Der Staat

3. überarbeiteten Auflage von 1929,
Seitenzählung nach dem Neudruck, Libertad Verlag, Berlin 1990

Vorwort des Autors 7 Vorwort und
Einleitung
Einleitung 11
a) Die Staatstheorien 11
b) Die soziologische Staatsidee 14
I. Die Entstehung des Staates 18 1. Teil
a) Politisches und ökonomisches Mittel 19
b) Staatenlose Völker: Jäger und Hackbauern 21
c) Vorstaatliche Völker: Hirten und Wikinge 23
d) Die Entstehung des Staates 32
II. Der primitive Eroberungsstaat 46 2. Teil
a) Die Form der Herrschaft 46
b) Die Integration 48
c) Die Differenzierung: Gruppentheorien und Gruppenpsychologie 50
d) Der primitive Eroberungsstaat höherer Stufe 56
III. Der Seestaat 64 3. Teil
a) Der vorstaatliche Handel 64
b) Der Handel und der primitive Staat 71
c) Die Entstehung des Seestaates 74
d) Wesen und Ausgang des Seestaates 81
IV. Die Entfaltung des Feudalstaates 89 4. Teil
a) Die Entstehung des Großgrundeigentums 89
b) Die Zentralgewalt im primitiven Eroberungsstaat 92
c) Die politische und soziale Zersetzung des primitiven Eroberungsstaates 96
d) Die ethnische Verschmelzung 106
e) Der entfaltete Feudalstaat 110
V. Die Entfaltung des Verfassungsstaates 113 5. Teil
a) Die Emanzipation der Bauernschaft 114
b) Die Entstehung der Gewerbestadt 115
c) Die Einflüsse der Geldwirtschaft 118
d) Der moderne Verfassungsstaat 124
VI. Die Tendenzen der staatlichen Entwicklung 131

Vorwort

[S. 7] Dieses Büchlein erschien zuerst 1909 als erweiterte Fassung eines vorher in der »Neuen Rundschau« veröffentlichten Aufsatzes. Es hat seinen Weg ganz ordentlich gemacht, und nicht nur in Deutschland. Es ist in autorisierten Übersetzungen in englischer, französischer und serbischer Sprache erschienen; die in Amerika gedruckte englische Ausgabe von 1914 hat 1922 sogar ihre zweite Auflage erlebt. Ohne meine Autorisation ist das Buch ungarisch und meines Wissens ganz oder zum Teil auch japanisch, russisch, hebräisch und yiddisch erschienen. Nur der ungarische Verleger hat sich wenigstens dazu herbeigelassen, mir ein Belegexemplar zuzusenden.

Mit Ausnahme einer kleinen aber grundsätzlich bedeutsamen Änderung, in der meine völlig gewandelte Einstellung zu der sogenannten ökonomischen Geschichtsauffassung zum Ausdruck kam, ist auch die letzte deutsche Ausgabe von 1923 fast völlig unverändert geblieben. Ich habe auch später noch keine Veranlassung gefunden, an dem alten Text irgend etwas zu ändern, als ich ihn, zum großen Teile wörtlich, in mein »System der Soziologie«, vor allem in dessen zweiten Teil, den 1926 erschienenen »Staat«, hineinarbeitete. Meine Grundauffassung ist nicht nur unerschüttert, sondern hat anläßlich der letzten Tagung der deutschen soziologischen Gesellschaft im September dieses Jahres in Zürich durch die führenden Ethnologen Deutschlands eine fast völlig uneingeschränkte Bestätigung erfahren: mir ein neuer Beweis für die Leistungsfähigkeit der deduktiven Methode. Denn mein ethnologisches Gepäck war zu der Zeit, als ich 1898, in meinem Buche »Großgrundeigentum und soziale Frage«, den Grundgedanken zuerst aussprach, außerordentlich leicht; ich hatte, soviel ich mich erinnern kann, außer Julius Lippert's »Kulturgeschichte der Menschheit« überhaupt nichts von Ethnographie und Ethnologie kennen gelernt. Nicht einmal die Schriften von Ludwig Gumplowicz, dem ich mich später mit Entschiedenheit anschloß, waren mir damals bekannt, was mir der Altmeister, als ich mich ihm später näherte, einigermaßen verübelt hat. Ich war eben ein vollkommener Autodidakt auf dem ganzen großen Gebiete meiner späteren Arbeit!

