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II. Der primitive Eroberungsstaat

a) Die Form der Herrschaft

[S. 46] Seine Form ist die Herrschaft. Die Herrschaft einer kleinen, kriegsfrohen, enggeschlossenen und -versippten Minderheit über ein fest begrenztes Landgebiet und seine Bebauer. Diese Herrschaft wird ausgeübt nach den Vorschriften eines durch Gewohnheit gewordenen Rechtes, das die Vorrechte und Ansprüche der Herren und die Gehorsamspflicht und Leistung der Untertanen regelt und zwar so regelt, daß die Prästationsfähigkeit der Bauern - das Wort stammt noch aus der friderizianischen Zeit! - nicht leidet. Durch Gewohnheitsrecht festgelegtes »Imkertum« also! Der Leistungspflicht der Bauern entspricht die Schutzpflicht der Herren, die sich auf Übergriffe der eigenen Klassengenossen ebenso erstreckt, wie auf Angriffe auswärtiger Feinde. Das ist der eine Teil des Staatsinhaltes; der andere, im Anfang ungleich wichtigere und größere, ist die ökonomische Ausbeutung, das politische Mittel der Bedürfnisbefriedigung. Der Bauer gibt einen Teil seines Arbeitserzeugnisses hin, ohne äquivalente Gegenleistung. »Im Anfang war die Grundrente!«

Die Formen, in denen sich der Grundrentenbezug und -verzehr vollzieht, sind sehr verschieden. Bald sitzt die Herrengenossenschaft als geschlossener Verband in einem festen Lager und verzehrt kommunistisch den Tribut der Bauernschaften: so im Inkastaate. Bald ist schon jedem einzelnen Kriegsedeling ein bestimmtes Landlos zugewiesen; aber er verzehrt dessen Ertrag doch noch vorwiegend in der Syssitie mit seinen Klassengenossen und Waffengefährten: so in Sparta. Bald ist der Grundadel über das ganze Gebiet zerstreut, haust einzeln mit seinen Gefolgen auf seinen festen Burgen und verzehrt individualistisch den Ertrag seiner Herrschaft. Aber noch ist er kein »Wirt«; er empfängt nur den Tribut von der Arbeit seiner Hörigen, die er weder leitet noch auch nur beaufsichtigt. Das ist der Typus der mittelalterlichen Grundherrschaft in den Ländern germanischen Adels. Und schließlich wird der Ritter zum Rittergutsbesitzer, die hörigen Bauern verwandeln sich in Arbeiter seines Großbetriebes, und der Tribut erscheint jetzt als Unternehmergewinn: das ist der Typus des ersten kapitalistischen Betriebs der Neuzeit, des Großgutsbetriebs [S. 47] im ehemals slawischen Kolonisationsgebiete. Zahlreiche Übergänge führen von einer Stufe zur anderen.

Aber im Kerne überall derselbe »Staat«. Sein Zweck überall das politische Mittel der Bedürfnisbefriedigung: Aneignung zunächst der Grundrente, solange noch keine Gewerbsarbeit besteht, die angeeignet werden könnte. Seine Form überall die Herrschaft: die Ausbeutung als »Recht«, als »Verfassung« auferlegt und streng, wenn nötig grausam, aufrecht erhalten und durchgesetzt: aber doch das absolute Eroberer-Recht im Interesse des dauernden Grundrentenbezuges ebenfalls rechtlich eingeengt. Die Leistungspflicht der Untertanen ist begrenzt durch ihr Recht auf Erhaltung bei der Leistungsfähigkeit; das Steuerrecht der Herren ist ergänzt durch ihre Schutzpflicht nach innen und außen - Rechtsschutz und Grenzschutz.

Damit ist der primitive Staat reif, in seinen sämtlichen wesentlichen Elementen voll ausgebildet. Der embryonale Zustand ist überwunden; was noch folgt, sind lediglich Wachstumserscheinungen.

Er stellt gegenüber den Familienverbänden zweifellos eine höhere Art vor; der Staat umschließt eine größere Menschenmenge in strafferer Gliederung, fähiger zur Bewältigung der Natur und Abwehr der Feinde. Er wandelt die halb spielende Beschäftigung in strenge methodische Arbeit und bringt dadurch zwar unendliches Elend über eine unabsehbare Reihe kommender Geschlechter, die nun erst im Schweiße ihres Antlitzes ihr Brot essen müssen, seit auf das goldene Zeitalter der freien Blutsgemeinschaft das eiserne des Staates und der Herrschaft folgte: aber er stellt auch eben durch die Erfindung der Arbeit im eigentlichen Sinne die Kraft in die Welt, die allein das goldene Zeitalter auf viel höherer Stufe der Gesittung und des Glückes Aller wieder herbeiführen kann. Er zerstört, um mit Schiller zu sprechen, das naive Glück der Kinder-Völker, um sie auf schwerem Leidenswege zum »sentimentalischen«, zum bewußten Glück der Reife emporzuführen.

Eine höhere Art! Schon Paul v. Lilienfeld, einer der Hauptverfechter der Anschauung, daß die Gesellschaft ein Organismus höherer Art ist, hat darauf hingewiesen, daß hier eine besonders schlagende Parallele zwischen dem eigentlichen und uneigentlichen Organismus gegeben ist. Alle höheren Wesen pflanzen sich geschlechtlich fort, die niederen ungeschlechtlich, durch Teilung, Knospung, allenfalls Kopulation. Nun, und der einfachen Teilung [S. 48] entspricht genau das Wachstum und die Fortpflanzung der vorstaatlichen Blutsgenossenschaft; sie wächst, bis sie für den Zusammenhalt zu groß wird, schnürt sich ab, teilt sich, und die einzelnen Horden bleiben allenfalls in einem sehr losen Zusammenhang, ohne irgendwie straffere Gliederung. Der Kopulation ist die Verschmelzung exogamischer Gruppen vergleichbar.

