Reichtum unserer Reiche über dem winzigen Kleinstaat Attika.

Athen mußte zugrunde gehen - an der Sklavenwirtschaft, am politischen Mittel. Von hier aus führte kein Weg in die Zukunft als der in den Völkertod. Unser Weg führt zum Leben!

Die geschichtsphilosophische Betrachtung, die die Tendenz der Staatsentwicklung, und die volkswirtschaftliche Betrachtung, die die Tendenz der Wirtschaftsentwicklung beobachtete, kommen demnach zu dem gleichen Ergebnis: das ökonomische Mittel siegt auf der ganzen Linie, das politische Mittel schwindet in seiner ältesten und lebenszähesten Schöpfung aus dem Gesellschaftsleben: mit dem Großgrundeigentum und der Grundrente verfällt der Kapitalismus.

Das ist der Leidens- und Erlösergang der Menschheit, ihr Golgatha und ihre Auferstehung zum ewigen Reich: vom Krieg zum Frieden, von der feindlichen Zersplitterung der Horden zur friedlichen Einheit der Menschheit, von der Tierheit zur Humanität, vom Raubstaat zur Freibürgerschaft.

Fußnoten
[1]
»Die größeren Heerlager der Rheinarmee erhielten teils durch die Handelsleute, die dem Heere sich anschlossen, teils und vor allem durch die Veteranen, die in ihren gewohnten Quartieren auch nach Entlassung verblieben, einen städtischen Anhang, eine von den eigentlichen Militärquartieren gesonderte Budenstadt (canabae); überall und namentlich in Germanien sind aus diesen bei den Legionslagern und besonders den Hauptquartieren mit der Zeit eigentliche Städte erwachsen.« (Mommsen, l. c. V, p. 153.)
[2]
»Zu den Verehrungsstätten kommen immer Priesterwohnungen, Schulen, Pilgerherbergen« (Ratzel, l. c. II, p. 575). Natürlich wird jeder große Wallfahrtsort Mittelpunkt eines starken Marktverkehrs. Nicht umsonst heißen unsere nordeuropäischen Großhandelsmärkte nach der religiösen Zeremonie »Messen«.
[3]
Eisenhart, Gesch. der Nationalökonomie, p. 9: »Mit Hilfe des neuen liquideren Soldmittels konnte nunmehr ein neuer abhängigerer Kriegs- und Beamtenstand aufgestellt werden. Seine terminweise Auszahlung gestattete demselben nicht ferner, sich von dem gemeinsamen Soldherrn unabhängig zu machen und selbst wider ihn zu kehren.«
[4]
Thurnwald, l. c., p. 773.
[5]
Thurnwald, l. c., p. 699.
[6]
Thurnwald, l. c., p. 709.
[7]
Die Anweisungen auf die Magazine kursierten als eine Art von Papiergeld.
[8]
Thurnwald, l. c., p. 711.
[9]
Im mittelalterlichen Deutschland zinst der Bauer oft außer an den Grund- und den Landesherrn noch an Obermärker und Vogt.
[10]
Vgl. dazu mein »Großgrundeigentum usw.«, II. Buch, 3. Kap.
[11]
»Tendenz, d.h. ein Gesetz, dessen absolute Durchführung durch gegenwirkende Umstände aufgehalten, verlangsamt, abgeschwächt wird.« (Marx, Kapital, III, 1, p. 215.)
[12]
Vgl. das treffliche Werk von Peter Kropotkin: »Gegenseitige Hilfe in der Entwicklung«, deutsch v. Gustav Landauer. Leipzig 1904.
[13]
Die Siedlungsgenossenschaft usw. Berlin 1896. Großgrundeigentum und soziale Frage. Berlin 1898.
[14]
Vgl. mein »Bevölkerungsgesetz des T. R. Malthus. Darstellung und Kritik«. Berlin-Bern 1901.
[15]
Vgl. mein »Grundgesetz der Marxschen Gesellschaftslehre. Darstellung und Kritik«. Berlin 1903.
[16]
Vgl. mein »Grundgesetz der Marxschen Gesellschaftslehre«. IV. Teil, namentlich im 12. Kapitel »Die Tendenz der kapitalistischen Entwicklung«, p. 128 ff.
[17]
Heute, wo ich die Korrektur der neuen Auflage von 1929 lese, ist diese, zuerst 1896 gedruckte Prophezeiung fast vollkommen verwirklicht. Das russische Großgrundeigentum ist völlig verschwunden, in Rumänien, Polen, Südslawien, der Tschechoslowakei ist es gewaltig zurückgeschnitten worden, in Deutschland ist die Krise eingetreten, die das verarmte Preußen dieses Mal nicht mehr beschwören könnte, selbst wenn es wollte.
[18]
Vgl. mein »Großgrundeigentum und soziale Frage«, Berlin 1898, I. Buch, 2. Kap., 3. Abschn.: Physiologie des sozialen Körpers, p. 57 ff.
[19]
Siehe mein »Großgrundeigentum«, II. Buch, 2. Kap., 3. Abschn., p. 322 ff.
[20]
Großgrundeigentum, II. Buch, 3. Kap., 4. Abschn., namentlich p. 423 ff.
[21]
Vgl. meinen Aufsatz »Die Utopie als Tatsache«. Zeitschrift f. Soz.-Wissensch. II (1899), p. 19O ff. Neu abgedruckt in der Sammlung meiner Reden und Aufsätze: »Wege zur Gemeinschaft«, Jena 1924.
[22]
Meine »Siedlungsgenossenschaft«, p. 477 ff.
[23]
Vgl. André Siegfried, »La démocratie en Nouvelle-Zélande«, Paris 1904.
[24]
Das sagt niemand anderes als Karl Marx selbst, und zwar im letzten (25.) Kapitel des ersten Bandes seines »Kapital«, dessen sorgfältiges Studium allen Marxisten, namentlich den Führern der russischen Sowjets, nicht dringend genug empfohlen werden kann.

ENDE


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