[S. 8] Da, wie soeben gesagt, der größte Teil dieses kleinen in den großen »Staat« eingegangen ist, stellte sich mir jetzt, als die letzte Ausgabe zu Ende ging, sehr ernsthaft die Frage, ob ich das Buch überhaupt noch einmal in der alten Gestalt herausbringen sollte. Ich habe mich dazu entschlossen aus mehreren Gründen: weil die große Fassung in ihrem Umfang von 860 Seiten für das große Lesepublikum ein zu schweres Kaliber, und weil sie wenigstens für viele deutsche Leser von heute leider zu teuer ist. Ferner weil einzelne Teile des kleinen »Staat« nicht in den zweiten, sondern in den ersten Teil meines Systems, in die allgemeine Soziologie, eingegangen sind. Und schließlich aus demselben Grunde, aus dem ich auch fast alle meine älteren Arbeiten (mit einziger Ausnahme des als Lehrbuch verbreiteten dritten Teils des Systems der Soziologie: der »Theorie der reinen und politischen Ökonomie«, und des in seiner dritten Auflage völlig neu bearbeiteten Büchleins »Wert und Kapitalprofit«) in völlig unverändertem Text immer wieder habe erscheinen lassen: weil solche Leser, die sich an diese älteren und zum Teil durch meine späteren Arbeiten überholten Werke wenden, in der Regel den Originaltext besitzen wollen, um die Entwicklungslinie des Verfassers verfolgen zu können.

So erscheint denn auch jetzt wieder der alte Text fast völlig unverändert. Nur der erste Absatz des einleitenden Kapitels über die Staatstheorien ist im Anschluß an die große Ausgabe neu gestaltet worden.

Dem Leser, der den Wunsch hat, tiefer in den gewaltigen Gegenstand einzudringen, wird nichts anderes übrig bleiben, als sich in den großen »Staat« zu vertiefen. Er findet hier eine geistesgeschichtliche Darstellung der Theorien vom Staate vom griechischen Altertum an bis auf die neueste Zeit im Umfang von einem Vierteltausend Seiten; er findet ferner eine ausführliche Darstellung des Verlaufs der ungeheuren Volkskrankheit, die die Stadtstaaten der Antike verheerte, findet die genauere Darstellung der Staatsformen, die auf den entfalteten Feudalstaat folgen: Lehensstaat, Ständestaat, absoluter und moderner Verfassungsstaat; und findet schließlich eine viel weiter ins einzelne ausgeführte Schilderung der künftigen »klassenlosen Gesellschaft«, auf die, wenn ich recht sehe, die Tendenz der gesellschaftlichen Entwicklung hindrängt: alles Dinge, die in dieser Skizze gerade eben nur angedeutet werden konnten.

[S. 9] So mag denn das kleine Buch noch einmal hinausgehen und versuchen, ob es sich und seinem Verfasser neue Freunde zu den vielen alten erwerben kann.

Frankfurt am Main, den 1. November 1928.

Franz Oppenheimer.

Einleitung

a) Die Staatstheorien

[S. 11] Diese Abhandlung spricht lediglich von dem geschichtlichen Staat. Nicht von den Tierstaaten, die der Zoologie und Tierpsychologie zufallen, und ebensowenig von den sogenannten »Staaten« der prähistorischen Zeit, von denen Vorgeschichte und Ethnologie zu handeln haben. Von dieser »Stammesorganisation« sagt Wilhelm Wundt: »Sie ist nicht im Geringsten eine unvollkommene, noch unausgebildete Staatsordnung, sondern ganz etwas anderes«[1]. Diese Abhandlung spricht ferner nicht von »den« Staaten: die sind der Gegenstand der Historik, sondern von »dem« Staate: sie will ihn als allgemeine gesellschaftliche Erscheinung in seiner Entstehung und seiner Entfaltung bis zum neuzeitlichen Verfassungsstaat verfolgen; und will versuchen, darüber hinaus eine begründete Voraussage seiner künftigen Entwicklung zu gewinnen. Das heißt: sie betrachtet den Staat vom Standpunkt des Soziologen. Nicht von dem des Philosophen: denn der interessiert sich nur für den Staat, wie er sein soll. Aber der Staat, wie er war und ist, der geschichtliche Staat, sagt z. B. Fichte, »geht den Erleuchteten gar nichts an«. Auch nicht vom Standpunkt des Juristen: denn ihn interessiert nur die äußere Form, während der Soziologe den Inhalt, das Leben der Staatsgesellschaft verstehen will.