Der Staat aber entsteht durch geschlechtliche Fortpflanzung. Alle zwiegeschlechtliche Fortpflanzung vollzieht sich so, daß das männliche Prinzip, eine kleine, sehr aktive, bewegliche Schwärmzelle (das Spermatozoid) eine große, träge, der Eigenbewegung entbehrende Zelle (das Ovulum), das weibliche Prinzip, aufsucht, in sie eindringt und mit ihr verschmilzt, worauf ein Prozeß gewaltigen Wachstums, d.h. wundervoller Differenzierung mit gleichzeitiger Integrierung, sich vollzieht. Die träge, schollengefesselte Bauernschaft ist das Eichen, der bewegliche Hirtenstamm das Spermatozoid dieses soziologischen Befruchtungsaktes, und sein Ergebnis ist die Reifung eines höheren, in seinen Organen viel reicher gegliederten und viel kräftiger zusammengefaßten (integrierten) sozialen Organismus. Wer weitere Parallelen sucht, kann sie leicht finden. Die Art, wie unzählige Spermatozoide das Ovulum umschwärmen, bis endlich eines, das stärkste oder glücklichste, die Mikropyle entdeckt und erobert, ist den Grenzfehden, die der Staatsbildung vorangehen, wohl vergleichbar, und ebenso die fast magische Anziehungskraft, die das Ovulum auf die Schwärmzellen ausübt, dem Zuge der Steppensöhne in die Ebenen.

»Als welches« übrigens für den »Organizismus« immer noch kein Beweis ist! Aber dies Problem kann hier nur angedeutet werden.

b) Die Integration

Wir verfolgten die Entstehung des Staates vom zweiten Stadium an in seinem objektiven Wachstum als politisch-rechtliche Form und ökonomischer Inhalt. Wichtiger aber - denn alle Soziologie ist fast durchaus Sozialpsychologie - ist sein subjektives Wachstum, seine sozialpsychologische »Differenzierung und Integrierung«.

[S. 49] Sprechen wir zuerst von der Integrierung!

Das Netz seelischer Beziehungen, das wir bereits im zweiten Stadium sich knüpfen sahen, wird immer dichter und enger in dem Maße, wie die materielle Verschmelzung, die wir schilderten, vorwärtsschreitet. Die beiden Dialekte werden zu einer Sprache, oder die eine der beiden, oft ganz stammverschiedenen, Sprachen verschwindet, zuweilen die der Sieger (Langobarden), häufiger die der Besiegten. Die beiden Kulte verschmelzen zu einer Religion, in der der Stammgott der Sieger als Hauptgott angebetet wird, während die alten Götter bald zu seinen Dienern, bald zu seinen Gegnern: Dämonen oder Teufeln werden. Der äußerliche Typus gleicht sich aneinander an unter den Einflüssen gleichen Klimas und ähnlicher Lebenshaltung; wo eine starke Verschiedenheit der Typen bestand und sich erhält, [1] füllen wenigstens die Bastarde die Kluft einigermaßen aus, und der Typus der Feinde jenseits der Grenzen wird allmählich von allen stärker als ethnischer Gegensatz, als »fremd« empfunden, als der noch bestehende Gegensatz der nunmehr vereinten Typen. Immer mehr lernen sich Herren und Knechte als »ihresgleichen« ansehen, wenigstens im Verhältnis zu den Fremden draußen. Zuletzt verschwindet die Erinnerung an die verschiedene Abstammung oft gänzlich; die Eroberer gelten als Söhne der alten Götter - sind es ja oft auch buchstäblich, da diese Götter zuweilen nichts anderes sind als die durch Apotheose vergotteten Seelen der Ahnen. Je schärfer sich im Zusammenprall der benachbarten »Staaten«, die ja viel aggressiver sind als vorher die benachbarten Blutsgemeinschaften, das Gefühl der Absonderung aller Insassen des staatlichen Friedenskreises von den auswärtigen Fremden ausprägt, um so stärker wird im Inneren das Gefühl der Zusammengehörigkeit; und um so mehr faßt der Geist der Brüderlichkeit, der Billigkeit hier Wurzel, der früher nur innerhalb der Horden herrschte und jetzt noch immer innerhalb [S. 50] der Adelsgenossenschaft herrscht. Das sind natürlich von oben nach unten ganz schwache Fäden; Billigkeit und Brüderlichkeit erhalten nur so viel Raum, wie das Recht auf das politische Mittel es erlaubt: aber so viel Raum erhalten sie! Und vor allem ist es der Rechtsschutz nach innen, der ein noch stärkeres Band seelischer Gemeinschaft webt als der Waffenschutz nach außen. Justitia fundamentum regnorum! Wenn die Junkerschaft als soziale Gruppe »von Rechts wegen« einen junkerlichen Totschläger oder Räuber hinrichtet, der die Grenze des Rechtes der Ausbeutung überschritt, dann dankt und jubelt der Untertan noch herzlicher als nach einer gewonnenen Schlacht.

Das sind die Hauptlinien in der Entwicklung der psychischen Integration. Die Gemeininteressen an Rechtsordnung und Frieden erzeugen eine starke Gemeinempfindung, ein »Staatsbewußtsein«, wie man es nennen kann.

c) Die Differenzierung (Gruppentheorien und Gruppenpsychologie)

Auf der anderen Seite vollzieht sich pari passu, wie in allem organischen Wachstum, eine ebenso kräftige psychische Differenzierung. Die Gruppeninteressen erzeugen starke Gruppenempfindungen; Ober- und Unterschicht entwickeln ihren Sonderinteressen entsprechend je ein »Gruppenbewußtsein«.

Das Sonderinteresse der Herrengruppe besteht darin, das geltende von ihr auferlegte Recht des politischen Mittels aufrechtzuerhalten; sie ist »konservativ«. Das Interesse der beherrschten Gruppe geht im Gegenteil dahin, dieses Recht aufzuheben und durch ein neues Recht der Gleichheit aller Insassen des Staates zu ersetzen: sie ist »liberal« und revolutionär.

Hier steckt die tiefste Wurzel aller Klassen- und Parteienpsychologie. Und schon hier bilden sich nach strengen Seelengesetzen sofort jene unvergleichlich mächtigen Gedankenreihen aus, die noch Jahrtausende hindurch als »Klassentheorien« im Bewußtsein der Zeitgenossen die Gesellschaftskämpfe leiten und rechtfertigen werden.

[S. 51] »Wo der Wille spricht, hat der Verstand zu schweigen«, sagt Schopenhauer, und Ludwig Gumplowicz meint fast dasselbe, wenn er sagt: »Naturgesetzlich handelt der Mensch, und menschlich denkt er hinterdrein«. Der Einzelmenseh muß, streng determiniert, wie sein Wille ist, so handeln, wie seine Umwelt es gebietet; und das gleiche gilt für jede Menschengemeinschaft, für Gruppen, Klassen und Staat. Sie »strömen vom Orte höheren ökonomischen und sozialen Druckes zum Orte geringeren Druckes auf der Linie des geringsten Widerstandes«. Da aber Einzelmensch und Menschengemeinschaft sich freihandelnd glauben, so zwingt sie ein unentrinnbares psychisches Gesetz, den Weg, den sie zurücklegen, als frei gewähltes Mittel, und den Punkt, auf den sie zutreiben, als frei gewähltes Ziel anzuschauen. Und weil der Mensch ein vernünftiges und sittliches, d.h. soziales Wesen ist, darum steht er unter dem Zwange, Mittel und Ziel seiner Bewegung vor Vernunft und Sittlichkeit, d.h. dem Sozialbewußtsein, zu rechtfertigen.

Solange die Beziehungen der beiden Gruppen lediglich die internationalen zweier Grenzfeinde waren, bedurfte das politische Mittel keiner Rechtfertigung. Denn der Blutsfremde hat keinerlei Recht. Sobald aber die psychische Integration das Gemeingefühl des Staatsbewußtseins einigermaßen ausgebildet hat, sobald der hörige Knecht ein »Recht« erworben hat, und in dem Maße, wie das Bewußtsein des Gleichseins sich vertieft, bedarf das politische Mittel der Rechtfertigung, und in der Herrengruppe entsteht die Gruppentheorie des »Legitimismus«.

Der Legitimismus rechtfertigt Herrschaft und Ausbeutung überall mit den gleichen anthropologischen und theologischen Gründen. Die Herrengruppe, die ja Mut und Kriegstüchtigkeit als die einzigen Tugenden des Mannes anerkennt, erklärt sich selbst, die Sieger - und von ihrem Standpunkte aus ganz mit Recht - als die tüchtigere, bessere »Rasse«, eine Anschauung, die sich verstärkt, je mehr die unterworfene Rasse bei harter Arbeit und schmaler Kost herabkommt. Und da der Stammesgott der Herrengruppe in der neuen, durch Verschmelzung entstandenen Staatsreligion zum Obergott geworden ist, so erklärt sie - wieder von ihrem Standpunkte ganz mit Recht - die Staatsordnung für gottgewollt, für »tabu«. Durch einfache logische Umkehrung erscheint ihr auf der anderen Seite die unterworfene Gruppe als solche schlechterer Rasse, als störrisch, tückisch, träg und [S. 52] feig und ganz und gar unfähig, sich selbst zu regieren und zu verteidigen; und jede Auflehnung gegen die Herrschaft muß ihr notwendig als Empörung gegen Gott selbst und sein Sittengesetz erscheinen. Darum steht die Herrengruppe überall in engster Verbindung mit der Priesterschaft, die sich, wenigstens in allen leitenden Stellungen, fast immer aus ihren Söhnen ergänzt und an ihren politischen Rechten und ökonomischen Privilegien ihren Anteil hat.

Das war und ist noch heute die Klassentheorie der Herrenklasse; kein Zug ist fortgefallen, keiner hinzugekommen. Selbst jene sehr moderne Behauptung, mit der der Grundadel z. B. Frankreichs und Ostelbiens die Ansprüche der Landbevölkerung auf Grundeigentum zurückzuweisen versuchte, daß ihm das Land von Anfang an gehört habe, während die Ackerknechte es nur von ihm zum Lehen erhalten haben, findet sich auch bei den Wahuma [2] und wahrscheinlich noch vielfach anderwärts.

Und wie ihre Klassentheorie, so war und ist auch ihre Klassenpsychologie überall die gleiche. Der wichtigste Zug ist der »Junkerstolz«, die Verachtung der arbeitenden Unterschicht. Sie sitzt so tief im Blute, daß die Hirten sogar dann, wenn sie nach dem Verlust ihrer Herden in wirtschaftliche Abhängigkeit geraten sind, ihren Herrenstolz bewahren: »Selbst die Galla, die nördlich von Tana durch die Somal ihres Herdenreichtums beraubt und dadurch zu Hirten fremder Herden, am Sabaki selbst zu Ackerbauern wurden, sehen mit Verachtung auf die ihnen unterworfenen suaheliähnlichen, ackerbauenden Wapokomo herab, weniger auf die gallaähnlichen und den Galla tributären Jägervölker der Waboni, Wassania und Walangulo (Ariangulo).« [3] Und die folgende Schilderung der Tibbu paßt wie angegossen auf Walter Habenichts und die übrigen armen Ritter, die in den Kreuzzügen Beute und Herrenland suchten; und nicht minder auf manchen adligen Schnapphahn des deutschen Ostens und manchen verlumpten Schlachzizen oder Hidalgo: »Es sind Menschen voll Selbstgefühl. Sie mögen Bettler sein, aber sie sind keine Paria. Viele Völker wären unter diesen Umständen elender und gedrückter; die Tibbu haben Stahl in ihrer Natur. Sie sind zu Räubern, wie zu Kriegern und Herrschern trefflich geeignet. Imponierend ist bei aller schakalhaften Gemeinheit selbst ihr Raubsystem. Diese verlumpten, [S. 53] mit äußerster Armut und beständigem Hunger kämpfenden Tibbu erheben die unverschämtesten Ansprüche in scheinbarem oder wirklichem Glauben an ihr Recht. Das Schakalsrecht, das die Habe des Fremdlings als gemeines Gut betrachtet, ist Schutz gieriger Menschen vor Entbehrung. Die Unsicherheit eines fast beständigen Kriegszustandes kommt hinzu, um dem Leben etwas Forderndes und sogleich auf Erfüllung Dringendes zu geben!« [4] Und es ist ebensowenig eine auf Ostafrika beschränkte Erscheinung, wenn es vom abessinischen Soldaten heißt: »So ausstaffiert kommt er daher. Stolz blickt er auf jeden nieder: ihm gehört das Land, für ihn muß der Bauer arbeiten«. [5]