Aus diesem Grunde scheiden alle Staatsrechtslehren aus unserer Betrachtung von vornherein aus. Aber nicht minder zeigt eine schnelle Übersicht der eigentlichen Staatstheorien, daß wir von ihnen über Entstehung, Wesen und Zweck des Staates keine Aufklärung erwarten dürfen. Sie stellen alle Schattierungen dar zwischen den äußersten denkbaren Extremen. Wenn Rousseau den Staat aus einem Gesellschaftsvertrage, Carey aber aus einer Räuberbande entstehen läßt; wenn Platon und die Marxisten dem Staate die Omnipotenz zuschreiben, ihn zum absoluten Herrn des Bürgers in allen politischen und wirtschaftlichen, Platon sogar in den geschlechtlichen Beziehungen erheben will, während der Liberalismus ihn zur Impotenz des [S. 12] »Nachtwächterstaates« verdammt, und der Anarchismus ihn gar gänzlich ausrotten will - dann ist ein Versuch, auf der mittleren Linie zwischen solchen sich ausschließenden Lehren zu einer zureichenden Auffassung des Staates zu gelangen, aussichtslos.

Dieser unversöhnliche Zwiespalt der Theorien vom Staate erklärt sich daraus, daß keine von ihnen vom soziologischen Gesichtspunkte aus entstanden ist. Der Staat ist ein universalgeschichtliches Objekt und kann nur durch breit spannende universalgeschichtliche Betrachtung in seinem Wesen erkannt werden. Wir müssen fragen, welche Eigenschaften zu dem Begriff des Staates als solchem wesentlich gehören, und können die Antwort auf diese Frage nur finden, wenn wir womöglich alle Staaten der Vergangenheit und Gegenwart daraufhin betrachten, welche Eigenschaften sie sämtlich besitzen. Da es große und kleine, straff zentralisierte und locker koordinierte, monarchische, aristokratische, plutokratische und demokratische Staaten gibt; da ihre Einwohner allen Rassen und Farben angehören, nieder und hoch zivilisiert sind, vorwiegend von Agrikultur oder von Gewerben oder vom Handel leben: so ist es klar, daß das Wesen des Staates weder in seiner Ausdehnung, noch in dem Grade seiner Zwangsmacht über sein Gebiet und seine Bewohner, noch in seiner Verfassung, noch in seiner Kulturstufe und Technik beruhen kann.

Ältere staatsphilosophische Systeme haben den Versuch einer solchen umfassenden Abstraktion gemacht und sind zu dem noch heute vielfach gelehrten Ergebnis gelangt, daß das Wesen des Staates das einer Schutzanstalt sei: der Grenzschutz nach außen, der Rechtsschutz nach innen sei seine ratio fiendi et essendi. So sagt Grotius: »Der Staat ist eine vollkommene Verbindung freier Menschen, welche sich des Rechtsschutzes und des Nutzens wegen zusammengetan haben.«

Und in der Tat hat die Anschauung einen richtigen Kern: aber sie ist nicht vollständig. Sie hat einen wichtigen, allen Staaten gemeinsamen Charakterzug übersehen: jeder Staat der Vergangenheit und Geschichte, dem dieser Name unbestritten zukommt, jeder Staat vor allem, der in seiner Entwicklung zu höheren Stufen der Macht, der Größe und des Reichtums weltgeschichtlich bedeutsam geworden ist, war oder ist ein Klassenstaat, d. h. eine Hierarchie von einander über- und untergeordneten Schichten oder Klassen mit verschiedenem Recht und verschiedenem Einkommen.

Unsere Erörterung wird zeigen, daß dieser Zug der wichtigste, [S. 13] der entscheidende, der primäre Charakter des Staates ist, aus dem allein seine Entstehung und sein Wesen erkannt werden kann; sie wird es nämlich klar machen, daß die Schutzfunktion des Staates nach innen und außen verstanden werden muß als sekundäre, von der Oberklasse im Interesse ihrer Herrschafts- und Einkunftsrechte übernommene Pflicht. Der Staat entsteht nicht im Interesse der Schutzfunktion, sondern es entsteht umgekehrt die Schutzfunktion im Interesse des schon bestehenden Staates.