So tief der Junker überall das ökonomische Mittel und seinen Träger, den Bauern, verachtet, so naiv bekennt er sich zum politischen Mittel. Ehrlicher Krieg und »ehrlicher« Raub sind seine Herrengewerbe, sind sein gutes Recht. Sein Recht reicht - gegenüber den nicht demselben Friedenskreise Angehörigen - genau so weit, wie seine Macht. Nirgend wohl findet sich eine kennzeichnendere Lobpreisung des politischen Mittels als in dem bekannten dorischen Tischliede:

»Ich habe große Schätze; den Speer, dazu das Schwert;
Dazu den Schirm des Leibes, den Stierschild altbewährt.
Mit ihnen kann ich pflügen, die Ernte fahren ein,
Mit ihnen kann ich keltern den süßen Traubenwein,
Durch sie trag ich den Namen »Herr« bei den Knechten mein.

Die aber nimmer wagen, zu führen Speer und Schwert,
Auch nicht den Schirm des Leibes, den Stierschild altbewährt,
Die liegen mir zu Füßen am Boden hingestreckt,
Von ihnen, wie von Hunden, wird mir die Hand geleckt;
Ich bin ihr Perserkönig - der stolze Name schreckt.« [6]

Spricht sich in diesen übermütigen Strophen der Stolz des kriegerischen Herren aus, so mögen die nachstehenden, nach W. Sombart [S. 54] zitierten Verse aus einem ganz anderen Kulturgebiete zeigen, daß noch immer der Räuber im Krieger steckte, trotz Christentum, Gottesfriede und heiligem römischen Reich deutscher Nation. Auch sie preisen das politische Mittel, aber in seiner krassesten Form, dem simplen Raub:

»Wiltu dich erneren
du junger edelman,
folg du miner lere
sitz uf, drab zum ban!
halt dich zu dem grünen wald;
wan der bur ins holz fert
so renn in freislich an!
derwüsch in bi dem kragen
erfreuw das herze din
nimm im was er habe
span uss die pferdelin sin!« [7]

Sombart fährt fort: »Wenn er es nicht vorzog, auf edleres Wild zu pirschen und den Pfeffersäcken ihre Ladungen abzujagen. Der Raub bildete immer mehr die selbstverständliche Erwerbsart des vornehmen Mannes, dessen Renten allein nicht ausreichten, um den wachsenden Anforderungen an täglichem Aufwand und Luxus zu genügen. Das Freibeutertum galt als durchaus ehrenhafte Beschäftigung, weil es dem Geiste des Rittertums entsprach, daß jedermann das an sich bringe, was der Spitze seines Speeres und der Schärfe seines Schwertes erreichbar war. Bekannt ist, daß der Edle Raubritterei lernte, wie der Schuster die Schusterei. Und im Liede heißt es lustig:

»Ruten, roven, det en is gheyn schande
dat doynt di besten van dem lande.«

Zu diesem Hauptzuge aller Junkerpsychologie tritt als zweites kaum weniger charakteristisches Kennzeichen die überzeugte oder wenigstens nach außen stark betonte Frömmigkeit. Vielleicht ist nichts bezeichnender für die Fähigkeit, mit der sich unter gleichen [S. 55] gesellschaftlichen Bedingungen immer wieder die gleichen Vorstellungen aufzwingen, als die Tatsache, daß Gott noch heute der Herrenklasse als ihr Sonderstammesgott erscheint, und zwar vorwiegend als Kriegsgott. Das Bekenntnis zu Gott als dem Schöpfer aller Menschen, auch der Feinde, und, seit dem Christentum, als dem Gott der Liebe, vermag nichts gegen die Kraft, mit der sich die Klasseninteressen ihre zugehörigen Ideologien formen. Nennen wir noch, um das Bild der Herrenpsychologie zu vervollständigen, die Neigung zum Verschwenden, die sich oft edler als Freigebigkeit darstellen kann: leicht verständlich bei dem, der »nicht weiß, wie die Arbeit schmeckt«, und als schönsten Zug die todverachtende Tapferkeit, erzeugt durch den der Minderheit auferlegten Zwang, in jedem Augenblicke ihre Rechte mit der Waffe zu verteidigen, und begünstigt durch die Befreiung von aller Arbeit, die es gestattet, den Körper in Jagd, Sport und Fehde auszubilden; ihr Zerrbild ist die Rauflust und die bis zur Verrücktheit gehende Überspitzung des persönlichen Ehrgefühls.

Eine kleine Nebenbemerkung: Cäsar fand die Kelten Galliens gerade in einem Stadium der Entwicklung, in dem das Junkertum zur Herrschaft gelangt war. Seitdem gilt seine klassische Schilderung dieser Klassenpsychologie als Rassenpsychologie des Keltentums; selbst ein Mommsen ließ sich fangen, und nun geht der handgreifliche Irrtum unzerstörbar durch alle Bücher über Weltgeschichte und Soziologie, obgleich ein einziger Blick genügt, um zu zeigen, daß alle Völker aller Rassen im gleichen Stadium der Entwicklung ganz den gleichen Charakter hatten (in Europa Thessaler, Apulier, Campaner, Germanen, Polen usw.), während die Kelten und speziell die Franzosen auf anderen Entwicklungsstadien ganz andere Charakterzüge aufwiesen. Stufenpsychologie, nicht Rassenpsychologie!

Auf der anderen Seite entsteht als Gruppentheorie der Unterworfenen überall dort, wo die den »Staat« heiligenden religiösen Vorstellungen schwach sind oder werden, heller oder dunkler die Vorstellung des »Naturrechts«. Die Unterklasse hält den Rassen- und Adelsstolz für eine Anmaßung und sich selbst für mindestens so guter Rasse und guten Blutes; [8] und wieder mit vollem Recht, weil für sie Arbeitsamkeit und Ordnung die einzigen Tugenden darstellen. [S. 56] Sie ist häufig skeptisch gegenüber der Religion, die sie mit ihren Gegnern verbunden sieht, und ist ebenso fest, wie der Adel vom Gegenteil, davon überzeugt, daß die Privilegien der Herrengruppe gegen Recht und Vernunft verstoßen. Auch hier hat alle spätere Entwicklung den ursprünglich gegebenen Bestandteilen keinen wesentlichen Zug beifügen können.

Von diesen Gedanken mehr oder weniger bewußt geleitet, kämpfen beide Gruppen fortan den Gruppenkampf der Interessen, und der junge Staat müßte unter der Wirkung dieser zentrifugalen Kräfte auseinanderbersten, wären nicht in der Regel die zentripetalen Kräfte des Gemeininteresses, des Staatsbewußtseins, stärker. Der Druck der Fremden, der gemeinsamen Feinde, von außen überwindet den Druck der widerstreitenden Sonderinteressen von innen. Man denke an die Sage von der secessio plebis und der erfolgreichen Mission des Menenius Agrippa! Und so würde der junge Staat in alle Ewigkeit, einem Planeten gleich, in der durch das Parallelogramm der Kräfte vorgeschriebenen Bahn kreisen, wenn nicht die Entwicklung ihn selbst und seine Umwelt wandelte, neue äußere und innere Kräfte entfaltete.

d) Der primitive Eroberungsstaat höherer Stufe

Wichtige Wandlungen bringt schon sein Wachstum mit sich; und wachsen muß der junge Staat. Dieselben Kräfte, die ihn ins Leben gestellt haben, drängen ihn, sich auszudehnen, seinen Machtbezirk zu erweitern. Und wäre selbst ein solcher junger Staat »satt«, wie es mancher moderne Großstaat zu sein behauptet: er müßte dennoch sich recken und dehnen, bei Strafe seines Unterganges. Denn in diesen primitiven Gesellschaftszuständen heißt es mit härtestem Nachdruck: »Du mußt steigen oder fallen, siegen oder unterliegen, Hammer oder Amboß sein.«

Die Staaten werden erhalten durch das gleiche Prinzip, durch das sie geschaffen wurden. Der primitive Staat ist Schöpfung des kriegerischen Raubes: er kann nur durch den kriegerischen Raub erhalten werden.

[S. 57] Das ökonomische Bedürfnis der Herrengruppe hat keine Grenzen: der Reiche ist sich niemals reich genug. Das politische Mittel wird gegen andere, noch nicht unterworfene Bauernschaften oder auf neue, noch nicht gebrandschatzte Küstenländer angewendet; der primitive Staat wächst - bis er mit einem anderen, ebenso entstandenen primitiven Staate auf dem Grenzgebiete der beiderseitigen »Interessensphären« zusammenstößt. Jetzt haben wir anstatt des kriegerischen Raubzuges zum ersten Male einen wirklichen Krieg engeren Sinnes, da jetzt gleich organisierte und disziplinierte Massen aufeinandertreffen.

Das Endziel des Kampfes ist noch immer dasselbe: das Ergebnis des ökonomischen Mittels der arbeitenden Massen, Beute, Tribut, Steuer, Grundrente: aber der Kampf geht nicht mehr zwischen einer Gruppe, die ausbeuten will, und einer zweiten, die ausgebeutet werden soll, sondern zwischen zwei Herrengruppen um die ganze Beute.

Das Endergebnis des Zusammenstoßes ist fast immer die Verschmelzung der beiden primitiven Staaten zu einem größeren. Dieser greift natürlich aus den gleichen Ursachen wieder über seine Grenzen, frißt die kleineren Nachbarn und wird vielleicht zuletzt von einem größeren selbst gefressen.

Die Knechtsgruppe ist am Ausgange dieser Herrschaftskämpfe wenig interessiert: ob sie der oder der Herrenklasse steuert, ist ihr ziemlich gleichgültig. Um so stärker ist sie am Verlaufe des Kampfes interessiert: denn der wird auf ihrem Rücken ausgefochten, und ihr »Staatsbewußtsein« leitet sie richtig, wenn sie ihrer angestammten Herrengruppe nach Kräften Kriegshilfe leistet - abgesehen von Fällen allzu krasser Mißhandlung und Ausbeutung [9] -. Denn wenn ihre Herrengruppe nicht Sieger bleibt, dann trifft alle Vernichtung des Krieges am schwersten die Untertanen. Sie kämpfen also buchstäblich für Weib und Kind, für Herd und Haus, wenn sie dafür kämpfen, keinen fremden Herrn einzutauschen.