Damit haben wir bereits die Erklärung für die auffällige Tatsache erhalten, daß die bisherigen Staatstheorien so sehr von einander verschieden sind. Sie sind sämtlich Klassentheorien! Eine solche aber ist nicht Ergebnis des forschenden Verstandes, sondern des begehrenden Willens; sie braucht Argumente nicht zur Ergründung der Wahrheit, sondern als Waffen im Kampfe um materielle Interessen; sie ist nicht Wissenschaft, sondern Mimicry der Wissenschaft. Und darum können wir wohl aus dem Verständnis des Staates das Wesen der Staatstheorien, aber nimmermehr aus dem Verständnis der Staatstheorien das Wesen des Staates erkennen.

Stellen wir also zunächst in einer kurzen Übersicht der Klassentheorien vom Staat fest, was der Staat alles nicht ist:

Der Staat ist nicht aus dem »Bedürfnis des Zusammenschlusses« entstanden, wie Platon meint; er ist kein »Gebilde der Natur«, wie ihm Aristoteles erwidert; und hat in specie nicht, wie Ancillon erklärt, »denselben Ursprung, den die Sprachen haben«. Es ist durchaus unrichtig wenn er annimmt, daß, »wie die Sprachen aus dem Bedürfnis und aus der Fähigkeit des Menschen, seine Gedanken und Gefühle mitzuteilen, sich von selbst erzeugt und gebildet haben, so auch sich die Staaten aus dem Bedürfnis und aus dem Trieb der Geselligkeit entwickelt haben«; der Staat ist auch nicht »un droit gouvernement de plusieurs ménages et de ce qui leur est commun avec puissance souveraine« (Bodin); der Staat ist auch nicht entstanden, um dem »bellum omnium contra omnes« ein Ende zu machen, wie Hobbes und nach ihm viele andere meinten; der Staat ist ebensowenig das Ergebnis eines »contrat social«, wie schon lange vor Rousseau Grotius, Spinoza und Locke glauben machen wollten; der Staat ist vielleicht »das Mittel für den höheren Zweck der ewig gleichmäßig fortgehenden Ausbildung des rein Menschlichen in einer Nation«, wie Fichte behauptete; aber sicherlich hat der Staat nicht [S. 14] diesen Zweck; ist nicht zu diesem Zweck entstanden und wird nicht zu diesem Zweck erhalten; der Staat ist auch nicht »das Absolute«, wie Schelling, und ebensowenig »die Wirklichkeit der sittlichen Idee, der sittliche Geist als der offenbare, sich selbst deutliche, substantielle Willen, der sich denkt und weiß und das, was er weiß, vollführt«, wie Hegel ebenso schön, wie klar behauptet. Wir können auch Stahl nicht beistimmen, wenn er den Staat das »sittliche Reich menschlicher Gemeinschaft« und, »tiefer betrachtet, eine göttliche Institution« nennt. Und ebensowenig Marcus Tullius Cicero, wenn er fragt: »quid est enim civitas nisi juris societas?« Und noch weniger seinem Nachfolger von Savigny, wenn er in der »Staatsentstehung eine Art der Rechtserzeugung, die höchste Stufe der Rechtserzeugung überhaupt« erblickt und den Staat selbst als »die leibliche Erscheinung des Volkes« definiert. Ähnlich erklärt Bluntschli den Staat für eine »Volksperson« und leitet damit die Reihe jener Theoretiker ein, die den Staat, oder die Gesellschaft, oder eine irgendwie beschaffene Mischung beider für einen »Überorganismus« erklären, eine Auffassung, die ebensowenig haltbar ist, wie die Behauptung von Sir Henry Maine, daß der Staat durch die Zwischenglieder: Geschlecht, Haus und Stamm, aus der Familie sich entwickelt habe. Der Staat ist auch keine »Verbandseinheit«, wie der Jurist Jellinek annimmt. Der alte Böhmer kam der Wahrheit recht nahe, wenn er aussprach, daß »denique regnorum praecipuorum ortus et incrementa perlustrans virn et latrocinia potentiae initia fuisse apparebit«; und dennoch ist Carey auf dem Holzwege, wenn er den Staat als von einer Räuberbande gegründet betrachtet, die sich zu Herren ihrer Volksgenossen aufgeschwungen hat. In manchen dieser Erklärungen steckt ein größeres oder kleineres Teilchen Wahrheit, aber erschöpfend ist keine, und die meisten sind ganz falsch.