Dagegen ist die Herrengruppe mit ihrer ganzen Existenz mit dem Ausgange der Herrschaftskämpfe verknüpft. Im schlimmsten Falle droht ihr die völlige Ausrottung (Volksadel der meisten germanischen Stämme im Frankenreich). Fast ebenso schlimm, wenn nicht [S. 58] schlimmer, muß ihr die Aussicht erscheinen, in die Knechtsgruppe hinabgestoßen zu werden. Zuweilen sichert ihr ein rechtzeitiger Friedensschluß wenigstens die soziale Stellung als Herrengruppe niederen Ranges (Sachsenadel im normannischen England, Suppane im deutschen Slawengebiet), und zuweilen, bei ungefährer Gleichheit der Kräfte, verschmelzen die beiden Herrengruppen zu einem gleichberechtigten, im Konnubialverbande stehenden Adel (einzelne Wendendynasten im slawischen Okkupationsgebiete, albanische und tuskische Geschlechter in Rom).

Auf diese Weise kann die herrschende Gruppe des neuen »primitiven Eroberungsstaates höherer Stufe«, wie wir ihn nennen wollen, in eine Reihe mehr oder minder mächtiger und berechtigter Schichten zerfallen, eine Gliederung, die noch an Vielfältigkeit gewinnen kann durch die uns bekannte Tatsache, daß häufig bereits im primitiven Eroberungsstaat die Herrengruppe in zwei ökonomisch und sozial subordinierte Schichten zerfiel, die sich schon im Hirtenstadium ausgebildet hatten: die großen Herden- und Sklavenbesitzer und die kleinen Gemeinfreien. Vielleicht kann man die geringere Standesgliederung der von Jägern geschaffenen Staaten der neuen Welt darauf zurückführen, daß sie diese, nur bei Herdenbesitz mögliche, Urscheidung der Klassen nicht in den Staat mitbrachten. Wir werden noch zu betrachten haben, mit welcher Kraft diese Unterschiede im Rang und Vermögen der beiden Herrenschichten auf die politische und wirtschaftliche Entwicklung des altweltlichen Staates einwirken sollten.

Ein ganz entsprechender Differenzierungsprozeß spaltet nun, wie die Herrengruppen, so auch die beherrschten Gruppen der »primitiven Eroberungsstaaten höherer Stufe« in verschiedene mehr oder minder leistungspflichtige und verachtete Schichten. Es sei hier nur an den sehr starken Unterschied in der sozialen und rechtlichen Stellung der bäuerlichen Bevölkerung in den Dorierstaaten, Lakedämon und Kreta, und bei den Thessalern erinnert, wo die Periöken ein gutes Besitzrecht und leidliche politische Rechte besaßen, während die Heloten, resp. Penesten fast recht- und besitzlos waren. Eine Zwischenklasse zwischen der Gemeinfreiheit und Hörigkeit fand sich auch im alten Sachsenlande: die Liti [10]. Augenscheinlich haben diese und zahlreiche andere geschichtlich überlieferte Fälle gleicher Art [S. 59] ähnliche Ursachen, wie die oben beim Adel dargestellten: wenn zwei primitive Eroberungsstaaten verschmelzen, so lagern sich ihre sozialen Schichten in vielfach verschiedener Weise, etwa vergleichbar den Kombinationen, die zwei Häufchen von Spielkarten ergeben können, wenn man sie zusammenmischt.

Daß diese mechanische Durchmischung durch politische Kräfte auch an der Entstehung der Kasten, d.h. erblicher Berufsstände, die zugleich eine Hierarchie sozialer Klassen bilden, beteiligt ist, ist sicher. »Kasten« sind häufig, wenn nicht immer, die Folgeerscheinung der Eroberung und Unterjochung durch Fremde [11]. Aber, soweit dieses noch nicht völlig aufgehellte Problem sich bisher überschauen läßt, haben ökonomische und religiöse Einflüsse sehr stark mitgewirkt. Man wird sich die Entstehung der Kasten etwa so vorstellen dürfen, daß vorhandene ökonomische Berufsgliederungen von den staatsbildenden Kräften durchdrungen und angepaßt wurden und dann unter der Wirkung religiöser Vorstellungen erstarrten, die übrigens auch an ihrer Entstehung ihren Anteil gehabt haben mögen. Darauf deutet wenigstens die Tatsache, daß schon zwischen Mann und Weib sozusagen tabuierte unüberschreitbare Berufssonderungen vorkommen: während z.B. bei allen Jägern der Ackerbau der Frau zufällt, übernimmt ihn bei vielen afrikanischen Hirten der Mann von dem Augenblick an, wo der Ochsenpflug zur Anwendung kommt: das Weib darf, ohne zu freveln, das Herdentier nicht gebrauchen [12]. Derartige religiöse Vorstellungen werden überall da, wo stamm- oder dorfweise ein bestimmtes Gewerbe betrieben wurde - und das ist bei den Naturvölkern überall häufig, wo ein Handel leicht möglich ist, namentlich bei Inselvölkern - darauf hingewirkt haben, den Beruf erblich, und zwar zwangserblich zu machen. Wurde dann ein Stamm, der solche erbliche Berufsgruppen enthielt, von anderen Stämmen unterworfen, so bildeten sie in dem neuen Staatswesen eine echte »Kaste«, deren soziale Stellung teils von der Achtung abhing, die sie schon vorher unter den Ihren genossen hatten, teils von der Schätzung, die ihr Beruf bei den neuen Herrn fand. Schob sich etwa noch, wie so häufig der Fall, Erobererwelle über Welle, so konnte die Bildung [S. 60] der Kasten sich vervielfältigen, namentlich wenn inzwischen die ökonomische Entwicklung zahlreiche Berufsstände entwickelt hatte.

Am besten wird sich diese Entwicklung voraussichtlich an der Gruppe der Schmiede verfolgen lassen, die fast überall eine eigene, halb gefürchtete, halb verachtete Stellung einnehmen. Schmiedekundige Völker finden sich namentlich in Afrika seit Urzeiten im Gefolge und in Abhängigkeit vor allem von den Hirten. Schon die Hyksos brachten solche Stämme mit ins Nilland und dankten vielleicht den von ihnen gefertigten Waffen ihren entscheidenden Sieg; und bis vor kurzem hielten die Dinka die eisenkundigen Djur in einer Art von Untertänigkeitsverhältnis. Dasselbe gilt u. a. von den Sahara-Nomaden, und auch aus unseren nordischen Sagen klingt noch der alte Stammesgegensatz zu den »Zwergen« und die Furcht vor ihrer Zauberkraft. Hier waren die Elemente zu einer schroffen Kastenbildung im entfalteten Staat sämtlich gegeben [13].

Die Mitwirkung religiöser Vorstellungen bei der Entstehung dieser Bildungen läßt sich an einem Beispiel aus Polynesien gut aufzeigen: Hier »steht der Schiffbau, obgleich viele Eingeborene dazu fähig sind, nur einer privilegierten Klasse zu: so eng war das Interesse der Staaten und Gesellschaften mit dieser Kunst verbunden! Nicht nur früher in Polynesien, auf Fidschi bilden noch heute die fast nur Schiffbau treibenden Zimmerleute eine besondere Kaste, führen den hochklingenden Titel 'des Königs Handwerker', und haben das Vorrecht eigener Häuptlinge (...) Alles geschieht nach altem Herkommen; das Legen des Kieles, die Fertigstellung des Ganzen, der Stapellauf findet unter religiösen Zeremonien und Festen statt« [14].

Wo die Superstition stark entwickelt ist, kann sich auf solchen, teils wirtschaftlichen, teils ethnischen Grundlagen leicht ein echtes Kastensystem ausbilden; so ist z.B. in Polynesien schon die Klassengliederung durch die Anwendung des Tabu einem »schroffest durchgeführten Kastensystem« sehr ähnlich geworden [15]. Ähnlich in Südarabien [16]. Welche Bedeutung die Religion für Entstehung und Erhaltung der Kastensonderung in Ägypten hatte und in Indien noch [S. 61] heute hat, ist zu bekannt, als daß es näherer Ausführungen bedürfte [17].

Das sind die Elemente des primitiven Eroberungsstaates höherer Stufe. Sie sind vielfältiger und zahlreicher als im niederen primitiven Staate, aber Recht, Verfassung und volkswirtschaftliche Verteilung sind grundsätzlich die gleichen wie dort. Das Ergebnis des ökonomischen Mittels ist noch immer das Ziel des Gruppenkampfes, der nach wie vor das Movens der inneren Politik des Staates ist, und das politische Mittel ist ebenfalls nach wie vor das Movens der äußeren Staatspolitik in Angriff und Abwehr. Und immer noch rechtfertigen sich oben und unten Ziele und Mittel der äußeren und inneren Kämpfe durch die gleichen Gruppentheorien.

Aber die Entwicklung kann nicht stillstehen. Wachstum ist mehr als nur Massen-Vergrößerung: Wachstum bedeutet auch immer steigende Differenzierung und Integrierung.

Je weiter der primitive Eroberungsstaat seinen Machtbezirk erstreckt, je zahlreicher die von ihm beherrschten Untertanen werden, und je dichter sie siedeln, um so mehr entfaltet sich die volkswirtschaftliche Arbeitsteilung und ruft immer neue Bedürfnisse und ihre Befriedigungsmittel hervor; und um so mehr verschärfen sich die Unterschiede der ökonomischen (und damit der sozialen) Klassenlage nach dem »Gesetz der Agglomeration um vorhandene Vermögenskerne«, wie ich es genannt habe. Diese wachsende Differenzierung wird entscheidend für die Weiterentwicklung und namentlich den Ausgang des primitiven Staates.

Nicht von einem Ausgang im mechanischen Sinne soll hier die Rede sein, also weder vom Staatentod, der einen primitiven Eroberungsstaat höherer Stufe im Zusammenstoß mit einem stärkeren Staat gleicher oder höherer Entwicklungsstufe verschwinden läßt, wie z.B. die Mogulenstaaten Indiens, oder Uganda im Kampf mit Großbritannien; auch nicht von der Versumpfung, in die beispielsweise Persien und die Türkei verfallen sind [18], und die ja augenscheinlich nur eine Pause der Entwicklung darstellt, da diese Länder entweder aus [S. 62] eigenen Kräften oder durch erobernde Gewalt bald wieder weitergestoßen werden müssen; auch nicht von der Erstarrung z.B. des riesigen chinesischen Reiches, die gleichfalls nur so lange dauern konnte, als nicht mächtigere Fremdvölker mit dem Schwerte an die geheimnisvollen Pforten klopften [19].

Sondern hier soll von den Ausgängen im Sinne einer Weiterentwicklung des primitiven Eroberungsstaates die Rede sein, die für die Gesamtauffassung der Weltgeschichte als eines Prozesses von Bedeutung sind. Solcher Ausgänge gibt es, wenn wir nur die Hauptlinien der Entwicklung ins Auge fassen, zwei grundsätzlich verschiedene, und zwar ist diese polare Gegensätzlichkeit bedingt durch die polare Gegensätzlichkeit der ökonomischen Machtmittel, an denen sich das »Gesetz der Agglomeration um vorhandene Vermögenskerne« bestätigt. Hier ist es der mobile, dort der immobile Reichtum, hier das Handelskapital, dort das Grundeigentum, das sich in immer wenigeren Händen anhäuft und dadurch die Klassengliederung und mit ihr das ganze Staatswesen grundstürzend umwälzt. Der Träger der ersten Entwicklung ist der Seestaat, der der zweiten der Landstaat. Der Ausgang der ersten ist die kapitalistische Sklavenwirtschaft, der Ausgang der zweiten zunächst der entfaltete Feudalstaat.

Die kapitalistische Sklavenwirtschaft, der typische Ausgang der sog. »antiken«, der mittelländischen Staaten, endet - nicht in Staatentod, was nichts bedeutet -, sondern in Völkertod durch Völkerschwand. Der Seestaat bildet daher am entwicklungsgeschichtlichen Stammbaum des Staates einen Nebenast, von dem keine weitere unmittelbare Fortbildung ausgehen kann.