b) Die soziologische Staatsidee

Was ist also der Staat im soziologischen Begriffe? Schon die Geschichte des Wortes sagt es uns. Es stammt aus dem Italienischen der Renaissanceperiode. Dort bezeichnete es den, zumeist durch Gewalt zur Herrschaft gelangten, Fürsten samt seinem Anhang: »Die [S. 15] Herrschenden und ihr Anhang heißen lo stato, und dieser Name durfte dann die Bedeutung des gesamten Daseins eines Territoriums usurpieren«, sagt Jakob Burckhardt. So hatte Ludwig XIV. mit seinem hochfahrenden Wort: »L'Etat c'est moi« in einem tieferen Sinne recht, als er selbst ahnte. In unserem Worte »Hofstaat« lebt die alte Bedeutung noch fort.

Das ist »das Gesetz, nach dem er angetreten«, und das ist der Staat geblieben. Er ist seiner Entstehung nach ganz und seinem Wesen nach auf seinen ersten Daseinsstufen fast ganz eine gesellschaftliche Einrichtung, die von einer siegreichen Menschengruppe einer besiegten Menschengruppe aufgezwungen wurde mit dem einzigen Zwecke, die Herrschaft der ersten über die letzte zu regeln und gegen innere Aufstände und äußere Angriffe zu sichern. Und die Herrschaft hatte keinerlei andere Endabsicht als die ökonomische Ausbeutung der Besiegten durch die Sieger.

Kein primitiver »Staat« der Weltgeschichte ist anders entstanden [2]; wo eine vertrauenswerte Überlieferung anders berichtet, handelt es sich lediglich um Verschmelzung zweier bereits vollentwickelter primitiver Staaten zu einem Wesen verwickelterer Organisation; oder es handelt sich allenfalls um eine menschliche Variante der Fabel von den Schafen, die sich den Bären zum Könige setzten, damit er sie vor dem Wolfe schütze; aber auch in diesem Falle wurden Form und Inhalt des Staates völlig dieselben wie in den »Wolfsstaaten« reiner, unmittelbarer Bildung.

Schon das bißchen Geschichtsunterricht, das unserer Jugend zuteil wurde, reicht hin, um diese generelle Behauptung zu erweisen. Überall bricht ein kriegerischer Wildstamm über die Grenzen eines weniger kriegerischen Volkes, setzt sich als Adel fest und gründet seinen Staat. Im Zweistromlande Welle auf Welle und Staat auf Staat: Babylonier, Amoriter, Assyrer, Araber, Meder, Perser, Makedonier, Parther, Mongolen, Seldschucken, Tataren, Türken; am Nil Hyksos, Nubier, Perser, Griechen, Römer, Araber, Türken; in Hellas [S. 16] die Dorierstaaten, typischen Gepräges; in Italien Römer, Ostgoten, Langobarden, Franken, Normannen, Deutsche; in Spanien Karthager, Römer, Westgoten, Araber; in Gallien Römer, Franken, Burgunder; in Britannien Sachsen, Normannen. Welle auf Welle kriegerischer Wildstämme auch über Indien bis hinab nach Insulindien, auch über China ergossen; und in den europäischen Kolonien überall der gleiche Typus, wo nur ein seßhaftes Bevölkerungselement vorgefunden wurde: in Südamerika, in Mexiko. Wo es aber fehlt, wo nur schweifende Jäger angetroffen werden, die man wohl vernichten, aber nicht unterwerfen kann, da hilft man sich, indem man die auszubeutende, fronpflichtige Menschenmasse von fern her importiert: Sklavenhandel!