Dagegen stellt der entfaltete Feudalstaat den Hauptast, die Fortsetzung des Stammes, und daher den Ursprung der weiteren Entwicklung des Staates dar, die von da zum Ständestaat, zum Absolutismus und zum modernen Verfassungsstaat schon geführt hat und, wenn wir recht sehen, zur »Freibürgerschaft« weiterführen wird.

[S. 63] Solange der Stamm nur in einer Richtung wuchs, d.h. bis einschließlich des primitiven Eroberungsstaates höherer Stufe, konnte auch unsere genetische Darstellung einheitlich vorgehen. Von jetzt an, wo der Stamm sich gabelt, muß auch unsere Darstellung sich gabeln, um jedem der Äste bis in seine letzte Verzweigung zu folgen.

Wir beginnen mit der Entwicklungsgeschichte der Seestaaten. Nicht weil sie die ältere Form wären! Im Gegenteil: soweit wir durch den Nebel der Geschichtsanfänge hindurchschauen können, haben sich die ersten starken Staatsbildungen in Landstaaten vollzogen, die aus eigenen Kräften die Stufe des entfalteten Feudalstaates erstiegen haben. Aber darüber hinaus sind wenigstens die uns Europäer am meisten interessierenden Staaten nicht gelangt, sondern sind stehen geblieben oder den Seestaaten erlegen und, mit dem tödlichen Gift der kapitalistischen Sklavenwirtschaft infiziert, gleich ihnen zugrunde gegangen. Die weitere Emporentwicklung des entfalteten Feudalstaates zu höheren Stufen konnte erst erfolgen, nachdem die Seestaaten ihren Lebensgang vollendet hatten: mächtige Herrschaftsformen und Gedanken, die hier erwachsen waren, haben die Ausgestaltung der auf ihren Trümmern entstandenen Landstaaten gewaltig beeinflußt und gefördert.

Darum gebührt der Darstellung des Schicksals der Seestaaten als der Vorbedingung der höheren Staatsformen der Vorrang. Wir werden erst dem Nebenaste nachgehen, um dann zu seinem Ausgangspunkte, dem primitiven Eroberungsstaate, zurückzukehren und den Hauptstamm bis zur Entwicklung des modernen Verfassungsstaates, und, vorschauend, zur Freibürgerschaft der Zukunft zu verfolgen.

Fußnoten
[1]
»Bei den Wahuma haben die Frauen eine höhere Stellung als bei den Negern und werden ängstlich von ihren Männern gehütet. Das trägt zur Erschwerung der Mischungen bei. Die Masse der Waganda wäre nicht noch heute ein echter Negerstamm von »dunkelschokoladefarbiger Haut und kurzem Wollhaar«, wenn [sich] nicht die beiden Völker als Ackerbauern und Hirten, als Beherrschte und Herrscher, als Verachtete und Geehrte trotz der Beziehungen, die in ihren höheren Klassen geknüpft werden, schroff gegenüberständen. In dieser Sonderstellung sind sie eine typische Erscheinung, die man immer leicht wiedererkennt.« (Ratzel, l. c. II, p. 177.)
[2]
Ratzel, l. c. II, p. 178.
[3]
Ratzel, l. c. II, p. 198.
[4]
Ratzel, l. c., p. 476.
[5]
Ratzel, l. c., p. 453.
[6]
Kopp, Griechische Staatsaltertümer, 2. Aufl. Berlin 1893. p. 23.
[7]
Uhland, Alte hoch- und niederdeutsche Volkslieder, I (1844), p. 339, zit. nach Sombart: Der moderne Kapitalismus, Leipzig 1902, I, p. 384/5.
[8]
»Als Adam grub, und Eva spann, Wo war da der Edelmann«, sangen die englischen Lollharden.
[9]
So z.B. strömten in den Griechenstaaten und im Römerreich überall die Sklaven den eindringenden Germanen und Arabern massenhaft zu, und die scheinfreien Kolonen hielten sich höchstens neutral.
[10]
Inama-Sternegg, Deutsche Wirtsch.-Gesch. I, Leipzig 1879, p. 59.
[11]
Westermarck, History of human marriage, London 1891, p. 368.
[12]
Entsprechend gibt es auch (nordasiatische) Jägerstämme, wo es den Weibern streng verboten ist, das Jagdgerät zu berühren oder eine Spur zu kreuzen (Ratzel I, p. 650).
[13]
Vgl. Ratzel, l. c. I, p. 81.
[14]
Ratzel, l. c. I, p. 156.
[15]
Ratzel, l. c. I, p. 259/60.
[16]
Ratzel, l. c. II, p. 434.
[17]
Im übrigen scheint es nach Ratzel, II, p. 596, mit der Starrheit des indischen Kastenwesens nicht gar so arg zu sein. Die Zunft scheint ebenso oft die Grenzen der Kaste zu überschreiten wie umgekehrt.
[18]
Ich lasse diese 1907 geschriebenen Worte stehen, die sich wenigstens inbezug auf die Türkei bereits als erfüllte Prophezeiung erwiesen haben. (Dez. 1928.)
[19]
China wäre übrigens einer genaueren Besprechung wohl wert, da es sich in mancher Beziehung der »Freibürgerschaft« schon viel mehr genähert hat als die westeuropäischen Völker. Es hat den Feudalismus viel mehr überwunden als wir, hat das Großgrundeigentum früh genug eingeengt, so daß sein Bastard, der Kapitalismus, kaum zur Entstehung kam, und hat das Problem der genossenschaftlichen Produktion und Verteilung sehr weit geführt. Hier fehlt mir leider der Raum zur näheren Ausführung dieser uns fremdartigen Entwicklung eines Eroberungsstaates.

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