Eine scheinbare Ausnahme bilden nur diejenigen europäischen Kolonien, in denen es nicht mehr erlaubt ist, durch Import von Sklaven den Mangel einer seßhaften Urbevölkerung zu ersetzen. Eine dieser Kolonien, die United States, ist eins der gewaltigsten Staatengebilde der Weltgeschichte. Hier erklärt sich die Ausnahme so, daß sich die auszubeutende, fronpflichtige Menschenmasse selbst importiert durch eine massenhafte Auswanderung aus solchen primitiven Staaten oder ihren höheren Entwicklungsstufen, in denen die Ausbeutung einen allzu krassen Grad erreicht hat, während die Freizügigkeit bereits erreicht ist. Hier liegt also sozusagen eine Ferninfektion mit »Staatlichkeit« von auswärtigen Seuchenherden vor. Wo aber in solchen Kolonien die Einwanderung, sei es durch die, hohe Übersiedlungskosten bedingende, übergroße Entfernung, sei es durch Einwanderungsbeschränkungen, sehr gering ist, da haben wir bereits eine Annäherung an dasjenige Endziel der Staatsentwicklung, das wir schon heute als notwendig kommend erkennen können, an einen Endzustand, für den uns aber noch der wissenschaftliche Terminus fehlt. Hier ist einmal wieder in der Dialektik der Entwicklung eine Änderung der Quantität in eine Änderung der Qualität umgeschlagen: die alte Form hat sich mit neuem Inhalt gefüllt. Wir haben noch einen »Staat«, insofern er straffe, durch äußere Machtmittel gesicherte Regelung des sozialen Zusammenlebens einer großen Menschenmasse darstellt: aber er ist nicht mehr »Staat« im alten Sinne, ist nicht mehr Instrument der politischen Beherrschung und wirtschaftlichen Ausbeutung einer sozialen Gruppe durch die andere, ist nicht mehr »Klassenstaat«, sondern ein Zustand, der ausschaut, als wäre er [S. 17] wirklich durch einen »Contrat social« vereinbart worden. Diesem Stadium sehr nahe stehen die australischen Kolonien; und fast erreicht ist er in Neu-Seeland.

So lange nicht ein communis consensus über Ursprung und Wesen der historischen Staaten oder, was dasselbe ist, des »Staates« im soziologischen Sinne erzielt ist, wird es vergebens sein, für diese vorgeschrittensten Gemeinwesen einen neuen Namen durchsetzen zu wollen. Man wird sie trotz aller Proteste nach wie vor »Staaten« nennen, schon der ersprießlichen Verwirrung der Begriffe zuliebe. Bezeichnen wir sie in dieser Betrachtung, um für einen neuen Begriff einen Handgriff zu haben, als »Freibürgerschaften«.

Die summarische Übersicht über die Staaten der Vergangenheit und Gegenwart müßte, wenn Raum wäre, noch ergänzt werden durch Prüfung der Tatsachen, die uns die Völkerkunde über diejenigen Staaten darbietet, die nicht in den Gesichtskreis unserer mit Unrecht so genannten »Weltgeschichte« fallen. Hier mag nur versichert werden, daß auch hier unsere allgemeine Regel keine Ausnahme duldet. Auch im malaiischen Archipel, auch in dem »großen soziologischen Laboratorium Afrika«, kurz überall auf diesem Planeten, wo die Entwicklung der Stämme überhaupt eine höhere Form bereits erreicht hat, ist der »Staat« entstanden durch Unterwerfung einer Menschengruppe durch eine andere, und war und ist seine raison d'être, sein »zureichender Grund«, die ökonomische Ausbeutung der Unterworfenen.

Uns mag aber in dieser Betrachtung die flüchtige Überschau, die wir soeben gemacht haben, nicht nur als Beweis des grundlegenden Satzes dienen, den wir, um den Bahnbrecher zu nennen, vor allem Ludwig Gumplowicz, dem Grazer Staatsrechtler und Soziologen, zu danken haben, sondern sie mag uns auch sofort in kurzem Blitzlichte den Weg erleuchten, den der »Staat« im Leidensgange der Menschheit zurückgelegt hat, und auf dem wir ihm jetzt folgen werden: vom primitiven Eroberungsstaat durch tausend Übergänge zur Freibürgerschaft.

Fußnoten
[1]
Wilh. Wundt, Elemente der Völkerpsychologie. Leipzig 1912. p. 301.
[2]
»Die Geschichte vermag uns kein Volk aufzuzeigen, bei dem die ersten Spuren der Teilung der Arbeit und des Ackerbaues nicht auch mit solchen wirtschaftlicher Ausbeutung zusammenfielen, bei dem nicht die Last der Arbeit den einen, und deren Frucht den anderen zugefallen wäre, bei dem, mit anderen Worten, die Teilung der Arbeit sich nicht in der Form der Unterwerfung der einen unter die andern gebildet hätte.« (Rodbertus-Jagetzow, Beleucht. der soz. Frage. 2. Aufl. Berlin 1890. p. 124.)

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